Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Klare Kante gegen Krieg

1914–2014: Über den Kampf gegen Militarismus aus historischer und aktueller Perspektive und die Positionierung der Partei Die Linke

Von Sevim Dagdelen *

In Vorbereitung auf die Luxemburg-Liebknecht-Ehrung und -Demonstration am kommenden Sonntag hat die Antifaschistische Linke Berlin (ALB) in dieser Woche zu mehreren Veranstaltungen eingeladen. Am Dienstag diskutierte die Linke-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen mit den Historikern Kurt Pätzold und Ralf Hoffrogge sowie Patras Bwansi (African Refugees Union) über Antimilitarismus aus historischer und aktueller Perspektive. Wir dokumentieren ihren Eingangsbeitrag.

1. Das Jahr 2014 steht im Zeichen des 100. Jahrestages des Ersten Weltkriegs und eines neuen Historikerstreits, in dem die Schuld der deutschen Eliten und des deutschen Kapitals am Kriegsausbruch relativiert wird. Ziel ist es, Hindernisse auf dem Weg zu einer imperialistischen deutschen Großmachtpolitik aus dem Weg zu räumen. Die Feuilletons der Mainstreammedien sind voll mit Versuchen, das Geschichtsbild zu revidieren. Selbst Wladimir Iljitsch Lenin muß dafür herhalten, um die Verantwortung der deutschen Eliten für den Kriegsausbruch zu relativieren. So schreibt Lorenz Jäger in der FAZ (3. Januar 2014): »Das Land hat seine Armee in Auslandseinsätze entsandt. Manche unserer Verbündeten mögen sich sogar ein verstärktes ›robustes‹ Engagement wünschen. Dies einmal vorausgesetzt, wird man dasselbe Land nicht als den Hort eines ›ewigen‹ Militarismus hinstellen können. Und so kommt in diesem Jahr Lenins alte These, der von 1914 bis 1918 sei ein ›imperialistischer‹ gewesen, bei dessen Ausbruch viele Hände und Köpfe beteiligt waren, wieder zu neuen Ehren.«

2. In erster Linie aber geht es um eine Revision der Thesen des Historikers Fritz Fischer, der faktenreich die Kriegsziele der deutschen Politik und des deutschen Kapitals untersucht hat. Fischers Thesen, gegen die in den 1960er Jahren deutsche Konservative Sturm liefen, werden heute bis hinein in die SPD und den linksliberalen Mainstream in Frage gestellt. Jetzt sollen alle Führungseliten von Großbritannien und Rußland, Frankreich und Österreich-Ungarn, Serbien und Deutschland ihren Anteil an »der großen Katastrophe des 20. Jahrhunderts« haben. Die Publizistin Cora Stephan schreibt folgerichtig dazu in der Neuen Zürcher Zeitung (27. Dezember 2013) auf die Frage nach den Folgen des Ersten Weltkriegs: »Welche Lehren soll man also ziehen? ›Nie wieder Krieg‹? Das ist ein frommer, aber kindlicher Wunsch. Militärische Gewalt ist ja nicht immer sinnlos. Und berechtigte Interessen oder die nationale Souveränität muß man auch verteidigen können.« Sie analysiert weiter: »Wieder einmal wirkt es«, sie meint Deutschland, »isoliert, unsicher, in welche Richtung es schwanken soll, unwillig, eine Rolle zu übernehmen, die es nicht ein einziges Mal gemeistert hat, nämlich wenn nicht Weltmacht, so doch zumindest Führungsmacht zu sein.«

3. Die Analysen des Historikers Fritz Fischer sind heute selbst zum Skandalon geworden. Bis zum Erscheinen seines Buches »Griff nach der Weltmacht« war die Geschichtswissenschaft in der BRD davon ausgegangen, daß Deutschland in diesen Krieg hineingeschlittert ist und es keine unmittelbare Verantwortlichkeit von dessen Politikern, Militärs oder Managern für die Auslösung des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914 gibt. Zudem bestünde kein direkter Zusammenhang zwischen dem Krieg und der »Weltpolitik« des Kaiserreichs, hieß es. Fischer aber stellte dieser Relativierung den Verweis u.a. auf das Septemberprogramm des deutschen Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg entgegen, in dem am 9. September 1914 unmißverständlich aggressive expansionistische deutsche Kriegsziele formuliert wurden. Fischer stellte auch klar, daß es sich nicht nur um Überlegungen des Reichskanzlers handelte: »Einmal stellte das Programm keine isolierten Forderungen des Kanzlers dar, sondern repräsentierte Ideen führender Köpfe der Wirtschaft, Politik und des Militärs. Zum anderen waren (…) die in dem Programm niedergelegten Richtlinien im Prinzip Grundlage der gesamten deutschen Kriegszielpolitik bis zum Ende des Krieges, wenn sich auch je aus der Gesamtlage einzelne Modifikationen ergaben.« Die geopolitische Kernbotschaft des Septemberprogramms zur Errichtung einer deutschen Hegemonie in Europa lautet: »Sicherung des Deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit. Zu diesem Zweck muß Frankreich so geschwächt werden, daß es als Großmacht nicht neu erstehen kann, Rußland von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden.«

Es geht im neuen Historikerstreit 2014 um eine Reetablierung einer deutschen imperialistischen und militaristischen Politik. So wird das Buch des australischen Historikers Christopher Clark »Die Schlafwandler«, das die Verantwortung für den Kriegsausbruch in Europa gleichmäßig verteilt, viel gelobt. Europaparlamentspräsident Martin Schulz (SPD) empfahl es jüngst dem deutschen Fernsehpublikum ausdrücklich zur Lektüre.

