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Ein radikaler Demokrat

Porträt. Helmut Ridder zum 90. Geburtstag

Von Peter Römer *

Helmut Ridder war ein homo politicus, ein Politiker war er nicht. Er verstand sich als »politischer Wissenschaftler« mit dem Schwerpunkt Rechtswissenschaft. Er ergriff oft und entschieden Partei, aber einer Partei gehörte er nicht an. Er war als Wissenschaftler und Publizist staunenswert originell und produktiv, in kritische, systemtheoretische oder postmoderne elfenbeinerne Theorie-Turmbauten zog er sich jedoch nicht zurück. Er setzte sich für die Wiederzulassung der KPD und die Aufhebung des KPD-Verbots ein, aber ein Kommunist war er nicht, auch kein Sozialist, obwohl er den demokratischen Gesetzgeber als befugt ansah, die Eigentumsordnung zu gestalten und grundlegend zu verändern. Er war ein geistreicher, beeindruckender Redner, der aufklären und zu vernunftgeleitetem Handeln ermutigen und anleiten wollte, ein Agitator war er nicht.

Helmut Ridder verband Wahrheitssuche und wissenschaftliche Unbestechlichkeit mit wissenschaftlichem und politischem Engagement und war stets bereit, denen zu helfen und beizustehen, deren Arbeit zu fördern er als notwendig erachtete. Er hat engagiert gearbeitet im Bund demokratischer Wissenschaftler und im Krefelder Forum »Der Atomtod bedroht uns alle«, in der Konferenz Europäischer Katholiken, im Kuratorium »Notstand der Demokratie«, und langjährig und intensiv hat er in der Deutsch-polnischen Gesellschaft der BRD gewirkt.

Er war Mitbegründer, Mitherausgeber und Redakteur mehrerer wissenschaftlicher Zeitschriften.

Demokratische Gesamtverfassung

Mit seinen zahlreichen wissenschaftlichen Schriften – das Gesamtwerk wurde inzwischen von Friedrich-Martin Balzer auf CD-ROM erfaßt –,[1] mit seinen Vorträgen und nicht zuletzt mit seinen vielfältigen organisierenden politischen und wissenschaftlichen Aktivitäten verfolgte Ridder vor allem ein Ziel: die Verwirklichung der Demokratie. Demokratie war für ihn kein Wagnis; schon der Ursozialdemokrat Bruno Kreisky bemerkte zu dem Wahlspruch Willy Brandts »Mehr Demokratie wagen« süffisant, für ihn stelle die Demokratie eigentlich kein Wagnis dar. Für Helmut Ridder auch nicht.

Ridder hat keine historischen oder rechtswissenschaftlichen Abhandlungen zum Begriff der Demokratie, ihrem Wesen und ihrem Wert geschrieben. Als monographisches Werk existiert nur eine schmale Schrift zum Grundgesetz.[2] Er war der Meister der kleinen Form.

Grundlegend für das Demokratie- und Verfassungsverständnis Ridders ist der Begriff der »demokratischen Gesamtverfassung«. Staat und Gesellschaft dürfen in der Demokratie nicht voneinander getrennt werden mit je eigenen Rechtssphären des öffentlichen und des privaten Rechts, wobei letztere Sphäre als das wahre Eden der Freiheitsrechte verstanden wird, deren Kern die Freiheit des Eigentums und des Eigentümers ist. Staat und Gesellschaft müssen selbstverständlich unterschieden werden, vor allem, weil nur der Staat befugt ist, allgemein verbindliche Rechtsnormen zu setzen und sie gegebenenfalls mittels Sanktionen, zu denen auch die Anwendung physischer Gewalt gehört, durchzusetzen.

Dem überkommenen Trennungsdenken muß schon der Titel der Ridderschen Schrift »Die soziale Ordnung des Grundgesetzes« reichlich verquer und problematisch vorkommen. Bezieht sich doch das Grundgesetz, dem noch immer vorherrschenden Verständnis nach, auf die politische Ordnung, vor allem also auf die Staatsorganisation und die politischen Rechte des einzelnen gegenüber dem Staat und nicht auf die soziale, die gesellschaftliche Ordnung. Die gesellschaftliche Ordnung insgesamt und insbesondere die der Wirtschaft soll sich – allseits dereguliert und vollkommen durchprivatisiert – weitestgehend selbst regulieren und eigentlich überhaupt keine Ordnung haben und jedenfalls keine vom demokratischen Verfassungsrecht normierte. So fordert es die marktradikale fundamentalistische Ideologie, die nach wie vor nicht müde wird, diese Forderung mit den immer gleichen und immer gleich unrichtigen Argumenten zu wiederholen.

