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Die Pauperisierten

Zwei Ausstellungen im Rheinland dokumentieren den Umgang mit Armut seit über 2500 Jahren

Von Ronald Sprafke *

Eine erstaunlich aktuelle Ausstellung präsentieren derzeit das Rheinische Landesmuseum und das Stadtmuseum Simeonstift Trier. In Zusammenarbeit mit der Universität Trier werden erstmals 2500 Jahre Armut von der Antike bis in die Gegenwart in all ihren Spielarten reflektiert.

»Abomino pauperos. Ich verabscheue die Armen.« Eine erschreckende Meinung fürwahr, aber leider keine antike, sondern uns Heutigen noch sehr wohl bekannte, durchaus gängige, wenn auch nicht immer offen, aber doch immer öfter artikulierte Ansicht.

Armut scheint eine Geißel der Menschheit zu sein. »Denn Arme habt ihr allezeit bei euch«, weiß bereits die Bibel zu berichten (Matth 26,11). Doch was ist Armut? Was bedeutet absolute und relative Armut, würdige und unwürdige, erzwungene und freiwillige? Unterschiedlich war und ist zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Regionen der Umgang der Gesellschaft mit Armut und den Armen. Vielfach wurden und werden sie in Ghettos isoliert und/oder als arbeitsscheues Gesindel kriminalisiert. Seltener als Gleichgültigkeit oder Demütigung ist aus Mitleid gespeiste Hilfe.

Selbstverschuldet?

Armut wird heute relativ zum Durchschnittseinkommen einer Gesellschaft bemessen. In der Antike galten andere Maßstäbe. Das Eingangszitat ist ein Graffito von einer Hauswand aus dem einst reichen, in der Vulkanasche des Vesuvs im Jahre 79 n. Chr. versunkenen Pompeji. Armut kennzeichnete damals das Verhältnis zur körperlichen Arbeit. Reich sein bedeutete, frei zu sein von mühseliger Fron. Arm sein hingegen hieß, mit schwerer Arbeit sich seinen täglichen Unterhalt verdienen zu müssen. Armut wurde grundsätzlich negativ betrachtet und galt als selbstverschuldet.

Seit dem ausgehenden 4. Jahrhundert v. Chr. verarmten vor allem in den hellenistischen Großstädten wegen lang andauernder Kriege, Wirtschaftskrisen und Landflucht immer größere Bevölkerungsschichten. Da der Staat Hilfe versagte, griff nun eine Form privater Wohltätigkeit (Euergetismus), die bis in das 3. Jahrhundert n. Chr. das Bild von der Armenfürsorge prägte. Wohlhabende Bürger, aber auch reiche Sklaven und gnädige Frauen verteilten Geld- und Lebensmittelspenden oder finanzierten die Errichtung öffentlicher Gebäude, die auch von Armen genutzt werden konnten – wie Tempel, Theater oder Thermen. Das treibende Motiv war weniger die Nächstenliebe. Vielmehr konnte man mit Wohltaten gesellschaftliches Ansehen und politischen Einfluss gewinnen nach dem Motto: Tue Gutes und rede darüber!

Im Rom der Kaiserzeit galt Armut als individuelles Schicksal. Selbst der begüterte römische Bürger konnte in die Bedürftigkeit abrutschen. Da aber die Besitzlosen (proletarii) als Wählermasse politische Bedeutung besaßen, warben private Wohltäter und Politiker bis hin zum Kaiser mit Getreidespenden und der Ausrichtung von Spielen um die Gunst der Armen.

Doch wie stand es um die Reflexion von Armut in der Kunst? Das Ideal von der körperlichen und geistigen Vollkommenheit schloss deren künstlerische Darstellung im klassischen Griechenland aus. »Handarbeit beeinträchtigt den Adel des Körpers«, schreibt Xenophon im 4. Jahrhundert v. Chr. Mit dem Hellenismus verschwand diese Auffassung allmählich. Ausgemergelte Körper, von Arbeit, Alter und Armut gezeichnet, wurden jetzt detailreich und ungeschönt dargestellt, oftmals bis zur Hässlichkeit gesteigert. Hässlichkeit stand im antiken Wertekanon für eine sozial minderwertige Lebensweise. Auch in der Kunst blieben Arme, Alte, Bettler, Kranke, Versehrte und Sklaven Subjekte von Spott und Verachtung.

Brot und Spiele

Das Rheinische Landesmuseum zeigt 97 Beispiele: hellenistische und römische Skulpturen, Statuetten und Köpfe aus Bronze und Ton sowie Reliefs. Viele Exponate stammen aus Ägypten (Alexandria) und Kleinasien, andere wurden in Trier ausgegraben. In diesen Kunstwerken wird man weder Mitleid und Nächstenliebe noch soziales Aufbegehren und Gesellschaftskritik sehen dürfen. Die bewusste Antithese zur Kalokagathia, der antiken Vorstellung vom Guten und Schönen, unterstrich die niedere soziale Stellung der Dargestellten. Diese Kunstwerke waren als Weihgeschenke den Göttern zugedacht oder zierten die Villen und Gärten der Oberschicht. Kleinere Stücke wurden auch als Amulette getragen, um Unheil abzuwehren.

Eine nur 6,6 Zentimeter hohe Bronzestatuette aus Alexandria (Mitte 3. Jahrhundert v. Chr.) zeigt einen verkrüppelten, buckligen Bettler, der breitbeinig auf dem Boden hockt. Sein hagerer Körper ist weit entfernt vom klassischen Schönheitsideal. Der Kopf ist kahl, die Gesichtszüge verzerrt. Die Hände halten ein übergroßes Geschlecht, das Symbol für Trieb- und Lasterhaftigkeit, das die niedere soziale Stellung des Mannes unterstreicht. Bildnisse antiker Götter und Athleten wiesen stets nur ein kleines Geschlechtsorgan auf.