4. Gegen die Indienstnahme von Lenin und anderen Linken zur Relativierung der Verantwortung der deutschen Eliten für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs sei an Karl Liebknecht erinnert. In einer persönlichen Erklärung im Reichstag begründete er am 2. Dezember 1914 sein Nein zu den Kriegskrediten: »Dieser Krieg, den keines der beteiligten Völker selbst gewollt hat, ist nicht für die Wohlfahrt des deutschen oder eines anderen Volkes entbrannt. Es handelt sich um einen imperialistischen Krieg, einen Krieg um die kapitalistische Beherrschung des Weltmarktes, um die politische Beherrschung wichtiger Siedelungsgebiete für das Industrie- und Bankkapital.«

5. Hundert Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird wieder ganz offen ein imperialistischer und militaristischer Großmachtanspruch in Deutschland formuliert. Die beiden hervorstechendsten Dokumente der jüngsten Zeit sind die Stellungnahme des regierungsnahen Thinktanks »Stiftung Wissenschaft und Politik« (SWP) »Neue Macht. Neue Verantwortung« und der Vertrag der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD. Dieser globale Machtanspruch kann aber nur eingelöst werden, wenn man sich auf verläßliche Partner stützen kann, die mithelfen beim Aufstieg zur Weltordnungsmacht. Dabei werden die Feinde dieses Weltordnungsanspruchs von der SWP klar benannt. Sie werden in einem eignen Schaubild, das Deutschlands Verhältnis zu den Staaten der Welt charakterisiert, dargestellt. Kuba und Venezuela sind hier ausdrücklich als »Störer« gebrandmarkt. Aber auch Rußland und China gelten als »Herausforderer« der Weltordnungsmacht.

6. Die Linke muß sich angesichts dieser Herausforderung klar antiimperialistisch und internationalistisch positionieren. Diese Frage ist eine entscheidende für den Fortbestand der Linken. Entweder die Partei wird antiimperialistisch sein, oder sie wird nicht sein. Konkret heißt das, sich als Bewegung in einem mächtigen EU- und NATO-Staat zuallererst gegen den westlichen Interventionismus zu stellen. Das bedeutet, daß wir uns nicht nur einer Militarisierung der EU entgegenstellen, sondern auch den Austritt aus den militärischen Strukturen der NATO mit dem Ziel ihrer Auflösung fordern müssen. Denn eine Mitgliedschaft in den NATO-Militärstrukturen stärkt die Interventions- und Kriegsfähigkeit Deutschlands.

7. Eine Lehre aus den Weltkriegen ist nicht nur, sich Auslandseinsätzen der Bundeswehr zu verweigern. Die Linke muß den beständigen Lügen entgegenwirken, mit denen neue Kriege vorbereitet werden. Allzu oft haben sich Kriegsvorwände hinterher als pure Lügen herausgestellt. Zur Verhinderung solcher Kriegslügen gehört auch die Unterstützung für Whistleblower, die unter Einsatz ihres Lebens und ihrer Freiheit Informationen über die westliche Kriegsführung öffentlich machen.

8. Die Linke muß klar Kante zeigen und öffentlich machen, wohin Deutschland, die EU und die NATO Waffen liefern, wo sie Militärs und Polizeikräfte für wen aufbauen und unterstützen und welche Rolle westliche Geheimdienste in Bürgerkriegen spielen. Es gilt, für ein Verbot aller Waffenexporte, die Beendigung aller Ausbildungs- und Ausstattungshilfe und die Auflösung auch des Auslandsgeheimdienstes zu streiten. Zugleich müssen wir größere Transparenz und demokratische Kontrolle einfordern. Erst das ermöglicht es, der imperialistischen Politik ernsthaft Steine in den Weg zu legen und die Öffentlichkeit zu informieren, welch unmoralische Politik da im Namen von Demokratie und Menschenrechten vollzogen wird.

9. Die Linke hat eine große Verantwortung, klare Kante gegen den militärisch agierenden deutschen Imperialismus zu zeigen. Gerade in der Europa- und der Außenpolitik muß sie gegen alle anderen Fraktionen, auch und besonders gegen die Hauptkonkurrenten SPD und Grüne, im Bundestag die Zähne zeigen. Wer meint, durch ständige Konzessionszusagen an SPD und Grüne die eigene Partei profilieren zu können, indem er etwa andeutet, man meine es nicht so ernst mit einer friedlichen Außenpolitik, arbeitet am Untergang der Linken.

* Aus: junge Welt, Freitag, 10. Januar 2014


Zurück zur 1. Weltkriegs-Seite

Zur Parteien-Seite (Beiträge ab 2014)

Zur Parteien-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Friedensbewegungs-Seite

Zur Friedensbewegungs-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage