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"Warum beenden sie nicht das Spiel mit dem Hunger?"

Aktion gegen Nahrungsmittelspekulation: Regierung will eigenen Banken nicht in die Parade fahren. Ein Gespräch mit Astrid Goltz *


Astrid Goltz ist Leiterin der Kampagne »Mit dem Essen zockt man nicht« beim Netzwerk »­Campact – Demokratie in Aktion«.


Sie haben eine Unterschriftenkampagne initiiert, die sich gegen die Finanzspekulation mit Nahrungsmitteln wendet. Wie schwerwiegend ist das Problem?

Die Preise für Grundnahrungsmittel haben sich in den vergangenen zehn Jahren weltweit verdoppelt. Menschen in den sogenannten Entwicklungsländern geben mehr als die Hälfte ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus. Im Jahr 2008 gab es Hungeraufstände in über 60 Ländern. Doch seitdem ist nichts geschehen. Die Preise fielen erst, aber im Jahr 2010 sind sie weltweit erneut um ein Drittel gestiegen. Dadurch sind über 40 Millionen Menschen in absolute Armut gestürzt.

Sind die Preisschübe allein der Spekulation geschuldet?

Nein. Aber Spekulation ist ein relevanter Faktor. Laut einer Studie der Hochschule Bremen wurden die Getreidepreise zwischen 2007 und 2009 durch Nahrungsmittelspekulation um 15 Prozent aufgeblasen. Die Preise schwanken auch viel mehr, was direkt mit dem Einstieg der großen Banken und Fonds in den Agrarmarkt zu tun hat.

Inwiefern?

Nach der Immobilienblase 2008 suchten Banken und Fonds nach sicheren Anlagen. Man sagte, daß man bei Nahrungsmitteln auf langfristig steigende Preise setzen könne und daher Gewinne sicher seien. Aus den Warenterminmärkten, einem Nischenmarkt, wurde ein globales Rohstoff-Casino. Inzwischen orientieren sich die Preise für Nahrungsmittel nicht mehr an Angebot und Nachfrage, der Qualität von Ernten oder den Lagerbeständen, sondern an den Börsenkursen. Das ist gefährlich. Unsere Lebensgrundlage sollten wir nicht in die Hand von Finanzspekulanten legen.

Ihre Hoffnungen auf Besserung richten sich auf die anstehende EU-Finanzmarktreform. Was ist hier zu erwarten?

Wir erwarten, daß der Spekulation mit Nahrungsmitteln ein Riegel vorgeschoben wird. Sowohl im Parlament als auch im Ministerrat, in dem die Finanzminister der Länder sitzen, werden in diesem Sommer die Grundpflöcke für die Reform eingeschlagen. Der Wirtschafts- und Währungsausschuß des Parlaments hat dafür im März einen wesentlich progressiveren Vorschlag vorgelegt als die EU-Kommission. Doch einige Konservative wollen das Konzept im Ausschuß verwässern.

Wie ist die Haltung der Bundesregierung?

Widersprüchlich. Frau Merkel hält sich bedeckt. Landwirtschaftsministerin Aigner schimpfte im letzten Jahr über die »Zocker«, ist aber in den letzten Monaten verstummt. Finanzminister Schäuble sagt zaghaft ja zu einer Regulierung, stellt aber keine Forderungen, die über den schwachen Vorschlag der EU-Kommission hinausgehen. Was hinter den Kulissen in Brüssel verhandelt wird, ist zur Zeit schwer zu sagen.

Hat das Zaudern vielleicht damit zu tun, daß man den eigenen Banken nicht in die Parade fahren will?

Ja, deutsche Banken und Versicherungen sind ganz vorne mit dabei: Sie haben rund elf Milliarden Euro in Agrarrohstoffen angelegt, das ist ein Sechstel des weltweiten Anlagevolumens. Im Falle der Festlegung auf strikte Positionslimits, die die Anzahl der spekulativen Geschäfte pro Händler begrenzen, würden die Deutsche Bank und die Allianz wahrscheinlich aus dem Geschäft aussteigen.

Es sind aber ausgerechnet zwei deutsche EU-Parlamentarier, die das Konzept der Positionslimits torpedieren ...

Richtig. Gerade der Verfasser des progressiven Berichts vom März, Markus Ferber von der CSU, ist in den letzten Wochen zurückgerudert. Er will verbindliche Positionslimits verhindern. Werner Langen, CDU-Abgeordneter aus Rheinland-Pfalz, will die Limits ganz streichen. Der Wirtschafts- und Währungsausschuß wird über seine Position voraussichtlich Anfang Juli abstimmen. In Bayern und in Rheinland-Pfalz haben wir Online-Unterschriftenaktionen gestartet. Die Unterschriften wollen wir öffentlich überreichen und das Gespräch mit Ferber und Langen suchen. Am Dienstag waren wir mit einer direkten Aktion im Europäischen Parlament. Warum beenden die Abgeordneten nicht das Spiel mit dem Hunger? Wir wollen Antworten. Auch von Schäuble und Aigner, an die wir uns in einem breiten Bündnis von Organisationen mit einem weiteren Bürgerappell wenden.

Interview: Ralf Wurzbacher

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 21. Juni 2012


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