Keine Rücksicht auf die Hungernden
Roman Herre über das Recht auf Nahrung *
Die aktuelle Hungersnot in Ostafrika ist nur der sichtbarste Ausdruck der globalen Hungerproblematik. Starke Schwankungen der Lebensmittelpreise verschärfen laut den Vereinten Nationen den Hunger in Entwicklungsländern, vor allem in Afrika. 2010 waren weltweit 925 Millionen Menschen unterernährt, 75 Millionen mehr als 2008. Am 16. Oktober wird seit 1979 der Welternährungstag begangen.
Roman Herre ist Diplom-Geograph und seit 2007 Mitarbeiter der internationalen Menschenrechtsorganisation FIAN (FoodFirst Informations- und Aktions- Netzwerk). Seine Arbeitsschwerpunkte dort sind Landkonflikte, Agrartreibstoffe und Ländliche Entwicklung. Mit ihm sprach für das "neue deutschland" (ND) Martin Ling.
ND: Das Menschenrecht auf Nahrung ist seit 1976 bei der UNO durch den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte offiziell verankert. Trotzdem hungern aktuell rund eine Milliarde Menschen. Nimmt die UNO und ihre Mitgliedstaaten den Kampf gegen den Hunger nicht ernst?
Herre: Innerhalb der UNO mit ihrem Menschenrechtssystem wird die Frage sehr ernst genommen. Aber es gibt andere globale Akteure, beispielsweise die Weltbank, den Internationalen Weltwährungsfonds, die Welthandelsorganisation sowie die Staatenclubs G 8 und G 20, die sehr viel mächtiger sind und die Empfehlungen des UN-Menschrechtssystems kaum oder gar nicht umsetzen. Global überlagern sich verschiedene Rechtssysteme: auf der einen Seite das Menschenrechtssystem und auf der anderen Seite Investitions- und Handelsrecht. Letztere haben Sanktionierungsmechanismen, die sehr viel Druck ausüben können. Sie sind de facto sehr viel mächtiger als das UN-Menschenrechtssystem. Deswegen arbeiten wir daran, dass das Menschenrechtssystem fit gemacht wird für die Globalisierung. Beispielsweise müssen Personen bei Menschenrechtsverletzungen konkrete Beschwerdemöglichkeiten eingeräumt werden.
Die meisten der Hungernden leben auf dem Land. Nichtsdestotrotz wurde die ländliche Entwicklung in den letzten 20 Jahren sowohl seitens der Regierungen im Süden selbst als auch in der Entwicklungszusammenarbeit seitens des Nordens stark vernachlässigt. Hat sich das seit den Hungerrevolten 2008 geändert?
Es gibt einen Ansatz zu einer Trendwende. Aber der ist noch minimal. Die aktuellen Zahlen sprechen bei der Entwicklungszusammenarbeit von einem leichten Wachstum von 3,8 Prozent 2007 auf ungefähr 5 Prozent 2010. Doch 1980 flossen noch über 20 Prozent in die ländliche Entwicklung. Und darüber hinaus muss man darauf achten, wie dieses zusätzliche Geld investiert wird. Die Weltbank beispielsweise hatte vor anderthalb Jahren gesagt, dass sie vier Milliarden US-Dollar ins Agrobusiness pumpen will. Davon haben die Kleinbauern nichts. Bei der deutschen Entwicklungszusammenarbeit wird stark auf die Kooperation mit der Privatwirtschaft gesetzt - auch im Landwirtschaftsbereich. Da sind wir skeptisch, ob damit ein Beitrag zur Hungerbekämpfung geleistet wird. Ein Rechte basierter Ansatz wird in der Entwicklungszusammenarbeit kaum verfolgt. Auch im Süden sieht es nicht rosig aus. Zwar haben sich die afrikanischen Länder selbst verpflichtet, zehn Prozent des Haushalts in die ländliche Entwicklung zu stecken. Doch das haben bisher nur acht bis neun Staaten umgesetzt.
Die Ernährungssicherheit wird in jüngster Zeit durch das Phänomen des Land Grabbings, des Aufkaufs von Agrarland im Süden durch Investoren aus Industrie- und Schwellenländern, weiter untergraben. Steuert die Politik dagegen?
