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Ukraine droht Offensive der Falken

Drohungen aus Kiew nach Wahlen im Donbass / LINKE warnt vor rechtsextremem Druck

Von Klaus Joachim Herrmann *

Das amtliche Endergebnis der ukrainischen Wahlen geriet am Dienstag in Sichtweite, um das politische wird noch gestritten.

Mit der Auszählung von 99,93 Prozent der Stimmen der ukrainischen Wahl konnte am Dienstagmorgen die Zentrale Wahlkommission in Kiew aufwarten. Mit ihren 22,14 Prozent und 21,81 Prozent starken Parteien »Volksfront« und »Block Poroschenko« sind auch Premier Arseni Jazenjuk und Präsident Petro Poroschenko als die neuen starken Männer des Landes bestätigt.

So zeigen sie sich auch und verschärfen den Ton. Der Präsident setzte nach der Wahl in den abtrünnigen ostukrainischen Regionen Donezk und Lugansk die Aufhebung des Gesetzes über deren Teilautonomie der Region auf die Tagesordnung des Sicherheitsrates in Kiew. An die Moskauer Adresse richtete sich der drohende Hinweis der ukrainischen Zentralmacht, ein besonderer Status der Region sei lediglich »Kremlpropaganda«. Die Regierung in Kiew, so die Antwort aus dem Konfliktgebiet, müsse den »militärischen und politischen Druck auf den Donbass einstellen«. Dort standen die Vereidigungen der nunmehr gewählten Republikchefs Alexander Sachartschenko (Donezk) und Igor Plotnizki auf dem Programm.

Für Präsident Poroschenko sind sie aber »Banditen und Terroristen«, die mit der Durchführung von »Pseudowahlen« das Gesetz torpediert und die Lage im Donbass erheblich verschärft hätten, wie er im Fernsehen erklärte. Aus der Regierung Jazenjuk kam erneut die harsche Forderung an den Westen, die antirussischen Sanktionen zu verschärfen. Außenminister Pawlo Klimkin drohte in Richtung Donbass und Russland: »Das sind aber ukrainische Regionen und wir werden sie uns zurückholen.«

Mit Blick auf die Lage in der Ostukraine beantragte der NATO-Oberbefehlshaber in Europa, Philip Breedlove, beim Pentagon mehr Truppen und Ausrüstung. Wegen der im Baltikum, in Polen und in Rumänien getroffenen Sicherheitsmaßnahmen seien zusätzliche Truppen zur Rotation nötig, sagte er dem Magazin »Defense News«. Breedlove warnte, dass das Bündnis sich in der Ukraine-Krise einem »strategischen Wendepunkt« mit Russland nähere. Eine erneute Zuspitzung des Konfliktes würde dabei durchaus im Sinne starker nationalistischer, militaristischer und rechter Kräfte sein, die in das neue Parlament gewählt wurden.

»Die deutsche Bundesregierung stellt sich blind, wenn sie keinen nennenswerten Einfluss der rechtsextremen Kampfverbände auf die ukrainische Politik sehen will«, kommentierte der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko (LINKE) am Dienstag gegenüber »nd« deren Antwort auf eine Kleine Anfrage. Hunko verwies als Beispiel auf Semjon Sementschenko, Kommandeur des vom Rechten Sektor gegründeten Bataillons Donbass, der über die »Selbsthilfe«-Partei ins Parlament gekommen sei, oder Sergej Melnichyk, Kommandeur des berüchtigten Bataillons Ajdar, der für die Radikale Partei künftig Abgeordneter sein werde. Zusammen mit den zahlreichen Vertretern rechter Kampfverbände im Parlament werde Jazenjuk »statt auf eine politische Lösung auf eine stärkere militärische Konfrontation in der Ostukraine drängen«, sagte Hunko, Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, eine Offensive der Falken voraus. »Keinen Anlass« gibt es aus Sicht der Bundesregierung, von einem »nennenswerten Einfluss« rechtsextremer und neofaschistischer paramilitärischer Verbände auszugehen. Die Entscheidungen von Parlament und Regierung ließen »keinerlei rechtsextreme Tendenzen erkennen«. Auf den Wahllisten hatte die Bundesregierung aber ein gutes Dutzend Kommandeure und Kämpfer von »Freiwilligenverbänden« ausgemacht. Allein bei der »Volksfront« Jazenjuks die Chefs der Bataillone »Dnipro-1«, »Mirotworez« und »Kyjiw-1«. Die »Vaterlandspartei« von Ex-Premier Julia Timoschenko verstärkte sich mit einem Vertreter von »Asow«, der »Rechte Sektor« mit vier Vertretern seines gleichnamigen Bataillons.

Gegenüber der ukrainischen Staatsanwaltschaft, beteuerte die Bundesregierung, habe sie aber »ihre Besorgnis über Aktivitäten des Bataillons ›Asow‹ und die von diesem Bataillon öffentlich gezeigte Symbolik zum Ausdruck gebracht«. Von dessen Anführern seien »rassistische und antidemokratische Äußerungen belegt«, bestätigt die Bundesregierung. Das Bataillon verwende NS-Symbolen nachempfundene Fahnen und Abzeichen: »Es kann daher von einer rechtsextremen Haltung des Bataillons ausgegangen werden.« Zudem heißt es, dass dieses Bataillon offensichtlich von der ukrainischen »Wotanjugend« unterstützt werde, mit deren Angehörigen »vereinzelt« deutsche Rechtsextremisten zusammengetroffen sein sollen.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 5. November 2014


Drohungen aus Kiew

Ukraine: Nach den Wahlen im Donbass kündigt Regierung Rückeroberung östlicher Regionen und Aufhebung des Autonomiestatus an.

