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Der blinde Fleck der Hunger-Debatte

Entwicklungsländer: Die Nahrungsmittelkrise ist vor allem eine Produktivitätskrise

Von Thorsten Hild *

Der französische Agrarexperte Marcel Mazoyer hatte im Freitag vom 2. Mai (Ausgabe 18/08) dafür plädiert, die Preise für Nahrungsmittel "überall auf der Welt gemäß den dort herrschenden Produktionsbedingungen" festzulegen. Dem widerspricht der Ökonom Thorsten Hild, der dazu auffordert, die niedrige Produktivität der Landwirtschaft in Afrika und Asien nicht aus den Augen zu verlieren.

Was hat der Rentenstreit in Deutschland mit der Debatte um die weltweite Nahrungsmittelkrise gemeinsam? Das Wort Produktivität taucht fast nirgends auf. Für beide Themen gilt jedoch: Produktivität ist nicht alles, ohne Produktivität ist aber alles nichts. Warum ist das so? Der technische Fortschritt und neue Erkenntnisse haben bisher den Einzelnen einer jeden Generation dazu befähigt, mit weniger Aufwand mehr zu produzieren als die einzelne Person in den Generationen vor ihm. Dieser Anstieg der Produktivität war und ist die Voraussetzung für sozialen Fortschritt.

Nur, weil die "Rentenexperten" dies nicht berücksichtigen oder einer breiteren Öffentlichkeit vorenthalten, können sie es als Menetekel an die Wand malen, dass zukünftig immer weniger Jüngere für immer mehr Ältere arbeiten müssen. Und nur so war es möglich, Rentenkürzungen durchzusetzen, obwohl die Produktivität und der Reichtum der Gesellschaft weiter zunehmen. Viele werden trotzdem in die Altersarmut abrutschen.

Bei der Nahrungsmittelkrise verhält es sich ähnlich. Da werden unisono die EU-Subventionen für die heimische Landwirtschaft verteufelt. Sie würden dem Agrarsektor in den Entwicklungsländern den Garaus machen. Durch die Billig-Importe aus dem reichen Norden würden die Bauern im armen Süden in ihrer Existenz bedroht. Die Schlussfolgerung: EU-Subventionen streichen.

Die Produktivität in der Landwirtschaft wird nicht thematisiert. Ein Blick auf die unterschiedliche Leistungsfähigkeit in den Industriestaaten und den Entwicklungsländern offenbart aber die eigentliche Ursache für die schwelende Nahrungsmittelkrise. Die ist zuallererst einer Produktivitätskrise in vielen Staaten Afrikas und Asiens geschuldet.

Die landwirtschaftliche Produktivität liegt dort geradezu dramatisch unter der in den Industrieländern. Besonders erschreckend sind die Zahlen im Afrika südlich der Sahara. Die Menschen in dieser Region sind weltweit am schlimmsten von Unterernährung betroffen. Laut Weltbank leidet dort jeder Dritte unter ständigem Hunger. Die Nord-Süd-Kluft in der Produktivität hat sich hier in den vergangenen Jahren noch weiter vertieft. Ein Trend, der anhalten dürfte.

Während die Industrieländer ausgehend von einem ohnehin hohen Niveau ihre Leistungsfähigkeit in den vergangenen zehn Jahren noch einmal deutlich steigern konnten, gelang dies den meisten Entwicklungsländern nicht. Das beeinflusst auch die landwirtschaftliche Produktivität in der Welt insgesamt.

Was hätte eine Streichung der Subventionen in den Ländern des Nordens zur Folge? Der Wettbewerb würde sich weiter intensivieren, die Konzentration zunehmen und die Produktivität etwa in der EU schneller wachsen. Die Preise für Nahrung würden aufgrund der wachsenden Abhängigkeit von Angebot und Nachfrage stärker schwanken, tendenziell aber weiter sinken - vorausgesetzt die Konzentration führt nicht zu monopolartigen Agrarbetrieben und zur Einschränkung des Wettbewerbs.