Kaum. Ein Großteil der Akteure in diesem Kontext kommt aus den G 20, den traditionellen Industrieländern und den aufstrebenden Schwellenländern wie Brasilien, Indien, China und Südafrika. Außer Lippenbekenntnissen seitens der G 20 ist noch nichts passiert. Dort herrscht die Auffassung vor, dass mit diesen Investitionen in den ländlichen Raum positive Entwicklungen für alle bewirkt werden. Die negativen Folgen, die Land Grabbing für die lokale Bevölkerung hat, werden ausgeblendet: Der Zugang der Kleinbauern zu Land und Wasser für die Nahrungsmittelproduktion wird massiv eingeschränkt. Bestürzend ist auch die Haltung der Bundesregierung: Für sie reduziert sich das Thema Land Grabbing auf die Eigentumsrechte, alle anderen Fragen wie die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte und die nach der Verantwortung der Investoren aus Deutschland bleiben ebenso ausgespart wie die Folgen der Agrotreibstoffproduktion.
Ein altes Problem, das die Ernährungssicherheit unterminiert, sind die Agrarüberschüsse im Norden - Geflügelfleischreste, Milchpulver, Tomatenmark etc. -, die zu Dumpingpreisen im Süden auf den Markt geworfen werden. Ein Auslaufen wenigstens der direkten Exportsubventionen ist für 2013 in der WTO verabredet worden. Wird der Agrarhandel auf eine fairere Grundlage gestellt?
Leider nein, auch wenn das Ende der direkten Exportsubventionierung zu begrüßen ist. Man muss sich nur die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU ansehen, die gerade ansteht. Die ist darauf ausgerichtet, für die EU größere Anteile auf dem Agrarweltmarkt zu sichern - ohne Rücksicht auf die Belange der Hungernden. Einerseits wird in der Entwicklungszusammenarbeit auf Weiterverarbeitung von Agrarprodukten in den Ländern selbst gesetzt, andererseits will die EU beispielsweise den Export von Tomatenmark fördern und zerstört damit diese lokalen Märkte. Es gibt keine Kohärenz zwischen EU-Handelspolitik und der Entwicklungspolitik. Wir fordern, dass die EU in die Präambel der GAP das Recht auf Nahrung mit einschreibt und sich endlich ihrer internationalen Verantwortung stellt.
Zahlen und Fakten: Welternährung und Welthunger
Der Welternährungstag findet jedes Jahr am 16. Oktober statt. Damit soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass weltweit nach wie vor viele Millionen Menschen an Hunger leiden. Derzeit sind es laut den jüngsten Schätzungen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO 925 Millionen Menschen. 2009 hatte im Zuge der Weltwirtschaftskrise und Nahrungsmittelpreisspekulationen die Zahl der Hungernden erstmals die Grenze von einer Milliarde Menschen überschritten. Die FAO bezifferte sie auf 1,023 Milliarden.
Der 16. Oktober wurde ausgewählt, weil am 16. Oktober 1945 die FAO als Sonderorganisation der UNO gegründet wurde. Ihre Aufgabe: die weltweite Ernährung sicherzustellen.
Der Welternährungstag findet seit 1979 jährlich statt. Neben offiziellen Kongressen, die sich mit den Themen Welthunger und Welternährung auseinandersetzen, nutzen oft auch Nichtregierungsorganisationen den Welternährungstag, um auf das weltweite Hungerproblem aufmerksam zu machen.
Vergangenen Montag (10. Okt.) legten die UN-Organisationen FAO, Ifad und WFP den Welthungerbericht 2011 vor. Darin forderten sie unter anderem eine Eindämmung der Verschwendung von Nahrungsmitteln in entwickelten Ländern durch Erziehung und Politik. In den ärmeren Ländern müssten auf der anderen Seite die Bedingungen für die Landwirtschaft verbessert werden.
Kritisch äußerten sie sich zum Thema Biokraftstoffe. »Die Nachfrage von Verbrauchern in rasch wachsenden Volkswirtschaften wird zunehmen, die Weltbevölkerung wächst weiter und ein Ausbau bei den Biokraftstoffen wird zusätzlichen Nachfragedruck auf das Nahrungsmittelsystem ausüben«, heißt es in dem Bericht.
Auch immer häufigere Wetterkatastrophen könnten in diesem Jahrzehnt die Schwankungen bei den Preisen für Nahrungsmittel noch verstärken. Als verantwortlich gilt aber nicht nur das Klima: Spekulationen mit Nahrungsmitteln stehen ebenfalls in der Kritik, die Preise in die Höhe zu treiben. ND
* Aus: neues deutschland, 14. Oktober 2011
Von "gravierend" bis "wenig"
Der WHI-Index misst den Schweregrad des Hungers in 122 Staaten
Von Fabian Lambeck **
Um wirksam gegen Hunger vorgehen zu können, muss man wissen, wo er besonders akut ist. Der Welthungerindex (WHI) gibt hier Anhaltspunkte.
