Bündnis 90/Die Grünen lehnen US-Raketenabwehr entschieden ab
Länderrat tagte in Berlin - Der Beschluss im Wortlaut
Es gibt doch noch Felder, auf denen sich die Partei der Grünen und die Friedensbewegung verständigen können. Die Ablehnung der US-Raketenabwehrpläne, genauer: des US-Weltraumrüstungsprogramms, ist ein solches Feld. Am vergangenen Wochenende (Freitag/Samstag, 15./16. Juni 2001) tagte in Berlin der Länderrat der Grünen und befasste sich u.a. mit rüstungspolitischen Fragen. Nein, nicht mit der Aufstockung des Scharping-Etats, auch nicht mit der Umwandlung der Bundeswehr in eine Interventions- bzw. Angriffsarmee, nicht einmal mit der mehr als widersprüchlichen Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung - so nah wollte man dem politischen Geschehen in Berlin nun doch nicht sein. Hätte sich hier ja herausstellen können, dass es mit der Einigkeit unter den Grünen doch nicht so weit her ist. Uneinigkeit aber ist offenbar Gift für die Koalition, und die gilt es um jeden Preis zu verteidigen. Der grüne Länderrat befasst sich lieber mit dem rüstungspolitischen Gebaren des NATO-Partners jenseits des Atlantiks. Hier gibt es immerhin auch einen vermeintlichen Schulterschluss mit der Bundesregierung - noch!
Aber wir wollen bescheiden bleiben und - nach allem, was wir in den letzten Jahren an Katastrophen und anderen Kniefällen vor der "Realpolitik" erlebt haben - von den Grünen nicht zu viel auf einmal verlangen. Wir sind schon mit kleinsten friedenspolitischen Schritten zufrieden. Ob dereinst weitere Schritte folgen werden, steht in den Sternen. Und der letzte Absatz der in Berlin verabschiedeten Resolution lässt viel Raum für Spekulationen. Einmal kann man nicht mehr so tun, als würde die Bundesregierung einen "entschiedenen" Kurs gegen NMD fahren, den es entsprechend zu stützen gälte. Das Interview von Kanzler Schröder vom Februar schon vergessen, worin er offen darüber nachdachte, sich aus technologiepolitischen Gründen an NMD beteiligen zu wollen? (vgl. unseren Beitrag vom März). Und wie ist der allerletzte Satz des Antrags zu verstehen? Ist das schon ein erster Schritt auf eine internationale Raketenabwehr "im Einvernehmen" mit Russland? Fragen über Fragen.
Doch hier nun der Beschluss des grünen Länderrats im Wortlaut:
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
1. Ordentlicher Länderrat 15./16. Juni 2001 in Berlin
Beschluss zu NMD:
Gegen Rüstungswettlauf und Raketenabwehr -
für die Entmilitarisierung der internationalen Beziehungen
Die amerikanische Regierung scheint zum Aufbau eines landesweiten
Raketenabwehrsystems entschlossen. Nach kritischen Reaktionen der
Verbündeten der USA, aber auch Rußlands und Chinas wurde auf die Bezeichnung
"national" verzichtet. Zwar bestehen weiterhin Zweifel an der technischen
Realisierbarkeit eines Systems, das eine Unverwundbarkeit des amerikanischen
Territoriums sichern soll. Grundsätzlich hat sich die neue Regierung jedoch
für eine Raketenabwehr entschie-den. Sie ist Bestandteil einer weiteren
Unilateralisierung der amerikanischen Außenpolitik. Sie ist Ausdruck des
Willens der USA, überall dort, wo sie es für erforderlich halten, im
Alleingang zu agieren sowie im Rahmen multilateraler Aktionen die politische
und militärische Führung zu übernehmen. Bedrohungen durch sogenannte
Problemstaaten wie Nordkorea, Irak, Iran, Syrien oder Libyen werden als
Begründung aufgeführt.
Wir sehen im Aufbau einer Raketenabwehr die Gefahr, daß politische Maßnahmen
gegenüber militärischen Mitteln mehr und mehr ins Hintertreffen geraten und
nicht angemessen ausgelotet werden, um der Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen wirksam entgegenzutreten.
Wir begrüßen deshalb die Skepsis, die die Bundesregierung auch auf dem NATO-
Sonderrat in Brüssel gezeigt hat.
Der Aufbau eines Raketenabwehrsystems - und auch die Diskussion darüber -
hat destabilisierende Wirkungen für die globale Sicherheits- und
Rüstungskontrollpolitik:
-
Eine Schwächung oder gar einseitige Aufkündigung des Raketenabwehrabkommens
von 1972 (Anti Ballistic Missile Treaty, ABM) würde das gesamte
Rüstungskontrollgebäude der vergangenen Jahrzehnte zum Einsturz bringen und
insbesondere den nuklearen Nichtweiterverbreitungsvertrag in Frage stellen.
- Der Aufbau eines Raketenabwehrsystems würde zudem eine Militarisierung des
Weltraums mit sich bringen und damit eine neue Dimension des
Rüstungswettlaufs einleiten.
- Der sich abzeichnende Unilateralismus der USA konterkariert Bemühungen um
Rüstungskontrolle und Abrüstung. Schon jetzt zeichnet sich eine
Konfrontation mit China ab und es besteht die Gefahr, daß es zu einem
weiteren "kalten Krieg" kommt. In Rußland wird die Befürchtung,
sicherheitspolitisch marginalisiert zu werden, ebenfalls zu Blockaden
führen. Ein auf Unver-wundbarkeit ausgerichtetes Raketenabwehrprogramm wird
von diesen Staaten als Bedrohung wahrgenommen, weil sich die USA in ihren
Augen die Möglichkeit zur Erstschlagsfähigkeit und damit offensive
Kapazitäten verschaffen. Damit besteht die Gefahr, daß eine neue Runde des
Wettrüstens eingeläutet wird, die weltweit nicht mehr Sicherheit, sondern
Unsicherheit schafft. Das Risiko eines Nuklearkrieges wird erhöht.