Für Ridder ist Demokratie »das Selbstbestimmungsverfahren, das konkret die Freiheit der Menschen in ihrer konkreten Befindlichkeit, nämlich der gesellschaftlichen, bewirkt«.[3] Ridders Grundüberzeugung war, daß z. B. die soziale Befindlichkeit einer Sozialhilfebezieherin nicht nur ein sozialstaatliches Problem ist, sondern auch ein demokratisches, weil die Überwindung von gesellschaftlichen Verhältnissen, die Armut und die damit verbundenen extremen Formen der Fremdbestimmung hervorbringen, nur gelingen kann durch Aktionen, die Staat und Gesellschaft als Einheit umfassen und die sich an den Vorgaben einer demokratischen Gesamtverfassung ausrichten.

Die Staatsgewalt geht vom Volk aus

Historisch hatte das Trennungsdenken seine reale Grundlage in der Tatsache, daß in der Monarchie eine demokratische Gesamtverfassung nicht existieren konnte, weil die Exekutive nicht demokratisch gewählt und organisiert war, sondern dem Kaiser durch Erbgang übertragen wurde. Die Staatsgewalt, dargestellt durch den Monarchen, besteht danach vor der Verfassung. Der Rechtsstaat schränkt die präexistente monarchische Gewalt ein, denn der Rechtsstaat soll das Gegenteil von Macht- und Polizeistaat sein. Der Vorbehalt des Gesetzes für die Eingriffe der Exekutive in Freiheit und Eigentum bezeichnete die Grenze zwischen dem Obrigkeitsstaat und der bürgerlichen Gesellschaft der Privateigentümer, die dieses geschützten Bereichs bedarf, weil sie die politische Macht im Staat zu erobern nicht in der Lage war. So formulieren Ridder und Richard Bäumlin: Es »wird der deutsche Rechtsstaat zur Restforderung resignierter (und/oder ›realistischer‹) Liberaler, die mit ihren ursprünglich weitergehenden politischen Forderungen gescheitert sind«.[4]

Nach der Abschaffung der Monarchie, der Einführung des parlamentarischen Regierungssystems und der Durchsetzung des Demokratieprinzips wurde der Staat zum Staat der Gesellschaft. Nach Ridder mußte dies zu wesentlichen Änderungen des überkommenen Begriffs des Rechtsstaats führen. Für eine demokratische Staatslehre war das Trennungsdenken in all seinen Ausformungen in der Wurzel getroffen. Wenn alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht, kann es keine abgesondert existierenden Staatsgewalten geben, und an die Stelle der Gewaltentrennung tritt die Gewaltenunterscheidung; auch das Verhältnis von privatem und öffentlichem, von subjektivem und objektivem Recht mußte demokratietheoretisch neu durchdacht werden, ebenso das gesamte Eingriffs- und Schrankendenken im Hinblick auf die Geltung der Grundrechte.

Sowohl in der Weimarer Republik als auch in der Bundesrepublik wurde nur allmählich und vereinzelt das überkommene Rechtsstaatsverständnis in Frage gestellt; Ridder verfolgte und kritisierte das Fortwirken der demokratiefeindlichen und/oder demokratiefremden Rechtslehre bis in ihre feinsten dogmatischen Verästelungen. Das zähe Fortwirken eines nicht demokratisch gereinigten Rechtsstaatsbegriffs – der in der gegenwärtigen politischen Rhetorik, meist mit dem nicht unproblematischen Zusatz »freiheitlicher« statt demokratischer Rechtsstaat die politische Semantik dirigiert – hat seine Ursachen im Wandel der Gesellschaft.

Einschränkung der Demokratie

Die bürgerliche Gesellschaft zeigte und zeigt sich in immer stärkerem Maße als eine Gesellschaft von Eigentümern und Nichteigentümern, als Klassengesellschaft. Als diese Klasse der Nichteigentümer ihre eigenen politischen Parteien und Institutionen hervorbrachte, entstand für die Privateigentümer die Gefahr, daß die vom monarchischen Staat freigegebene und geschützte Sphäre des kapitalistischen Privateigentums nunmehr nicht durch die Exekutive, sondern durch das Parlament und die in ihm vertretenen nichtbürgerlichen Parteien gefährdet werden könnte. Da kam dann bald die Polemik gegen den »Parlamentsabsolutismus« und die »Mehrheitsdiktatur« und die »Normenflut« auf. Diese Bestrebungen liefen und laufen darauf hinaus, »die staatsbürgerliche Emanzipation des Volkes, das seit der Einführung des Parlamentarismus im Jahre 1918 anstelle des Bürgertums zum Veranstalter des ›Staats‹ bestellt wurde«,[5] zurückzudrängen.

Die Hauptfunktion der Theorie der Trennung von Staat und Gesellschaft war, die Wirtschaftsordnung und deren harten Kern, das Privateigentum an den Produktionsmitteln, dem gestaltenden Zugriff des Staats, in erster Linie des staatlichen Gesetzgebers zu entziehen. Der Bundesgerichtshof befand, im Einklang mit der herrschenden wissenschaftlichen Lehre, der einzelne bedürfe um seiner Freiheit und seiner Würde willen einer rechtlich streng gesicherten Sphäre des Privateigentums; Geld wurde als »geprägte Freiheit« bezeichnet. Dergleichen rechtsphilosophische und naturrechtliche Ideologien von der Notwendigkeit des Privateigentums an den Produktionsmitteln wirkten auch ein auf die Auslegung der Normen des Grundgesetzes zur Eigentums- und Wirtschaftsordnung.

Ridder insistiert darauf, daß die sogenannte Sozialstaatsklausel des Artikels 20 Absatz 1 des Grundgesetzes ein Sozialstaatsgebot normiert; das Grundgesetz enthält nicht, im Unterschied zu zahlreichen Landesverfassungen und auch zur Weimarer Reichsverfassung, eine Fülle von sozialstaatlichen Verfassungsinstitutionen, wohl aber ein »generelles Gebot ›sozialer‹ (= gesellschaftlicher) Staatlichkeit«.[6] Dieses Gebot enthält gewiß auch das der Demokratisierung der Wirtschaft, z.B. durch Mitbestimmung der abhängig Beschäftigten im Betrieb und Unternehmen, es ist aber viel umfassender; es gebietet dem Staat, den gesellschaftlichen, den sozialen, den wirtschaftlichen Bereich planend zu regeln und zu ordnen mit dem Ziel, demokratische Selbstbestimmung und soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen.

Das Sozialstaatsgebot wirkt nicht nur durch den Staat auf den gesellschaftlichen Bereich ein, sondern gebietet auch unmittelbar die soziale und demokratische Ausrichtung der gesellschaftlichen Verhältnisse. »Artikel 20 Absatz1 proklamiert und postuliert mit dem sowohl ›demokratischen‹ als auch ›sozialen‹ Staat die gleichschrittliche Entfaltung von Demokratie in der ›staatlichen‹ und in der ›gesellschaftlichen‹ Sphäre, die beide unter der sie ordnenden Verfassung stehen.«[7]

Das Riddersche Verständnis von der Gesamtverfassung prägt auch seine Kritik an der Auslegung der Grundrechte durch die herrschende Lehre und Rechtsprechung, insbesondere der wirtschaftlichen Grundrechte zur Berufsfreiheit, zur Gewährleistung des Eigentums und zur Sozialisierungsermächtigung des Artikels 15. Dieser wird von Ridder ausgedeutet als Ermächtigung zur Entprivatisierung; in bezug auf die Arbeit bedeutet dies »Freistellung vom Kapital« und »Selbstbestimmung der Arbeit«.[8] Was Ridder in diesem Zusammenhang bereits 1975 zu möglichen Privatisierungen ausführt, ist gerade aus der Rückschau heraus lesenswert und zeigt das erstaunliche, auch anderwärts bewiesene Gespür Ridders für Entwicklungstendenzen. So benannte er die möglichen Privatisierungsfelder und sagte voraus, der vom Druck des »alten Staats« befreite Staatsbürger könnte endlich befreit aufatmen – »und lernen, was zahlen wirklich heißt«.[9]