Von Reinhard Lauterbach **


Zwei Tage nach den Wahlen in den Aufstandsgebieten des Donbass schaltet die Kiewer Führung auf stur. Präsident Petro Poroschenko drohte, das im September beschlossene Gesetz über eine befristete Autonomie für die Region wieder aufheben zu lassen. Außenminister Pawlo Klimkin kündigte in einem Gespräch mit Bild sogar die militärische Rückeroberung der Regionen an. »Das sind unsere Gebiete, und wir werden sie zurückholen«, zitierte ihn das Blatt.

Zuvor hatten am Montag führende Politiker der »Volksrepubliken« eine Fortsetzung des Dialogs angeboten, falls Kiew »Vernunft« zeige. Die von einem Donezker Onlineportal veröffentlichte Erklärung des stellvertretenden Ministerpräsidenten der Volksrepublik Donezk, Andrej Purgin, und des Parlamentsvorsitzenden der VR Lugansk, Alexej Karjakin, hatte der Ukraine vorgeschlagen, die Wirtschaft der Region in der Griwna-Zone und damit im ukrainischen Finanzsystem zu belassen, sofern Kiew die Zahlung der Löhne und Renten wiederaufnehme. Außerdem boten die Vertreter der Donbass-Republiken Kohlelieferungen zur Sicherung der Energieversorgung der Ukraine während des Winters an. Sie verlangten dafür von Kiew, sie als Verhandlungspartner anzuerkennen und das ukrainische Militär aus der Region abzuziehen.

Mit ihrer Erklärung lagen die Autoren – es fällt auf, dass es Personen aus der zweiten Reihe sind – auf der Linie, die am Sonntag das russische Außenministerium vorgegeben hatte. Das hatte die Donbass-Wahlen zwar anerkannt, aber nur als regionale, und die neugewählten Führungen aufgefordert, den Dialog mit Kiew zu suchen. Auch die Kiewer Reaktion war erwartbar; nach einem im Zeichen des demonstrativen Nationalismus geführten Wahlkampf wäre es für jeden Kiewer Politiker politischer Selbstmord, auf solche Angebote einzugehen. Die von Poroschenko angekündigte Aufhebung des Autonomiestatuts ist dabei nur von geringer praktischer Bedeutung. Dieses Statut hat von Anfang an nur auf dem Papier gestanden, weil es die Unterwerfung des Donbass voraussetzte. Ähnlich ist es mit der Drohung, auch eine mit dem Autonomiestatus verbundene Amnestie für »kleine Fische« unter den Aufständischen wieder zu kassieren. Auch die Kiewer hängen, um es mit Goethe zu sagen, niemanden, den sie nicht haben. Insofern kommt die Auseinandersetzung wieder auf die Kernfrage zurück: wer das Gebiet tatsächlich kontrolliert.

In jedem Fall stehen die Zeichen damit prinzipiell wieder auf Krieg. Allerdings hat Kiew am Wahlwochenende eine deutliche Warnung bekommen. Nach Berichten von Journalisten, die in der Region tätig sind, sind am Samstag auch schwere Waffen mit russischen Nummern an die Waffenstillstandslinie vorverlegt worden. Dass diesmal offenbar niemand versucht hat, wie in den vergangenen Monaten die Herkunft dieser Waffen zu tarnen, muss als Warnung Moskaus an die Adresse der Ukraine gelesen werden: Wenn sie versuchen sollte, die Aufstandsgebiete zurückzuerobern, bekäme sie es direkt und explizit mit Russland zu tun.

Ob die Ukraine es in dieser Situation kurzfristig riskiert, die Machtfrage im Donbass auch militärisch zu stellen, scheint zweifelhaft. Auch die größten Scharfmacher in Kiew haben in den letzten Wochen ihre Reconquista-Phantasien auf die entferntere Zukunft, irgendwann zwischen 2015 und 2018, verschoben. Denn die ukrainische Armee hat in den Kämpfen des Sommers nach eigenem Eingeständnis etwa zwei Drittel ihrer schweren Waffen und fast die ganze Luftwaffe verloren. Aktuell sind nicht einmal alle ukrainischen Soldaten mit Winteruniformen ausgerüstet.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 5. November 2014

Reinhard Lauterbach

referiert auf dem Friedenspolitischen Ratschlag am 6./7. Dezember in Kassel. Zum Programm!.

Beachten Sie auch dieses Buch:

"Ein Spiel mit dem Feuer"
Im Papyrossa-Verlag ist Ende August 2014 ein Ukraine-Buch erschienen
Mit Beiträgen von Erhard Crome, Daniela Dahn, Kai Ehlers, Willi Gerns, Ulli Gellermann, Lühr Henken, Arno Klönne, Jörg Kronauer, Reinhard Lauterbach, Norman Paech, Ulrich Schneider, Eckart Spoo, Peter Strutynski, Jürgen Wagner, Susann Witt-Stahl
Informationen zum Buch (Inhalt und Einführung)




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