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US-Raketenabwehr: Gesinnungswandel in der Bundesregierung?

Während Südkorea die russischen Bedenken teilt, signalisiert Berlin einen Kurswechsel

Der russische Präsident Wladimir Putin hat am Ende seines zweitägigen Besuchs in Südkorea einen neuen Verbündeten gegen den geplanten amerikanischen Raketenschild NMD gefunden", meldet der österreichische "Standard" am 1. März 2001. Das Ergebnis von Putins Visite in dem westlich orientierten Teil der geteilten koreanischen Halbinsel ist in der Tat Aufsehen erregend. Wagt doch die Regierung eines Landes, das seit dem Ende des Korea-Kriegs vor 48 Jahren ein getreuer Vasall US-amerikanischer war, seinem Schutzpatron und großen Bruder offen zu widersprechen, und zwar in einer Angelegenheit, die für die USA von besonderer Wichtigkeit ist. In einer gemeinsamen Abschlusserklärung zwischen Putin und dem südkoreanischen Präsidenten und Friedensnobelpreisträger Kim Dae Jung jedenfalls bezeichnen beide Politiker den sowjetisch-amerikanischen ABM-Vertrag von 1972 zur Begrenzung von Raketenabewehrsystemen als "Fundament der strategischen Stabilität" und Grundlage für die Abrüstung von Atomwaffen und deren Nichtweiterverbreitung. Der von der US-Administration geplante US-Raketenabewehrschirm NMD stelle eine Verletzung des ABM-Vertrags dar.

Nun ist es nicht so, dass dieser Standpunkt des südkoreanischen Präsidenten vom ganzen Volk geteilt würde. Für den Geschmack der konservativen Kräfte in Wirtschaft, Politik und Publizistik Südkoreas schoss Kim Dae Jung weit über das Ziel hinaus, mit Russland bessere Beziehungen zu pflegen. Dies dürfe eben nicht auf Kosten der sehr guten Beziehungen zu den USA gehen. Die konservative Zeitung Chosun Ilbo kommentierte das herzliche Einvernehmen der beiden Präsidenten ablehnend: "Frieden auf der koreanischen Halbinsel kann nicht durch eine koreanisch-russische Zusammenarbeit erreicht werden." Basta!

Von "Basta!" kommen wir direkt auf den deutschen Kanzler Gerhard Schröder. Von Wolfgang Schlupp-Hauck erhielten wir ein e-mail mit einer hochinteressanten und -brisanten Meldung des Senders N24. Auf dessen Homepage konnte man folgende Informationen aus einem Interview mit Gerhard Schröder vom 28. Februar 2001 entnehmen:

Schröder sieht in der Frage des umstrittenen amerikanischen Raketenabwehrsystems NMD auch deutsche Wirtschaftsinteressen berührt. Er sei zwar gegen die Position der "Säbelrassler", aber man dürfe genauso wenig "alles als Teufelswerk ablehnen", sagte Schröder gegenüber N24. In der bisherigen Diskussion über NMD sei nicht genügend berücksichtigt worden, dass Deutschland auch ein "eminentes wirtschaftliches Interesse" an dieser Technologie habe, betonte der Bundeskanzler. Schröder unterstrich, Deutschland dürfe bei der Kenntnis der neuen Technologie "nicht außen vor bleiben". Es gehe dabei aber weniger um Profitinteressen deutscher Unternehmen, als vielmehr um die Frage, ob es neben der Teilhabe an den Risiken auch eine "Teilhabe an der Technologie" gebe.
Das deutsch-amerikanische Verhältnis sieht der Bundeskanzler durch die Diskussion um das Raketenabwehrsystem nicht berührt. Die Beziehungen zwischen beiden Staaten seien so gefestigt, "da kann man auch mal sagen, das sehen wir differenzierter als ihr", sagte Schröder. Bei seinem bevorstehenden Treffen mit US-Präsident George W. Bush werde es in erster Linie um ein persönliches Kennenlernen gehen.

Die Bundesregierung reagierte, wie man in einem solchen Fall zu reagieren pflegt: mit einem Dementi. Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye sagte noch am selben Tag, die Äußerungen Schröders lägen "im Bereich dessen" was der Kanzler bisher zu NMD erklärt habe. "Hier ist mitnichten ein Kurswechsel, sondern Kontinuität zu konstatieren." Dass dennoch etwas daran sein muss am "Kurswechsel", zeigen die weiteren Äußerungen von Heye. "Es ist was in Bewegung, das ist im Interesse der Bundesregierung." Was oder wer bewegt sich da. Etwa die Bundesregierung? Denn die US-Administration zeigt keinerleit Bereitschaft, von ihrer klaren Haltung pro NMD abzurücken. Heye sagt weiter, "offen" sei noch, ob das Programm NMD "technisch zu bewältigen" sei und ob es ein rein nationales oder ein internationales System werden solle. - Na also: Es geht nicht mehr um die Frtage des Ob, sondern nur noch um die Frage des Wie bzw. um die Frage: Wer darf mitmachen?

Die Süddeutsche Zeitung (01. 03. 2001) kommentierte denn auch diesen Gesinnungswandel von der verhaltenen Kritik (noch vor einem halben Jahr) bis zur verhaltenen Zustimmung (Münchner Sicherheitskonferenz Anfang Februar 2001, Fischers Unterwerfungsbesuch bei Powell im Februar 2001) mit ironischem Unterton:


"Wenn Gerhard Schröder, vielleicht im Karneval, einmal in eine Roille wider sein politisches Naturell schlüpfen wollte, dann könnte er sich auf einen Besen-Esel setzen und mit einer langen Lanze imaginären Windmühlenflügeln entgegenreiten. Denn nichts liegt dem Kanzler an allen anderen Tagen des Jahres ferner, als gegen das Unvermeidliche anzukämpfen. Wohlmeinende nennen das Pragmatismus, weniger Wohmeinende Prinzipienlosigkeit."

Nun habe sich der Regierungssprecher (als einer der "professionellen Interpreten") beeilt, Schröders "öffnende Äußerungen" als "Kontinuität und nicht als Kehrtwende" darzustellen. Und da die USA NMD auf jeden Fall bauen wollen, dann sei es - so Schröders Überlegung - besser, "man hat einen Fuß in der Tür, als sich selbst vor dieselbe setzen zu lassen". Der SZ-Kommentator (Kürzel: swn) fährt fort:

Teilhabe bedeutet Mitsprache und technologischen Anschluss, das ist sein (Schröders, Pst) Gedankengang. Das ist in sich stimmig, übersieht aber zweierlei: Teilhabe an rüstungspolitischem, Irrweg ist am Ende auch Mitverantwortung für rüstungspolitischen Irrweg. Und: Es gibt Themen, die man ausnahmsweise besser nicht von der ökonomischen Seite her anght. Das Raketenabwehr-Programm NMD und das internationale Sicherheitsgefüge gehören ganz sicher dazu."

So weit die Süddeutsche. Im Berliner "Tagesspiegel" (01.03.2001) fällt die Kritik an Schröder nicht viel zarter aus. Nicht um den Streit gehe es, so heißt es in einem Kommentar (unter dem Kürzel cvm), ob der Kanzler einen Meinungswandel vollzogen habe oder nicht. Sondern es wäre viel wichtiger darüber zu diskutieren, "ob Deutschland sich an den Vorarbeiten zum Aufbau einer Raketenabwehr beteiligen soll". Unter dem Gesichtspunkt der Machbarkeit und der Kosten fällt das Urteil schließlich im Tagesspiegel klar aus:

"Die Erfahrungen mit gemeinsamen Rüstungsprojekten sind da ernüchternd. Die interessanten Entwicklungsaufgaben - und damit der Know-how-Gewinn - blieben in den USA. Zahlen sollen die Europäer durch Kauf der US-dominierten Systeme. Wenn Europa fordernd auftreten will, muss es freilich auch etwas bieten: Technik, Finanzen und eine gemeinsame politische Position. Viel Erfolg, Gerhard Schröder, bei der dann unvermeidlichen Erhöhung des Wehretats!"

Und wir werden sehen, wie sich der Tagesspiegel und die Südeutsche Zeitung dereinst äußern werden, wenn es tatsächlich zum euro-amerikanischen Raketenabwehr-Deal kommen wird. Ob wir dann darüber dislutieren müssen, ob es sich bei deren Haltung um einen Gesinnungswandel oder um Kontinuität handelt? In diesem Fall hoffen wir auf die Kontinuität.
Pst


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