Antirevolutionärer Rechtsstaat

Alle rechtsstaatlichen Normen dienen nach Ridder der Freiheit zur Selbstbestimmung des einzelnen; sie sind nicht Rechte gegen den Staat, sie begründen und schaffen keinen aus der staatlichen Gewalt ausgegrenzten Bereich wie das überkommene Trennungsdenken postuliert. Der ideologischen Aufrüstung des Rechtsstaats zum freiheitlichen privat- und marktwirtschaftlichen Bollwerk gegen die demokratische Gesellschaft und ihren Staat gilt Ridders besondere Aufmerksamkeit und perennierender Ingrimm. In der Festschrift für Hermann Klenner, dem führenden Rechtstheoretiker der DDR, faßte er seine Kritik unter dem Titel »Die neueren Entwicklungen des ›Rechtsstaats‹« zusammen und sieht in der »Rechtsstaatsidee immer noch ein ideologisches Agens antirevolutionärer juristischer Veranstaltungen« (gesperrt – H. R.).[10] Nicht, daß Ridder eine revolutionäre Situation als gegeben angesehen hätte, aber er beobachtet eine tiefe Verunsicherung des Bürgertums. Es sieht nicht so aus, als sei mit dem Sieg des Kapitals nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten diese Verunsicherung geringer geworden; jedenfalls geht die Aufrüstung der Institutionen der inneren Sicherheit zügig voran, und die private und staatliche Überwachung und Reglementierung der Bürger nimmt zu; die gegenwärtige Krise wird die Sicherheitsbedürfnisse der Produktionsmittelbesitzer weiter steigern. Keine erfreulichen Aussichten für Demokratie und Grundrechte.

Als Krönung des Rechtsstaats wird häufig die Bundesverfassungsgerichtsbarkeit bezeichnet; in ihrer Ausgestaltung ist sie ein typisch bundesrepublikanisches Phänomen. Bereits durch das Grundgesetz mit großer Kompetenzfülle ausgestattet, hat das Bundesverfassungsgericht seine Befugnisse unter fast allgemeiner politischer Zustimmung erheblich ausgeweitet und übt, auch wenn dies von seinen Verehrern immer wieder bestritten wird, Funktionen eines Superrevisionsgerichts, eines Übergesetzgebers und sogar eines Extraverfassungsgesetzgebers aus. Verständlicherweise sieht der Demokrat Ridder in ihr eine »undemokratische Einrichtung« [11] ein »politisches Super-Organ« [12], dessen Funktion es ist, »so viel neues Recht zu kreieren, wie die Verhältnisse es erfordern und so viel positiviertes Recht übrigzulassen, wie die Verhältnisse gestatten«.[13]

