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"Hungerjahrhundert"

Über eine Milliarde Menschen leiden weltweit an Unterernährung. Globale Wirtschaftskrise droht, die Lage weiter zu verschärfen

Von Ralf Wurzbacher *

Die Zahl der hungernden Menschen in der Welt wird in diesem Jahr erstmals die Milliardengrenze überschreiten. Nach aktuellen Daten der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) hat jeder sechste Erdenbewohner nicht ausreichend zu essen, um den täglichen Kalorienbedarf zu decken. Trotz punktueller Erfolge im Kampf gegen Mangelernährung im Verlauf der zurückliegenden 20 Jahre ist das Ausmaß der Armut in absoluten Zahlen weiter gewachsen. Darauf hat am Mittwoch die deutsche Welthungerhilfe anläßlich der Vorstellung des Welthunger-Index 2009 (WHI) hingewiesen. Am schlimmsten sind demnach Frauen und Kinder betroffen; rund 70 Prozent der weltweit 1,4 Milliarden Armen seien weiblichen Geschlechts. Mit einer Besserung ist in naher Zukunft nicht zu rechnen – im Gegenteil: Die Weltwirtschaftskrise dürfte die Lage voraussichtlich weiter verschärfen.

Der seit 1990 zum inzwischen vierten Mal erfaßte Welthunger-Index basiert auf der Erhebung dreier Parameter: dem Anteil der Unterernährten in der Bevölkerung, dem Anteil untergewichtiger Kinder unter fünf Jahren und der Zahl jener Kinder, die vor Erreichen des fünften Lebensjahrs sterben. Die Erhebung wurde am Mittwoch von der Welthungerhilfe und dem International Food Policy Research Institute (IFPRI) in Wa­shington herausgegeben und zeitgleich in den USA und Kenia veröffentlicht. Zu den 84 auf der Rangliste geführten Entwicklungs- und Schwellenländern zählen 29 Staaten, deren Hungerstatus als »alarmierend bzw. extrem alarmierend bezeichnet werden muß«, heißt es in der Studie. Ganz unten rangieren demnach die Demokratische Republik Kongo, gefolgt von Burundi, Eritrea, Sierra Leone und dem Tschad. Fast sämtliche Staaten, deren WHI-Bewertung sich nach 1990 verschlechtert hat, lägen in Afrika südlich der Sahara. Dabei stehe der Anstieg der Armut in den meisten Fällen im Zusammenhang mit Kriegen und gewaltsamen Konflikten.

Zum Teil »bemerkenswerte Fortschritte« ermittelten die Autoren der Studie für Regionen Südasiens, im Nahen Osten, Nordafrika und Lateinamerika. Die prozentual größten Sprünge gelangen den Fidschi-Inseln, Malaysia, der Türkei, Kuwait und Tunesien. Eine Entspannung der Situation sei in Angola, Ghana, Nicaragua, Vietnam und Äthiopien zu verzeichnen, wobei letzteres nach wie vor zu den sechs ärmsten Ländern zu rechen ist. Auch für den südasiatischen Raum bewege sich der WHI –trotz »erheblicher« Verbesserungen – nach wie vor auf »erschreckend hohem Niveau«.

Entsprechend dramatisch sind die absoluten Zahlen: In Asien hungern laut WHI 642 Millionen Menschen, 265 Millionen sind es im südlichen Afrika und 53 Millionen in Südamerika.

Allein in Indien leben demnach 230 Millionen Menschen in Hunger, ihnen stehe pro Tag umgerechnet weniger als ein Dollar zur Verfügung. Im Kongo leiden sogar 76 Prozent an Unterernährung. Insgesamt, so die Bilanz, habe die Bekämpfung des Hungers im globalen Maßstab seit 1990 »nur langsame Fortschritte gemacht«, Südafrika werden lediglich »minimale Erfolge« bescheinigt, dort und in Südasien sei der Hunger »weiterhin groß«.

Angesichts der anhaltenden Weltwirtschaftskrise warnte die Präsidentin der Welthungerhilfe, Bärbel Diekmann, vor Pressevertretern in Berlin: »Das 21. Jahrhundert droht zum Hungerjahrhundert zu werden.« Tatsächlich bildet der WHI nur die Situation des Jahres 2007 ab, aktuellere Daten sind noch nicht verfügbar. Insofern könne der Bericht »nur zum Teil den Einfluß der gegenwärtigen Finanzkrise oder die Folgen der Nahrungsmittel- und Energiepreissteigerungen auf die Ernährungssicherheit bewerten«, schreiben die Autoren. Allerdings gehen sie davon aus, daß die Auswirkungen des globalen Abschwungs »vor allem bei denjenigen spürbar werden, die ohnehin schon arm sind und an Hunger leiden«. Wegen des mit der Rezession verbundenen Investitionsrückgangs in der Landwirtschaft rechnet das IFPRI bis 2020 mit zusätzlich 16 Millionen von Unterernährung betroffenen Kindern.

