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Eine Milliarde Menschen hungert

UNO-Sonderbeauftragter: Alle sechs Sekunden stirbt ein Kind an Unterernährung

Die Zahl von einer Milliarde Hungernder in der Welt, die bis zum Ende dieses Jahres vorausgesagt wurde, ist offenbar bereits erreicht. In der UNO wurde sie jetzt offiziell verkündet.

New York (ND). Über eine Milliarde Menschen leidet unter chronischem Hunger, und die Zahl der Hungernden wächst unablässig weiter. Das erklärte der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung, Olivier De Schutter, am Montag (Ortszeit) bei einer Debatte der UNO-Vollversammlung.

Alle sechs Sekunden sterbe ein Kind an Unterernährung, so De Schutter in New York. »Das ist nicht akzeptabel, zumal wir als globale Gemeinde genau wissen, welche Mechanismen, Strategien und Maßnahmen die Situation umkehren könnten.« Schuld an der Katastrophe sei unter anderem der »unfaire internationale Handel«, der die erforderlichen Investitionen in die Landwirtschaft seit drei Jahrzehnten vielerorts verhindert habe. De Schutter ermahnte die internationale Gemeinschaft, das System von Grund auf zu ändern und für eine nachhaltige Entwicklung des Anbaus, bessere Bedingungen für Landarbeiter und nationale Strategien gegen den Hunger zu sorgen.

Der Präsident der Vollversammlung, Miguel d'Escoto Brockmann, warnte, dass das Heer der Hungernden unter der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise sowie den Auswirkungen des Klimawechsels noch mehr zu leiden habe als alle anderen.

Im Kampf gegen den Hunger hatte De Schutter bereits in der Vergangenheit eine stärkere internationale Kontrolle großer Nahrungsmittelkonzerne wie Nestlé und Kraft gefordert. Die Macht der multinationalen Firmen auf den sensiblen Lebensmittelmärkten erhöhe sich immer mehr, hatte der UNO-Sonderbeauftragte vor dem Menschenrechtsrat in Genf erklärt. Das bestehende Welthandelssystem sei unfair und benachteilige arme Staaten, die Lebensmittel einführen. »Staaten sollten die Macht in den globalen Marktprozessen kontrollieren«, forderte De Schutter. Die Firmen müssten Rechenschaft über ihre Aktivitäten ablegen. Entwicklungsländer sollten verstärkt selbst Nahrungsmittel produzieren, um sich von der Importabhängigkeit zu lösen.

Vor allem müssten Kleinbauern vermehrte technische und finanzielle Hilfe erhalten. Die stark schwankenden Weltmarktpreise für Lebensmittel würden die armen Länder besonders belasten.

Einer Studie zufolge könnte den Hungernden effektiver geholfen werden, wenn statt kostspieliger Maislieferungen den Bauern die Mittel zur eigenen Anpflanzung zur Verfügung gestellt würden. Das koste bedeutend weniger als importierter Mais aus den USA. Der Wissenschaftler Pedro A. Sanchez von der Columbia University in New York hat ausgerechnet, dass 812 US-Dollar für den Import einer Tonne US-Mais nach Afrika zu bezahlen sind. Saatgut, Dünger und Bewirtschaftung für den eigenen Anbau von einer Tonne Mais sind hingegen in Afrika für 135 Dollar zu haben.

Angesichts der Finanzkrise sei es notwendig, über Alternativen bei der Hungerbekämpfung nachzudenken, so Sanchez. Er forderte, die Entwicklungspolitik müsse sich von dem Augenmerk auf Nahrungshilfen stärker hin zu einer Unterstützung armer Bauern bewegen. Allein die USA hätten 2006 1,2 Milliarden Dollar für Nahrungshilfen für Afrika ausgegeben, aber nur 60 Millionen Dollar für die landwirtschaftliche Entwicklung auf dem Kontinent. 90 Prozent der Hungernden in Afrika seien langfristig vom Hunger betroffen, nur 10 Prozent von kurzfristigen Gründen.

* Aus: Neues Deutschland, 8. April 2009


Die Ärmsten leiden besonders

Afrika und Asien kämpfen mit Hungersnöten und steigender Sterblichkeit

Von Benjamin Beutler **


Die Ärmsten trifft die weltweite Rezession ohne Gnade. In den Entwicklungs- und Schwellenländern der Welt droht ein teilweise dramatischer Anstieg der Armut - allen Hilfsbeteuerungen der »Ersten Welt« zum Trotz.

Zwar hatten die G20-Staaten auf ihrem Krisentreffen in London den Entwicklungs- und Schwellenländern Hilfe zur Linderung der -- westlich verursachten -- Krise zugesagt. Über den Internationalen Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die Entwicklungsbanken wolle man Ländern helfen, die einen volkswirtschaftlichen Kollaps nicht mit eigener Kraft verhindern können. 1,1 Billionen (1 100 000 000 000!) US-Dollar werde man zur Verfügung stellen, der Welthandel solle mit Finanzierungshilfen in Höhe von 250 Milliarden Dollar angekurbelt werden. Ob diese, von der deutschen Kanzlerin als »historischen Kompromiss« gefeierte »Charta nachhaltigen Wirtschaftens« die bevorstehenden negativen Auswirkungen auf die Länder des Südens allerdings aufhalten kann, ist mehr als fraglich. »Immerhin wurde anerkannt, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise gerade in eine humanitäre Krise umschlägt, vor allem in den ärmsten Ländern«, so Ad Melkert vom UN-Programm für Entwicklung (UNDP).