Mit seinem Beitrag zur Festschrift Klenner hoffte Ridder »auch einen fruchtbaren ›Positivismusstreit‹ auf die nächsthöhere Stufe befördern zu können«.[14] Bereits elf Jahre zuvor hatte Ridder sich mit Klenners Kritik an dem vielfach als »Juristen des Jahrhunderts« bezeichneten Schöpfer der »Reinen Rechtslehre«, Hans Kelsen, auseinandergesetzt. Und zwar wiederum in einer Festschrift für einen bedeutenden marxistischen Rechtswissenschaftler und Rechtspraktiker, dem österreichischen Widerstandskämpfer, Mitglied der KPÖ und Professor an der Humboldt-Universität Eduard Rabofsky. Die einleitenden Sätze dieses Beitrags sollen in einem etwas längeren Zitat wiedergegeben werden, um ein Beispiel für den geistreichen und witzigen Stil Ridders zu geben und zur Lektüre seiner Schriften anzuregen, die oft genug zum Erkenntnisgewinn den Lustgewinn hinzufügen; allerdings hat – man wird sagen können: leider – die Neigung Ridders zur artifiziellen, kühnen Satzarchitektur gelegentlich auch die Kenntnisnahme seiner Texte unnötig erschwert. »Man soll bekanntlich das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, worauf die Empfehlung hinaus will, ist ebenfalls bekannt und auch unbestritten: Es geht um das Wohl des Kindes, das vor den mißlichen Folgen des kombinierten Verfahrens bewahrt bleiben soll. Unbefangener Reflexion kann daher nicht entgehen, daß von den verbleibenden einfachen Schüttalternativen auch das Ausschütten des Kindes allein ungeeignet ist, die schädliche Wirkung des kombinierten Verfahrens auch nur zu mildern – im Gegenteil. Es muß also wohl mit der notwendigen Unbefangenheit hapern, wenn dermaßen robust verfahren wird. Mit einem solchen Befund sind wir konfrontiert, wenn wir die Walstatt inspizieren, auf der die nicht enden wollende säkulare Vernichtungsschlacht riesiger systemübergreifender Koalitionsarmeen gegen den angeblich immer wiederkehrenden ›juristischen Positivismus‹ tobt.«[15] Ridder kritisierte die Reine Rechtslehre, weil diese das Recht rein aus sich heraus zu verstehen versuchte, aber er kritisierte Klenner, denn das Kindlein »juristischer Positivismus« – ein »unschuldiges, schätzens- und schützenswertes Opfer«[16] – gilt es zu pflegen und in trockene Tücher zu hüllen. Es geht letztlich darum, »den Wirkungszusammenhang rechtsnihilistischer Kräfte und Tendenzen«[17] zu durchbrechen und die Gesetzesauslegung am Wortlaut der Rechtsnorm zu orientieren, und nicht an irgendwelchen Werten und ausgewählten Wirklichkeitselementen. In einer Demokratie ist eine demokratische Auslegung eine positivistische, ist eine Auslegung, die den im Gesetz ausgedrückten Willen des demokratischen Gesetzgebers respektiert, denn wie Ridder den russischen Rechtstheoretiker W. A. Tumanow zustimmend zitiert, das Gesetz ist eine vollkommenere Rechtsform im Vergleich zur Gewohnheit, zum Präzedenzfall und zur Gerichtspraxis.

Ridder hat nicht von Beginn seiner wissenschaftlichen Tätigkeit an diese am Normtext sich orientierende Auslegungsmethode angewandt.

Die gestohlene Revolution

Seine frühen Beiträge zur Eigentumsgarantie des Grundgesetzes und zur Sozialisierungsermächtigung – die den scharfen Widerspruch von Wolfgang Abendroth fanden – sowie zur Meinungsfreiheit widersprachen seinen späteren Erkenntnissen.

Nach 1989 hat Ridder in zahlreichen Beiträgen mit zunehmender Schärfe – nicht zuletzt gegen ein linkes »Völkchen«,[18] das sich an diversen Runden Tischen versammelte – und nicht ohne Bitterkeit zu den Fragen der Vereinigung beider deutscher Staaten seine Thesen dargelegt. Völlig allein auf theoretischer Flur argumentierte er, es komme weder ein Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gemäß Artikel 23 GG (oder gar die seltsame Konstruktion eines Beitritts zum »Geltungsbereich des Grundgesetzes«), noch eine Volksabstimmung nach Artikel 146 GG in Frage. Vielmehr sei ein neuer deutscher Staat, eine neue demokratische Republik durch das gesamtdeutsche Volk zu konstituieren. Er ging davon aus, was bekanntlich nicht unumstritten ist, es habe in der DDR eine Revolution stattgefunden und zwar eine friedliche mit demokratischem Potential für Gesamtdeutschland. Ridder sah in dieser Revolution einen neuen Anlauf für die immer wieder erstickte Revolution des deutschen Volkes. Diese Revolution sei, ein einmaliger Fall in der Völkerrechtsgeschichte, dem Volk der DDR gestohlen worden.[19]

Ein neuer Staat hätte die Möglichkeit gehabt, sich zum erstenmal in der deutschen Geschichte als ein demokratischer Staat auszubilden, der nicht wie alle vorhergehenden Staaten, einschließlich der Weimarer Republik,[20] die Demokratie bekämpft oder verfehlt. Ein solch neuer Staat, der selbstverständlich nicht mit dem – angeblich bis heute (denn eine Todesurkunde wurde nie ausgefertigt) – nicht untergegangenen Deutschen Reich identisch sein konnte, hätte auch die Folgen des deutschen Angriffskrieges aufarbeiten können, insbesondere durch einen Friedensvertrag mit Polen. Die entschiedene Verweigerung eines solchen Friedensvertrags durch die BRD kritisierte Ridder scharf und sah voraus, daß daraus eine Fülle von Schwierigkeiten im Verhältnis zu Polen erwachsen würde. Die Tatsache, daß Erika Steinbach vom Bund der Vertriebenen ein Haßobjekt (»blonde Bestie«) der Mehrheit des polnischen Volkes und seiner führenden Schichten werden konnte, zeigt, wie notwendig die von Ridder geforderte »Sehfahrt« not tat und not tut.[21]

