Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Neue deutsche Außen- und Sicherheitspolitik?

Eine friedenswissenschaftliche Bilanz der rot-grünen Bundesregierung

Der Veröffentlichung liegen Vorträge einer Konferenz zugrunde, die schon vor fast zwei Jahren, im Februar 1999, in der Evangelischen Akademie Bad Iserlohn stattgefunden hat. Die rot-grüne Bundesregierung war gerade ein halbes Jahr im Amt und der NATO-Krieg gegen Jugoslawien braute sich bereits zusammen. Insofern überraschen auch nicht die vielen kritischen Stimmen, die hier mit der außen- und sicherheitspolitischen Konzeption der - damals neuen - Bundesregierung ins Gericht gingen. Die Konturen dieser Politik waren nämlich schon weitgehend bekannt: "Kontinuität" mit der Sicherheitspolitik der Vorgängerregierung und lediglich ein paar wenige präventionsorientierte Brosamen vom Tisch der Interventionspolitiker.

Wie häufig bei Tagungsbänden sticht die thematische Vielfalt der Beiträge hervor. Der Band ist in sechs Teile gegliedert:
  • Der erste Teil enthält zwei Beiträge, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit der Politik der Bundesregierung befassen. Ulrich Albrecht, der Vorsitzende der AFK, analysiert die Außen- und Sicherheitspolitik aus der Sicht eines Friedensforschers. Welche neuen, wissenschaftlichen Ansprüchen an eine Politik ziviler Konfliktprävention genügenden Ansätze verfolgt die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag und mit ihren ersten außenpolitischen Schritten? Inwieweit geht sie auf die Forderungen der "Kommunität der Friedensforscher" ein? Immerhin sind seither zwei Versprechungen aus dem Koalitionsvertrag verwirklicht worden: Es gibt wieder eine finanzielle Förderung der Friedensforschung (sie war in den letzten Jahren der Kohl-Regierung ganz eingestellt worden) und es wurde inzwischen eine "Deutsche Stiftung Friedensforschung" gegründet. Der zweite Beitrag kommt aus der Friedensbewegung. Stellvertretend für viele kritische Stimmen wurde ein Auszug aus dem "Friedens-Memorandum 2000" des Bundesausschusses Friedensratschlag übernommen. Ausgewählt wurden die Teile, die sich kritisch mit der neuen NATO-Strategie sowie mit der geplanten Umwandlung der Bundeswehr in eine Interventionsarmee befassten und das abschließende Kapitel, aus dem Memorandum, in dem die Friedensbewegung ihre friedenspolitischen "Alternativen zu Krieg und Gewalt" formulierte.
  • Im zweiten Teil geht es um "neue Zugänge zur Analyse internationaler Politik" mit - zum Teil sehr ausführlichen - Beiträgen von Gunter Hellmann, Katharina Burges, Christiane Lemke und Thomas Jäger. Der zuletzt genannte Beitrag dürfte für Friedensbewegte von besonderem Interesse sein, wird doch hierin versucht, die deutsche Außenpolitik in Beziehung zu setzen zu den "ökonomischen Interessen Deutschlands", die eingebettet seien in den "GIT-Prozess" (GIT=Globalisierung-Internationalisierung-Transnationalisierung). Es spricht einiges für die These, dass Rot-Grün sehr viel mehr auf die nationale Karte im globalen Wettbewerb setzt als frühere Bundesregierungen; und sie kann das auch viel besser, weil sie "nicht im Verdacht steht, nationale Intzeressen zu verfolgen" (S. 145).
  • Die politische und militärische Einbindung Deutschlands in internationale Institutionen (UNO, OSZE, NATO, EU) ist Gegenstand des dritten Teils. Lesenswert alle drei Beiträge von Paul Schäfer (über Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität), Hartwig Hummel (Global Governance und die deutsche UN-Politik) und vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik ("Deutsche Außenpolitik ist Sicherheitspolitik").