- Bei einem erneuten Rüstungswettlauf werden immense wissenschaftliche und
finanzielle Ressourcen im militärischen Bereich gebunden, die für zivile
Entwicklungsperspektiven gerade der Transformationsländer nicht mehr zur
Verfügung stehen.
Bündnis 90/Die Grünen lehnen daher ein Aufrüstungsprogramm wie die
Aufstellung einer Raketenabwehr ab und setzen sich stattdessen für eine
Stärkung der auf Prävention ausgerichteten rüstungskontrollpolitischen
Mechanismen ein.
Deutsche und europäische Politik sollte sich an der 1999 von den Vereinten
Nationen angenom-menen Resolution zur "Verhütung eines Wettrüstens im
Weltraum" orientieren und sich um einen institutionalisierten Dialog
zwischen denjenigen Staaten bemühen, die über Massenvernichtungs-waffen
verfügen.
Möglichem "Nuklearterrorismus" oder auch Bedrohungen durch sogenannte
Problemstaaten wie Nordkorea oder Irak, Iran, Syrien oder Libyen kann man
nicht durch Raketenabwehrprogramme entgegenwirken. Es bedarf vielmehr
diplomatischer Bemühungen um solche Staaten. Eine europäische Initiative
sollte dazu auf diese Länder ausgerichtet werden. Im Rahmen der Außen- und
Sicherheitspolitik der EU sollte hierfür ein institutionalisierter Dialog
eingeleitet werden. Durch attraktive Kooperationsangebote im Bereich ziviler
Technologieentwicklung auf europäischer Ebene, durch Wirtschaftshilfe und
einen Ausbau der Handelsbeziehungen bei gleichzeitigem Verzicht auf
Weiterentwicklung von Massenvernichtungsmitteln könnten unter Beachtung der
Standrads unse-rer Menschenrechtspolitik Anreize geschaffen werden.
Ein solches Vorgehen bietet Vorteile gegenüber einem Politikansatz, der auf
technische Lösungen und die Überlegenheit der Waffen setzt. Wir setzen auf
nicht-militärische Kooperation und Einbindung anstelle von Unilateralismus
und Ausgrenzung. Wir setzen auf den Ausbau präventiver Sys-teme zur
Begrenzung gefährlicher Rüstungstrends auf der Erde und im Weltraum, anstatt
Aufrüs-tung zu forcieren.
Schon in der Reagan-Ära, beim Entwurf des SDI-Programms wurde behauptet, die
militärische Forschung lasse einen "Spin-off"-Effekt für den zivilen Bereich
erwarten. Wir möchten diesen Argumenten entschieden entgegentreten. Diese
Erwartungen erfüllten sich nicht und widersprechen allen Erkenntnissen der
Friedensforschung. Militärische Programme verpflichten zur Geheimhal-tung
und behindern einen schnellen Marktzugang. Motor der technologischen
Innovation ist seit langem die zivile Industrie und nicht die
Militärtechnologie. Sie ist viel zu spezialisiert und daher für zivile
Entwicklungen eher hinderlich. Im Falle einer Kooperation sind allenfalls
einige hundert Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie, aber keine
technologischen Neuerungen zu erwarten, die dem zivilen Markt zugute kommen
könnten. Die Forschungsmittel, die dadurch gebunden würden, sind in zivilen
Direktentwicklungen besser angelegt, als über den Umweg militärischer
Hochtechnologie.
Im Zuge veränderter Kräfteverhältnisse im amerikanischen Senat ist auch in
den Vereinigten Staaten eine kritischere Diskussion über die Ziele, Risiken
und Kosten einer Raketenabwehr zu erwarten. Auch dort regen sich Stimmen,
die eine Vermehrung der Sicherheit durch ein Raketenabwehrprogramm ernsthaft
in Zweifel ziehen. Diese politischen Kräfte müssen die Europäischen Staaten
mit einer gemeinsamen Position zu stärken versuchen.
Für eine Raketenabwehr welcher Art auch immer einzutreten, bedeutet, sich
auf die amerikanische Abschreckungslogik und Unverwundbarkeitsvorstellung
einzulassen, ohne überhaupt dargelegt zu haben, von wem eine Bedrohung
ausgeht und was mit welchen Mitteln geschützt werden soll. Vordringlich
müssen die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen und die Konsequenzen für
die internationalen Beziehungen von europäischer Seite geklärt werden. Dies
muß notfalls auch in Abweichung und kritischer Distanz zu amerikanischen
Sichtweisen geschehen. Die derzeitige Debatte hat dies nicht geleistet. Die
öffentliche Diskussion um Unverwundbarkeit und Machbarkeit der Abschreckung
könnte vielmehr dazu beitragen, Bedrohungen erst zu schaffen, gegen die man
sich zu wappnen vorgibt.
Bündnis 90/ Die Grünen lehnen das Raketenabwehrsystem entschieden ab. Wir
unterstützen die Bundesregierung in diesem Sinne ihre diplomatischen
Anstrengungen auch vor dem Hintergrund der neuen Situation in Washington zu
intensivieren. Der Raketenabwehrvertrag von 1972 darf nur zugunsten eines
neuen Rahmenvertrages im Einvernehmen mit den bisherigen Signatarstaaten
ersetzt werden.
Zu weiteren Beiträgen zum Thema Raketenabwehr, ABM-Vertrag und Verwandtes
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