Am Dienstag (11. Okt.) wurde der aktuelle
Welthunger-Index (WHI) vorgestellt. Demnach ist die Ernährungslage in 26 Ländern »ernst« oder »gravierend«. Berechnet wird der Index vom Internationalen Forschungsinstitut für Entwicklungs- und Ernährungspolitik (IFPRI), das dafür Daten aus 122 Staaten auswertet. Allerdings setzt diese Datenerhebung halbwegs funktionierende Strukturen in den Staaten voraus. So gibt es keine entsprechenden Kennziffern für Staaten wie Afghanistan oder Somalia. Hinzu kommt, dass das Datenmaterial, auf dem der Index beruht, schon bis zu sieben Jahre alt ist. Eine Schwachstelle, die nun auch die G 20-Staaten erkannt haben. In ihrer Deklaration über »Preisvolatilität und Landwirtschaft« haben die reichen Staaten im Juni 2011 »erkannt«, dass sie besseres Datenmaterial benötigen, um Hunger wirksam bekämpfen zu können. Doch bis es soweit ist, können aktuelle Hungerkatastrophen wie am Horn von Afrika oder in den flutgeplagten Regionen Pakistans nicht berücksichtigt werden.
Zudem stellt sich die Frage, wie man Hunger beziehungsweise die Anzahl der Hungernden eigentlich misst. Und vor allem: Was ist Hunger? Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) spricht von Hunger, wenn einem Menschen weniger als 1800 Kilokalorien pro Tag zur Verfügung stehen. Diese Kaloriengrenze gilt als Minimum für ein gesundes Leben. Neben Hunger ist Unterernährung ein Problem ähnlicher Dimension: Wenn die Nahrung zwar den Magen füllt, allerdings zu wenig Mineralstoffe, Vitamine oder Proteine enthält, können die Folgen ebenfalls verheerend sein. Deshalb setzt sich der WHI aus gleich drei Indikatoren zusammen. Durch die Kombination der Indikatoren lassen sich zufallsbedingte Messfehler verringern.
Indikator Nummer eins misst den prozentualen Anteil der Unterernährten an der Bevölkerung. Erfasst also jene Menschen, die ihren Kalorienbedarf nicht decken können. Der zweite Indikator ist die kindliche Unterernährung. Hier wird der Anteil von Kindern unter fünf Jahren berücksichtigt, die untergewichtig sind. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gilt ein Viertel aller Kinder in Entwicklungsländern als unterernährt. Zwar führt diese Unterversorgung nicht immer zum Tod, jedoch bleiben die betroffenen Kinder in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung zurück. Untersuchungen haben gezeigt, dass viele von ihnen bleibende Hirnschäden davontragen. So macht Unterernährung dumm.
Dritter Indikator des WHI ist die Kindersterblichkeit. Hier wird die Sterblichkeitsrate von Kindern unter fünf Jahren erfasst. Dieser Indikator, so heißt es im Begleitheft zum Index, zeige das »fatale Zusammenwirken von mangelnder Nährstoffversorgung und ungesundem Umfeld«.
Das notwendige Datenmaterial für die drei Indikatoren stammt vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF), der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO und der WHO.
Der Index selbst changiert zwischen 0 (kein Hunger) bis zum schlechtesten Wert 100. Allerdings wird keiner dieser Extremwerte tatsächlich erreicht. Bei einem WHI-Wert von über 30 gilt die Hungersituation als »gravierend«. Diese höchste Alarmstufe gilt in vier afrikanischen Ländern: Tschad, Eritrea, Burundi und Kongo. Die nächste Stufe »sehr ernst« wird für 22 Staaten verzeichnet - dazu zählt auch der Atomstaat Indien. Als »ernst« wird die Lage in immerhin noch 33 Ländern bezeichnet und in Staaten wie China oder Marokko ist der Schweregrad von Hunger nur noch »mäßig«. Erfreulich: Viele ehemalige Hungerländer wie Iran oder Brasilien konnten ihren WHI-Wert unter 5,0 (»wenig«) drücken.
** Aus: neues deutschland, 14. Oktober 2011
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