Und was würde in den Entwicklungsländern passieren, wenn diese die dann noch billigeren Importe aus den Industrieländern einschränken würden? Aufgrund der niedrigen Produktivität in der dortigen Landwirtschaft würden die Preise in die Höhe schnellen. Die allgemeine Annahme, dass steigende Preise zu einer Ausdehnung der Produktion führen, werden Bauern im armen Süden jedoch kaum erfüllen können. Der Grund: die geringe landwirtschaftliche Produktivität. Sie erlaubt es ihnen gar nicht, mit einer spürbaren Ausdehnung der Produktion auf Preissteigerungen zu reagieren.

Und selbst wenn, wer sollte sich dann noch diese Nahrungsmittel leisten können? Hungerkatastrophen und Aufstände vor allem in den Städten würden sich häufen. Die Reallöhne in der schwach entwickelten verarbeitenden Industrie und im Dienstleistungssektor würden für die teurer werdenden Nahrungsmittelpreise nicht länger reichen. Es wäre daher verheerend, wenn der Agronomieprofessor Marcel Mazoyer mit seiner Auffassung über die richtige Preisbildung auf den Agrarmärkten Recht behielte: "Der Preis muss überall auf der Welt gemäß den dort herrschenden Produktionsbedingungen festgelegt werden."

Die Agrarsubventionen des Bundes befinden sich derzeit mit 0,91 Milliarden Euro - das sind vier Prozent der gesamten Subventionen - auf einem historischen Tiefpunkt. Die Exporterstattung durch die EU betrug zuletzt rund 2,5 Milliarden Euro. Würde der Abbau von Agrarsubventionen tatsächlich zur Lösung der Probleme in den Entwicklungsländern beitragen, müssten wir heute die Nahrungsmittelkrise gar nicht diskutieren: Der Anteil aller EU-Marktstützungsmaßnahmen (Ausfuhrerstattungen, Lagerhaltung) am gesamten EU-Agrarhaushalt ist von 91 Prozent 1991 auf 14 Prozent im vergangenen Jahr gesunken.

Die Empörung über die nur noch marginalen EU-Subventionen verstellt daher den Blick auf das eigentliche Problem: Die Überwindung des dramatischen Produktivitätsrückstands in den Entwicklungsländern. Hier müsste Entwicklungspolitik ansetzen. Studien belegen, dass gerade in den ärmsten Regionen eine verbesserte technische Ausstattung der Landwirtschaft am meisten zur Überwindung der Produktionsschwäche im Agrarsektor beiträgt.

Um dies zu fördern, sollten die vermeintlichen Gegenpole verarbeitende Industrie und Landwirtschaft nicht länger gegeneinander ausgespielt werden. Der Aufbau einer lokalen Industrie ist die beste Voraussetzung für eine bessere technische Ausstattung des Agrarsektors. Hierbei könnten durchaus billige Nahrungsmittelimporte aus den reichen Staaten einen Beitrag leisten. Da der Lohn in den ärmsten Entwicklungsländern fast vollständig für Ernährung verausgabt wird, sind niedrige Nahrungsmittelpreise eine Voraussetzung zur Vermeidung von Hungersnöten - und für den Aufbau eines eigenen industriellen Sektors. Der würde über die kostengünstige Produktion von verbessertem landwirtschaftlichem Gerät die Grundlage dafür legen, dass die Agrar-Produktivität nachhaltig steigen kann.

Nicht "die industrielle Landwirtschaft ist an ihre Grenzen gestoßen", wie bei der Vorstellung des Weltagrarberichts gerade erst wieder öffentlichkeitswirksam verkündet wurde, sondern die traditionelle Landwirtschaft in den ärmsten Ländern der Welt, der ein Zugang zu neuen Technologien verwehrt ist.

* Aus: Wochenzeitung "Freitag" 20, 16. Mai 2008


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