Und während man sich in Europa und den USA um den Absatz von Neuwagen sorgt, bedroht die Rezession Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika durch den Rückgang von Lebenserwartung und Gesundheitsversorgung, die steigende Nahrungsmittelknappheit und die schwindenden Bildungschancen existenziell.

UNDP-Untersuchungen zu Auswirkungen vergangener Wirtschaftskrisen belegen die Folgen sinkender Wirtschaftsleistung: Ein Rückgang des Bruttoinlandsproduktes um drei Prozent lässt die Armut von Familien explodieren. Die Kindersterblichkeitsrate steige »geradezu mechanisch« um 47 bis 120 pro 1000 Lebendgeburten an.

Jüngste Wirtschaftsdaten scheinen diese Sorgen zu bestätigen. Man könne davon ausgehen, dass sich die Wachstumsraten der Entwicklungsländer im Jahr 2009 halbieren werde, so Peter Wolff vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik. Das bestätigt auch eine Weltbank-Studie: In 94 von 116 untersuchten Ländern sei ein akuter Abschwung zu beobachten. 43 dieser Länder, hauptsächlich in Afrika und Asien, haben eine hohe Armutsrate. Ausgerechnet den aufstrebenden Sektoren Export, Bau, Bergbau und Industrie breche die Krise das Genick.

Die erste Folge ist Massenarbeitslosigkeit. So verlor Kambod-scha 2008 bereits 30 000 Jobs in der Textilindustrie. In den Bereichen Schmuck, Autos und Bekleidung brachen in Indien im letzten Quartal 2008 eine halbe Million Stellen weg. Und in China sind 20 Millionen Wanderarbeiter inzwischen ohne Job. In Asien seien 140 Millionen Menschen von extremer Armut bedroht, so die Weltbank.

Auch Afrika ist trotz seiner schwachen Anbindung an den Welthandel neben dem Exporteinbruch bei Öl, Kaffee, Diamanten und Grunderzeugnissen vor allem wegen der »Kapitalisierung der Produktion« angegriffen. Bankgeschäfte und Finanzen seien wichtiger gewesen als Arbeitsplätze und Produktion, wirft Yash Tandon vom South Center in Genf dem reichen Norden vor. Die Spekulation mit Nahrungsmitteln habe zu einer massiven Verteuerung geführt - in Ruanda hätten sich die Preise für Lebensmittel und Energie vervierfacht. Benin, Burundi, Liberia, Mosambik und Niger stehen laut der Kindernothilfe vorm Staatsbankrott, weitere sechs Länder weisen ein hohes Risiko auf. Aufstände und Krieg drohten, warnt IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn.

Die Welthungerhilfe hatte ebenfalls Alarm geschlagen: In diesem Jahr werde die Zahl der chronisch hungernden Menschen weltweit auf über eine Milliarde steigen. Finanzspritzen allein reichten da nicht aus, erklärte Irene Knoke von der Entwicklungsorganisation Südwind: »Nullen allein machen nicht satt.«

** Aus: Neues Deutschland, 8. April 2009

Keine Chance

Von Ingolf Bossenz ***

In der Zeit, die Sie für das Lesen dieses Satzes brauchen, stirbt irgendwo in der Welt ein Kind an Unterernährung. Da das weder neu ist noch eine sonderlich ungewöhnliche Todesart darstellt, fehlt diesem Dauerereignis der Nachrichtenwert. Letzterer wohnt immerhin dem magischen Wort »Milliarde« inne, das der UNO-Sonderbeauftragte für das Recht auf Nahrung, Olivier De Schutter, jetzt aussprach: Über eine Milliarde Menschen weltweit leidet unter chronischem Hunger. Die Verkündung des erwarteten Überschreitens dieser Marke ausgerechnet in der Karwoche ist von makabrer Ironie. Zwar passt die humanitäre Bankrotterklärung zur christlichen Trauerwoche. Doch für eine Milliarde Menschen -- ob jesusgläubig oder nicht -- geht die Fastenzeit am Ostersonntag weiter.

Dabei fehlte es in den vergangenen Jahren nicht an Appellen, mit denen Politiker, Experten und Hilfsorganisationen Fortschritte auf dem Weg zu einer Welt mit ausreichendem Nahrungsangebot für alle anmahnten. Und eigentlich gibt es seit Jahren mehr als genug zu essen für die gesamte Erdbevölkerung. Die Krux ist nur: Wer kein Geld hat, Essen zu kaufen, muss ungeachtet aller Beschlüsse weiter hungern. Konzerne und ihre Regierungen sind nun mal keine Wohltätigkeitsvereine. Das sollte das aktuelle Finanz- und Wirtschaftsdesaster auch dem letzten Ignoranten zeigen, der von neuen Chancen faselt. Diese Krise ist keine Chance. Nicht für Millionen Hungernde. Sie hatten nie eine.

*** Aus: Neues Deutschland, 8. April 2009 (Kommentar)




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