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Marktöffnung treibt Bauern im Süden in die Existenznot

Entwicklungsorganisationen fordern Neuausrichtung der Agrar- und Handelspolitik

Von Martin Ling *

Das 1996 auf dem Welternährungsgipfel in Rom gesetzte Ziel, die Zahl der über 800 Millionen Hungernden weltweit bis 2015 zu halbieren, rückt in immer weitere Ferne: Ohne Berücksichtigung der Nahrungsmittelkrise 2008 war die Zahl der Hungernden bereits auf 923 Millionen Menschen im Jahr 2007 angestiegen. Die Hungerkrise und die Handelsliberalisierung drohen die Lage weiter zu verschärfen.

Die Lage ist düster und doch gibt es auch ermutigende Zeichen. Der sambische Milchbauer John Mwemba steht heute gemeinsam mit deutschen Kollegen auf der Straße, um für ein gemeinsames Anliegen zu demonstrieren: faire Preise für Agrargüter in Europa und Afrika. Zum Welternährungstag fordern die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), der Bundesverband deutscher Milchviehhalter (BDM), die Menschenrechtsorganisation FIAN und die Entwicklungs- und Umweltorganisation Germanwatch eine Neuausrichtung in der Landwirtschafts- und Handelspolitik.

Der Adressat der Milchparade in Berlin: das Bundeslandwirtschaftsministerium. Das soll sich bei der anstehenden Reform der Milchmarktordnung dafür einsetzen, dass Bauern in Europa und in Afrika faire Preise erhalten, die ein Leben in Würde ermöglichen. Deshalb müsse die Milchproduktion an dem Bedarf ausgerichtet werden und die Exportsubventionen sind dauerhaft abzuschaffen, so die Organisatoren.

Der Milchwirtschaft in Sambia drohe derzeit ein doppelter Rückschlag: »Die Europäische Union plant ihre Milchquoten zu erhöhen und drängt darauf, dass die sogenannten Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPA) dieses Jahr endlich über die Bühne gehen«, erzählt Angela Mwape Mulenga im ND-Gespräch. Beides würde dazu führen, dass der sambische Markt mit Milchpulver aus der EU überschwemmt werden würde, was die einheimischen Bauern teuer zu stehen käme, so die sambische Progammkoordinatorin der internationalen Nichtregierungsorganisation CUTS.

Dass die Milchproduktion im kleinbäuerlichen Sektor großes Potenzial zur ländlichen Entwicklung aufweist, zeigt die Milchkooperative in Magoye, deren Vize-Vorsitzender John Mwemba ist. »Bei der Gründung 1993 waren wir gerade mal 25 Kleinbauern«, erzählt Mwemba gegenüber ND. Mit staatlicher Unterstützung und mit finanzieller Hilfe der deutschen Botschaft bauten die Kleinbauern eine Milchsammelstelle auf und schafften einen LKW an. »1997 wurden 90 Liter pro Tag produziert, heute sind es bis zu 3000 Liter Milch und 900 000 Liter im Jahr, die die inzwischen auf über 200 Bauern, darunter 50 Frauen angewachsene Kooperative produziert«, schildert Mwemba stolz.

Der Jahreserlös beläuft sich auf rund 400 000 Euro, die nach Leistung auf die Bauern verteilt werden. Mwemba selbst kommt so auf 250 Euro im Monat -- in einem Land, indem weit über die Hälfte der Bevölkerung von weniger als einem US-Dollar pro Tag leben muss, ist das alles andere als ein Pappenstiel. »Mit diesem Einkommen sind wir in der Lage, unsere Kinder zur Schule zu schicken, ausreichend Nahrungsmittel zu kaufen und anfallende Arztkosten zu tragen. Die Kooperative hat unser tägliches Leben verbessert«, daran lässt Mwemba keine Zweifel offen. Zweifel hegt er allerdings, ob das so bleibt. »Wir fürchten uns vor den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit der EU. Wenn das Milchpulver aus der EU kommt, werden wir vom Markt verdrängt. Die Leute werden das kaufen, weil es billiger ist als unsere Milch. Nur wovon sollen wir dann leben?«, macht sich Mwemba große Sorgen.

Mit Recht, wie die Erfahrung mit Agrarliberalisierung weit über Sambia hinaus zeigt. »In vielen Entwicklungsländern sind die Kleinbauern den Preisschwankungen des Marktes schutzlos ausgeliefert«, so die Agrarexpertin Marita Wiggerthale von Oxfam. Von versprochenen 12,3 Milliarden US-Dollar Hilfsgeldern sei bisher lediglich eine Milliarde ausgezahlt worden. Gleichzeitig würden Agrardumping und Marktöffnung weiter vorangetrieben. Es sind diese Tatsachen, die die Aussichten für die Hungernden weiter düster sein lassen und Mwemba Sorgen bereiten.

Zahlen und Fakten - Welthunger-Index

Der Welthunger-Index (WHI) wurde vom Internationalen Forschungsinstitut für Ernährungspolitik (IFPRI) in Washington im Auftrag der Deutschen Welthungerhilfe entwickelt und 2006 zum ersten Mal veröffentlicht. Dafür werden Ursachen und Erscheinungsformen von Unterernährung und Hunger in Entwicklungs- und Schwellenländern untersucht. Anhand verschiedener Messgrößen wird dabei für jedes Land ein »WHI-Wert« ermittelt und eine Rangliste erstellt.

Grundlage des Indexes sind der Anteil der Unterernährten in der Bevölkerung, der Anteil untergewichtiger Kinder unter fünf Jahren und die Sterblichkeitsrate von Kleinkindern. Die Daten stammen von den UN-Organisationen für Ernährung (FAO) und Gesundheit (WHO) sowie vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, UNICEF. In weiteren Studien wird der WHI-Wert unter anderem mit dem Bruttonationaleinkommen, der Aids-Infektionsrate und der politischen Stabilität in den Ländern verglichen.

Der erste Welthunger-Index von 2006 wurde für die Jahre 1981, 1992, 1997 und 2003 erhoben und umfasst damit einen Zeitraum von rund 20 Jahren. Der Index 2008 basiert auf Daten von 1990 bis 2006 und zeigt Fortschritte und Misserfolge im Kampf gegen den Hunger in den einzelnen Ländern.

Demnach hat sich die Situation in vielen der 88 untersuchten Länder zumindest leicht verbessert. Allerdings ist die jüngste Hungerkrise noch nicht in den Zahlen berücksichtigt. Vor allem in Ländern in Afrika südlich der Sahara hat sich die Lage teilweise stark verschlechtert. Am schlechtesten schneiden die Demokratische Republik Kongo, Eritrea, Burundi, Niger und Sierra Leone ab.

Insgesamt sind die Menschen in 33 Ländern laut WHI akut von Hunger bedroht. Die Zahl der Hungernden weltweit ist auf 923 Millionen Menschen gestiegen. epd/ND

Siehe auch:


* Aus: Neues Deutschland, 16. Oktober 2008


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