  • Der vierte Teil befasst sich mit der Militärpolitik der neuen Bundesregierung. Detlef Bald geht in einer gründlichen Analyse den Wurzeln der "Kontinuität" der deutschen Außenpolitik nach, insbesondere was die Bindungswirkung der deutsch-amerikanischen Absprachen betrifft. Berthold Meyer (von der HSFK) diskutiert das veraltete Konzept der Wehrpflicht und plädiert für die Abschaffung jeglicher Zwangsdienste. Michael Berndt (Universität Kassel) setzt sich mit dem spannenden Thema "Militärpolitik in Zeiten der Globalisierung" auseinander. Seine Analyse bleibt aber - wenn wir das richtig sehen - im Wesentlichen auf der semantischen Ebene stecken und wirft am Ende mehr Fragen auf, als im Zuge der Analyse beantwortet werden konnten.
  • Der fünfte Teil besteht aus einem einzigen Aufsatz, dem von Martina Fischer über den Widerstreit zwischen einer Politik der Krisenreaktion (was gleichbedeutend mit Militärintervention ist) und der "Kultur der Krisenprävention". Ihr gelingt mühelos und überzeugend der Nachweis, dass die Politik der neuen Bundesregierung eindeutig dem ersten Pfad folgt und auch die Politik der "Krisenprävention" - falls sie denn als solche reklamiert wird - "von Vertretern der Statenweltzunejmend in militärischen Kategorien definiert wird". (S. 264) Ihre Schlussfolgerung: Die Politik muss vom - miliätrischen - Kopf auf - zivile Füße gestellt werden.
  • Der sechste Teil enthält politische Stellungnahmen zu einer zivilen und präventiven Friedenspolitik. Aus den Reihen der SPD kommt eine AG Frieden des - linken - Frankfurter Kreises zu Wort. Von den GRÜNEN wird der Leitantrag des Münsteraner Bundeskongresses vom Juni 2000 dokumentiert - wenn Fischer und Co. sich dessen Kernsätze nur einmal hinter die Ohren schreiben würde! Der Beitrag der PDS ist dem Konzept der BT-Fraktion zur Zukunft der Bundeswehr entnommen ("Für eine 100.000 Personen-Armee"), sicherlich das weitestgehende friedesnpolitische Konzept aus dem Bundestag - allerdings auch das Konzept mit den zur Zeit geringsten politischen Chancen.
Es ist schade, dass manche Autoren darauf verzichtet haben, ihr Manuskript (das, wie gesagt, ja schon fast zwei Jahre alt ist) für die Drucklegung zu aktualisieren. Die Lesbarkeit einiger Beiträge leidet zudem an ihrer extremen Länge (Beiträge von bis zu 30 Seiten sprengen einfach den Rahmen von Tagungsbänden) und/oder an ihrem elaborierten Stil. Dennoch ist der vorliegende Band auch für Nicht-Wissenschaftler in der Friedensbewegung von großem Nutzen. Selten haben sich Friedenswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler so zeitnah und so kritisch mit der Außen- und Sicherheitspolitik der gerade regierenden politischen Klasse befasst. Und selten war die Übereinstimmung zwischen kritischer Friedenswissenschaft und der Friedensbewegung so groß. Die Herausgeber formulieren den wesentlichen Befund der Wissenschaft in ihrem Vorwort so: "Angesichts von Transnationalisierung und Globalisierung sind die Regierungen .. gefordert, im Rahmen einer kooperativen Sicherheitspolitik und gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen und privaten Akteuren nach innovativen und angemessenen Lösungen zu suchen. Die rot-grüne Regierung wird dazu nur dann einen der Verantwortung, den Ressourcen und den Interessen der Bundesrepublik entsprechenden Beitrag leisten können, wenn sie endlich den Mut aufbringt, den Quantensprung von einer normalisierungsfixierten Machtpolitik im 'linken' Gewand zu einer nachhaltigen deutschen und europäischen Friedenspolitik zu wagen." (S. 14f)
Pst

Christiane Lammers/Lutz Schrader (Hrsg.): Neue deutsche Außen- und Sicherheitspolitik? Eine friedenswissenschaftliche Bilanz zwei Jahre nach dem rot-grünen Regierungswechsel.
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2001 (Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. [AFK]), 311 Seiten, 48,- DM


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