Aber ein prächtiger Überblick von der Höhe des Mastes aus, ein gut geschliffenes Glas und ein scharfes Auge nützen nichts, wenn gerade die vom Sehfahrer selbst ausgebildeten Leichtmatrosen wie z.B. der Außenminister Frank-Walter Steinmeier oder die Justizministerin Brigitte Zypries den Agenda-Kurs mit 20 Strich 10 bestimmen und voll auf die hochgefährlichen Klippen des Neoliberalismus zusteuern, nachdem sie zuvor die Planken der Rettungsboote zum Ausschmücken der Luxuskabinen der Offiziere verwandt haben.

So wird verständlich, daß nach 1997 Ridder, der unermüdlich Tätige und Schreibende, bis zu seinem Tod 2007 fast nichts mehr veröffentlichte.

Fußnoten
  1. Helmut Ridder: Das Gesamtwerk, hg. von Friedrich-Martin Balzer, CD-ROM, Bonn 2009. Im Herbst sollen im Nomos Verlag »Gesammelte Schriften« von Ridder erscheinen.
  2. H. Ridder: Die soziale Ordnung des Grundgesetzes. Leitfaden zu den Grundrechten einer demokratischen Verfassung, Opladen 1975
  3. Ebd., S. 60
  4. H. Ridder/R. Bäumlin: Rechtsstaat, in: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Band 1, Neuwied 1984, Artikel 20 1–3 III, Anm. 15, S. 1 300
  5. H. Ridder: Ordnung, S. 37
  6. Ebd., S. 47
  7. Ebd., S. 48
  8. Ebd., S. 104
  9. Ebd., S. 103
  10. H. Ridder: Die neueren Entwicklungen des »Rechtsstaats«, in: K. H. Schöneburg (Hg.), Wahrheit und Wahrhaftigkeit in der Rechtsphilosophie, Berlin 1987, S. 132
  11. H. Ridder: Rechtsstaat, S. 128
  12. Ebd., S. 134
  13. Ebd., S. 133
  14. Ebd., S. 116
  15. H. Ridder: Negativkonvergenzen? Polemisches zum selektiven Anti-Positivismus, in: J. J. Hagen/P. Römer/W. Seiffert (Hg.): Rechtswissenschaft und Arbeiterbewegung, Festschrift für E. Rabofsky, Köln 1976, S. 45
  16. Ebd., S. 46
  17. Ebd.
  18. H. Ridder: Ein Musterfall von Völkchen, in: konkret 4/1992, S. 26 ff.
  19. H. Ridder: Über Inhalt, Funktion und Stellenwert der Artikeldebatte I. Ein Bericht zum Abschluß der ersten (»Blitzkriegs«-)Etappe des verhinderten Dritten Weltkrieges, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1990, S. 420 ff.
  20. H. Ridder: Wie und warum (schon) Weimar die Demokratie verfehlte, in: R. Herzog (Hg.): Zentrum und Peripherie, Festschrift R. Bäumlin, Chur/Zürich 1992, S. 79 ff.
  21. H. Ridder: Sehfahrt tut not! Zum Exempel: numerus clausus und Freiheit der Wissenschaft, in: Festschrift H. J. Wolff, München 1973, S. 325 ff.
* Peter Römer war nach einer Assistenz bei Wolfgang Abendroth Professor für wissenschaftliche Politik in Marburg. Von ihm sind neuerdings im Jürgen-Dinter-Verlag Köln folgende Arbeiten erschienen: Band 1: Das kapitalistische Privateigentum, Band 2: Das Recht der Gesellschaft und der Bundesrepublik Deutschland, Band 3: Die Verteidigung des Grundgesetzes, Band 4: Wolfgang Abendroth; Carl Schmitt, Band 5: Hans Kelsen

Aus: junge Welt, 18. Juli 2009



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