Zur Belustigung und Ruhigstellung des Volkes organisierten die alten Römer »panem et circenses« (Brot und Spiele). Vergleichbares kannte man schon im hellenistischen Ägypten. Eratosthenes, Hofschreiber und Leiter der berühmten Bibliothek von Alexandria, berichtet, dass König Ptolemaios IV. (222-204 v. Chr.) die Lagynophorien zu Ehren des Weingottes Dionysos stiftete. Bei diesem Fest waren die Grenzen zwischen Arm und Reich zeitweilig außer Kraft gesetzt. Sogar Sklaven, Krüppel und Bettler durften teilnehmen. Die Teilnehmer brachten ihr eigenes Essen mit. Oft war es ein Hahn, den sich auch Arme leisten konnten. Der Wein wurde vom König gestiftet. Man saß, aß und trank gemeinsam. Die Armen vergaßen im Rausch kurzzeitig ihre Armut.

In Stadtmuseum Simeonstift Trier ist eine fast lebensgroße Skulptur zu bewundern. Die herabgerutschten Träger des sorgfältig drapierten Gewandes der alten Frau entblößen einen sehnigen ausgezehrten Oberkörper. Tiefe Furchen durchziehen das auffällig geschminkte Gesicht. Die Frau trägt teuren Goldschmuck an Ohren und Fingern. Sie hatte schon bessere Tage erlebt. Kleidung, Schmuck und Schminke weisen sie als eine Hetäre aus.

Hetären (»hetairai«, Gefährtinnen) verfügten im Gegensatz zu gewöhnlichen Dirnen (»pornai«) über eine hohe Bildung, kannten sich in Literatur, Philosophie, Musik aus und wurden von der Gesellschaft durchaus akzeptiert und respektiert. Aspasia, die Geliebte und spätere Ehefrau von Perikles, in dessen Regierungszeit Athen eine Blütezeit erlebte, und Thaïs, Hetäre des makedonischen Welteneroberer Alexander der Große, sind berühmte Beispiele. Diodor berichtet, dass es im Gegensatz zu Ehefrauen nur Hetären erlaubt war, öffentlich Goldschmuck und bunt ornamentierte Kleidung zu tragen. Nur Hetären durften ihr Gesicht mit Bleiweiß bedecken. Doch in vielen Fällen währte das luxuriöse Leben nicht ewig. Mit dem Alter kam sozialer Abstieg, Armut war die Folge. Die »Trunkene Alte« von Trier umklammert fest eine mit einem Efeukranz geschmückte Weinflasche. Wein- und glückselig darf sie an den Lagynophorien teilnehmen. Die römische Marmorkopie des verloren gegangenen Bronzeoriginals aus der Zeit von Ptolemaios IV. diente vermutlich als Dekoration in der Villa eines Reichen.

Mit dem aufkommenden Christentum setzte ein grundsätzlicher Wandel in der Bewertung und Darstellung von Armut ein. Gemäß der christlichen Lehre hatte Gott den Menschen geschaffen. Und Armut galt als ein von Gott gegebenes Schicksal, Armenfürsorge als gottgefällige Tat. Seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. hatte der Bischof als pater pauperum, Vater der Armen, für die Bedürftigen in den frühen Gemeinden zu sorgen. Mit Konstantin setzte sich zunehmend auch die christliche Sicht von Armut in der Kunst durch, Darstellungen von hässlichen, entstellten Armen wurden seltener.

Römische Dekadenz

Vergleicht man Äußerungen heutiger Politiker mit dem antiken Armutsverständnis, so scheinen die Unterschiede gar nicht so groß zu sein, wie das Stadtmuseum mit einer Zitatensammlung enthüllt. »Wenn jemand nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen.« Und: »Nur wer arbeitet, soll auch essen.« Zwischen beiden Sätzen liegen fast 2000 Jahre. Der erste stammt von Apostel Paulus, in der Bibel nachzulesen (2. Thess 3,10), der zweite wird (allerdings in den Medien seinerzeit verkürzt) dem ehemaligen Vizekanzler der Bundesrepublik und SPD-Bundesminister für Arbeit und Soziales, Franz Müntefering, zugeschrieben. In der Erinnerung noch frisch ist die Polemik von Guido Westerwelle gegen römische Dekadenz. Und wider die »soziale Hängematte« hatte bekanntlich der »Kanzler der Einheit«, Helmut Kohl, gewettert.

Indes ist das Sozialstaatsprinzip, von Bismarck ab 1883 in Deutschland eingeführt, im Grundgesetz der BRD festgeschrieben (Art. 20 Abs. 1 GG). Seit gut zwei Jahrzehnten wird am Abbau dessen gearbeitet, das Gebot der Sozialstaatlichkeit durch das neoliberale Prinzip von Leistung ersetzt. »Jeder, der jemanden unentgeltlich um etwas bittet, ist ein Narr. Geld soll er geben und Ware erhalten.« Dieser Satz ist allerdings nicht einem Lehrbuch der freien Marktwirtschaft entnommen, sondern die Fortsetzung des eingangs zitierten Graffito aus Pompeji.

Armut – Perspektiven in Kunst und Gesellschaft. Rheinisches Landesmuseum Trier (Antike) und Stadtmuseum Simeonstift Trier (Mittelalter bis Gegenwart).

Kataloge: St. Seiler (Hg.): Armut in der Antike. 103 S., kart., 9,80 €.

H. Uerlings u. a. (Hg.): Armut Perspektiven in Kunst und Gesellschaft. 448 S., geb., 39,90 €.

* Aus: Neues Deutschland, 29. Juli 2011


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