Diekmann appellierte an die internationale Gemeinschaft, »ihre Versprechungen und die Hungerredzuzierung ins Zentrum der Krisenbekämpfung zu stellen«. Von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wünschte sich die Verbandschefin größere Anstrengungen bei den Themen Armutsbekämpfung und ländliche Entwicklung im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Die BRD habe trotz wachsender Probleme im Inland eine globale Verantwortung. »Entwicklungshilfe darf nicht die Fortsetzung staatlicher Interessenpolitik mit anderen Mitteln sein.«

In dieselbe Richtung zielt auch die bereits am Montag geübte Kritik der evangelischen Hilfsaktion »Brot für die Welt« und der deutschen Sektion der Menschenrechtsorganisation für das Recht auf Nahrung FIAN. Aus Anlaß des Welternährungstages am Freitag haben deren Vertreter der internationalen Gemeinschaft »Versagen« vorgeworfen. Als Ursache der Misere nannten sie eine ungerechte Handelspolitik der Industriestaaten und Untätigkeit gegen den »skandalösen Ausverkauf von Land in Afrika«. Demnach wirkten die Programme der Weltbank und der Welternährungsorganisation »als Konjunkturpakete für die Saatgut- und Düngerindustrie, helfen aber nicht den Hungernden«, erklärte die FIAN-Geschäftsführerin, Ute Hausmann. Zudem forciere die Weltbank die Privatisierung von Land im Interesse von Investoren. Mit Blick auf den Welternährungsgipfel Mitte November in Rom mahnen die Organisationen eine grundlegende Reform der internationalen Ernährungspolitik an. Dabei müsse die UN die »Koordination, Strategiebildung und Überwachung« übernehmen.

* Aus: junge Welt, 15. Oktober 2009

Welthunger-Index 2009: Frauen stärken, Hunger bekämpfen

Berlin, 14.10.2009. Frauen leiden am meisten unter Hunger und Armut, gleichzeitig spielen sie eine Schlüsselrolle in der Entwicklung. Darauf hat Bärbel Dieckmann, Präsidentin der Welthungerhilfe, bei der Vorstellung des Welthunger-Index 2009 hingewiesen. Der Welthunger-Index misst in diesem Jahr zum ersten Mal den Zusammenhang zwischen Chancengleichheit für Frauen und Hunger. Wichtigstes Ergebnis: Dort wo Frauen schlechter gestellt sind, ist der Hunger größer. „Stärkung von Frauen ist ein Schlüssel im Kampf gegen Hunger und Armut, der noch zuwenig beachtet wird“, sagt Dieckmann.

Rund eine Milliarde Menschen weltweit hungern, Frauen und Kinder sind am schlimmsten betroffen. Rund 70 Prozent der 1,4 Milliarden Armen weltweit sind Frauen und müssen mit weniger als einem Euro pro Tag auskommen. Der Welthunger-Index zeigt: Wo Frauen im Haushalt und auf Gemeindeebene Einfluss haben und anerkannt sind, sind sie selbst besser ernährt und ihre Kinder besser versorgt.

Als Präsidentin einer der größten Hilfsorganisationen in Deutschland appellierte Dieckmann an Bundeskanzlerin Merkel, die Themen Armutsbekämpfung und ländliche Entwicklung in den Mittelpunkt der Entwicklungszusammenarbeit zu stellen. „Entwicklungspolitik darf nicht die Fortsetzung staatlicher Interessenspolitik mit anderen Mitteln sein“, sagt Dieckmann. „Deutschland hat trotz wachsender Probleme hierzulande eine globale Verantwortung.“

Der Welthunger-Index wird zum vierten Mal zusammen mit dem International Food Policy Research Institute (IFPRI) in Washington herausgegeben und heute zeitgleich in den USA und Kenia veröffentlicht. Die wichtigsten Ergebnisse zur Hungersituation: In 29 Ländern ist die Hungersituation ernst oder sogar gravierend. Dabei konnten allerdings seit 1990 in Südasien erhebliche Fortschritte im Kampf gegen den Hunger erreicht werden, in Afrika zumindest kleine. Die Länder mit den schlechtesten Werten liegen überwiegend in Afrika: Die Demokratische Republik Kongo führt das untere Ende der Rangliste an, gefolgt von Burundi, Eritrea, Sierra Leone, Tschad und Äthiopien.

Aktuelle Daten der FAO prognostizieren, dass die Zahl der Hungernden in diesem Jahr erstmals die Milliardengrenze überschreiten wird, jeder sechste hat nicht ausreichend zu essen. „Länder mit niedrigen Einkommen sind besonders von der Nahrungsmittelund Finanzkrise betroffen”, erklärt Dr. Ousmane Badiane, Leiter der Afrika- Abteilung von IFPRI. „Wir appellieren daher an die internationale Gemeinschaft, ihre Versprechungen von den zahlreichen Gipfeltreffen wahrzumachen und die Hungerreduzierung ins Zentrum der Krisenbekämpfung zu stellen.“

Quelle: Website der Welthungerhilfe, 14. Oktober 2009; www.welthungerhilfe.de

Hier geht es zur Weltkarte: Welthunger-Index 2009 nach Schweregrad.




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