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Die Hälfte der Ungarn ist arm

Die aggressiv unsoziale Politik der Regierung Orbán verschärfte die Folgen der Finanzkrise

Von Gábor Kerényi, Budapest *

Die Armen in Ungarn werden immer ärmer – und ihre Möglichkeiten, aus der Bedürftigkeit wieder herauszukommen, werden zunehmend geringer.

Das alles andere als regierungsfeindliche ungarische Gesellschaftsforschungsinstitut Tárki hat jüngst seine diesjährige Erhebung über die Armut in Ungarn veröffentlicht. Im Land wird offiziell als arm eingestuft, wer mit weniger als 260 Euro im Monat auskommen muss, und laut Tárki lebt mittlerweile beinahe die Hälfte der ungarischen Bevölkerung unter dieser Armutsgrenze. Genau sind es heute 46,6 Prozent, unter Roma erreicht der Wert unglaubliche 92 Prozent. Vier von fünf Haushalten haben keine materiellen Reserven. Sie wären also nicht einmal in der Lage, eine Reparatur oder sonstige zusätzlich Ausgaben in der Höhe von 100 000 Forint, also 331 Euro, zu stemmen.

Dies bedeutet eine drastische, in Ungarn in den Nachkriegsjahrzenten nie da gewesene Verarmung. Sie hat mehrere Ursachen. Die Finanzkrise hat eine Zunahme der Arbeitslosigkeit verursacht. Ein Jahr danach schnappte in Ungarn mit der Entwertung des ungarischen Forints auch noch eine zweite Falle zu: Es gab über eine Million private Devisenkredite, von denen viele nicht mehr bedient werden konnten.

Die Lage wurde zusätzlich durch eine Politik der Regierung des rechtskonservativen Viktor Orbán verschärft, die sich aggressiv gegen die Armen richtet. Wichtige Schritte waren die Einführung der Einheitssteuer, die Drosselung fast aller sozialen Unterstützung und die drastische Kürzung der Gesundheits- und Bildungsausgaben, die Drittelung der Dauer der Arbeitslosenunterstützung und vieles mehr.

Die Jugendarbeitslosigkeit ist trotz allem nicht höher als der europäische Durchschnitt, weil diese Altersgruppe massenweise ins Ausland geht, um dort zu arbeiten und zu studieren. Auch für die in östlichen und südlichen Nachbarstaaten lebenden Auslandsungarn ist das »Mutterland« unattraktiv geworden. Die Zahl der Geburten sinkt rapide. Im ersten Halbjahr 2013 kamen 5,5 Prozent weniger Kinder zur Welt als im Vergleichszeitraum des Vorjahrs. Laut Statistischem Zentralamt müsste allein für eine Beibehaltung der Bevölkerungszahl die Geburtenrate bis 2030 um 43 Prozent steigen.

Allerdings ordnen sich die Ergebnisse der von Ministerpräsident Orbán durchgesetzten Wirtschaftspolitik Ungarns, die er so gern als »unorthodox« bezeichnet, grundsätzlich sehr harmonisch in den gesamteuropäischen Trend. Das wird offenbar, wenn die Armutszahlen des Tárki mit denen vom Ende des abgelaufenen Jahrzehnts verglichen werden.

Die damalige sozialdemokratisch-liberale Koalition hatte sich bei der Ausbreitung und Vertiefung der Armut in Ungarn selbst unvergessliche »Verdienste« erworben. Doch sind seit ihrem letzten Regierungsjahr 2009 die Einkommensungleichheiten, wie Tárki es ausdrückt, »signifikant« gewachsen. Die Einkommenskluft zwischen den obersten und den untersten zehn Prozent der ungarischen Gesellschaft ist in diesem Zeitraum um 25 Prozent vertieft worden. Der Anteil der untersten zehn Prozent am Gesamteinkommen ist von 3,1 auf 2,6 Prozent weiter gesunken.

Die sogenannte Armutslücke, also der Unterschied zwischen der Armutsgrenze und dem realen Durchschnittseinkommen der in Armut Lebenden, ist in diesem Zeitraum, von 22 auf 27 Prozent gestiegen. Es ist also nicht nur die Zahl der Armen erheblich gewachsen, sondern sie sind von der Schwelle zum akzeptablen Dasein weiter als früher entfernt. Damit ist es noch hoffnungsloser geworden, aus der Bedürftigkeit herauszukommen.

Doch bei allem Europäertum der ungarischen Armutsentwicklungen gibt es doch eine Besonderheit: Noch 2009 war Ungarn in Sachen Armutsgefährdung wesentlich besser gestellt als der EU-Durchschnitt. Bis 2013 hat man es geschafft, sich auf genau diesen Durchschnitt herunterzuarbeiten. So gesehen ist das Magyarenland erst unter Viktor Orbán ein voll integriertes Mitglied der Europäischen Union geworden.

* Aus: neues deutschland, Montag, 9. Dezember 2013


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