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"Wir sind jetzt nicht mehr Teil der Ukraine"

Bei Wahlen unter Kriegsbedingungen siegten in Donezk und Lugansk die provisorischen Amtsinhaber

Von Ulrich Heyden, Moskau *

Kiew verurteilt die Wahlen in den »terroristischen« Gebieten von Donezk und Lugansk scharf. Gleichzeitig will der ukrainische Energieminister dringend benötigte Kohle von dort kaufen.

»Wir warten auf Stabilität«, sagte eine etwa 33 Jahre alte Wählerin, die am Sonntag zum Wählen in das Russische Dramatische Theater in Lugansk gekommen war. Dort gab es ein dichtes Gedränge. Die Menschen warteten nach einem Bericht des russischen Perwy-Fernsehkanals »Stunden«, bis man sie im Wählerverzeichnis registriert hatte. Auch vor anderen Wahllokalen in den »Republiken« Donezk und Lugansk gab es lange Schlangen, wie Videos bestätigen. Es war weniger Begeisterung für einen starken Mann der Separatisten, der die Leute an die Urnen trieb, mehr der Wunsch, endlich in Frieden zu leben zu können, ohne Bomben der ukrainischen Armee; der Wunsch, die eigene russische Sprache und Kultur ohne Einmischung durch Kiew leben zu können.

Es waren die ersten Wahlen in den »Republiken« von Donezk und Lugansk, die faktisch unter Kriegsbedingungen stattfanden. Bisher wurden sie von spontan gebildeten Räten geleitet. Jeweils eine Million Menschen gaben in den von den Separatisten kontrollierten Gebieten von Lugansk und Donezk ihre Stimme ab. Wie erwartet siegten bei den Wahlen der »Republik«-Oberhäupter die Amtsinhaber der Donezk- und Lugansk-»Republik«, Alexander Sachartschenko und Igor Plotnizki.

Für den Premierminister der Donezk-Republik, Sachartschenko, stimmten 765 340 Wähler. Mit 111 624 Stimmen auf Platz zwei landete der stellvertretende Sprecher des Parlaments »Noworossija«, Alexander Kofman. Den dritten Platz belegte mit 93 280 Stimmen das ehemalige Mitglied der Polizeispezialeinheit Werkut Juri Siwokonenko. In der Lugansk-»Republik« siegte mit 63 Prozent der Stimmen der amtierende Ministerpräsident Plotnizki.

Bei den in den beiden »Republiken« parallel durchgeführten Parlamentswahlen siegte in der »Donezk-Republik« mit 662 000 Stimmen die Partei Donezkaja Respublika, mit Sachartschenko als Spitzenkandidat. Die Partei Freies Donbass bekam 306 892 Stimmen. In der Lugansk-»Republik« siegte die Partei »Frieden dem Lugansk-Gebiet« mit 69 Prozent der Stimmen.

Die Kommunistische Partei, die Partei des ehemaligen »Volksgouverneurs« von Donezk, Pawel Gubarjow, sowie eine Partei unter der Bezeichnung »Einiges Russland«, waren nicht zu den Wahlen in der »Donezk-Republik« zugelassen worden. Wichtiger als wer gewählt wurde, war aber offenbar, dass die Wahl überhaupt stattfand. Denn um mit Kiew wieder in Verhandlungen treten zu können, muss die Ostukraine ihren eigenen Status erhöhen. Der Vorsitzende der Wahlkommission der Donezk-Republik erklärte, »Kiew muss sich an den Gedanken gewöhnen, dass der Donbass kein Teil der Ukraine mehr ist. Ob sie unsere Wahlen anerkennen oder nicht, das ist ihr Problem.«

Die Zahl der Wähler hatte im Vergleich zu früheren Wahlen abgenommen. Nach Angaben russischer und ukrainischer Behörden, haben nach Beginn des Krieges 1,2 Millionen Menschen die Ostukraine verlassen. Wählen konnte man auch per Internet. Dafür musste man die Kopie des Passes und der Anmeldebestätigung schicken. Viele Flüchtlinge aus der Ostukraine, die jetzt in den russischen Gebieten Rostow und Woronesh leben, wählten in extra eingerichteten Wahllokalen.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa hatte keine Wahlbeobachter in die Ostukraine geschickt. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Ria Nowosti waren aber 300 andere Wahlbeobachter aus Russland, Südossetien, Serbien, Israel, Frankreich und den USA angereist. Im russischen Fernsehen lobten Beobachter aus Ungarn und Italien den Wahlablauf. Der ukrainische Geheimdienst kündigte an, man werde die ausländischen Wahlbeobachter zu unerwünschten Personen erklären.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 4. November 2014


Spaltung besiegelt

Ukraine: Wahlen in den Aufstandsgebieten bestätigen regionale Führungen. Moskau erkennt Ergebnisse an. USA und EU: Alles illegal

Von Reinhard Lauterbach **


Bei den Wahlen in den ostukrainischen Aufstandsgebieten sind die bestehenden Führungen der Regionen erwartungsgemäß bestätigt worden. Der Regierungschef der »Volksrepublik Donezk«, Alexander Sachartschenko, erhielt nach dem amtlichen Endergebnis 765.000 Stimmen, was bei einer Beteiligung von ca. einer Million Wählern auf ein Ergebnis von um die 76 Prozent hinausläuft. In der östlich angrenzenden »Volksrepublik Lugansk« erhielt deren Ministerpräsident Igor Plotnizki 63 Prozent, die von ihm geleitete Partei »Für Frieden im Lugansker Land« 69 Prozent. Zur Wahlbeteiligung liegen keine vergleichbaren Daten vor, doch war sie in beiden Volksrepubliken lebhaft. Im Bezirk Lugansk war die Abstimmung um zwei Stunden verlängert worden, um allen Wahlwilligen Gelegenheit zur Stimmabgabe zu verschaffen. Größere Zwischenfälle gab es nicht. Die Streitkräfte der Volksrepubliken hatten demonstrativ starke Kräfte einschließlich schwerer Waffen in die Nähe der Waffenstillstandslinie verlegt, um die ukrainische Armee von den befürchteten Angriffen abzuschrecken. In Kiew wurden diese Verstärkungen als reguläre russische Einheiten bezeichnet. Westliche Medien übernahmen diese Sichtweise.

Die USA und die EU erklärten die Wahlen alsbald für illegal. Russland dagegen erkannte die Ergebnisse an, jedoch mit einer bezeichnenden Einschränkung. Die entsprechende Erklärung des Moskauer Außenministeriums darüber, dass die Führungen der Volksrepubliken ein Mandat für die »Lösung der regionalen Probleme« erhalten hätten, impliziert eben auch, als was Moskau die Ergebnisse nicht anerkennt: als Grundlagen selbständiger Staaten. Explizit wird in der Erklärung Rußlands von Sachartschenko und Plotnizki gefordert, nunmehr auf der Grundlage der Minsker Waffenstillstandsvereinbarungen in einen ernsthaften Dialog mit den ukrainischen Zentralbehörden einzutreten.

Nach dem sieht es freilich vorerst nicht aus, und insofern ist die Moskauer Zurückhaltung auch Ausdruck eines frommen Wunsches: jetzt doch noch so etwas wie eine Föderalisierung der Ukraine hinzubekommen, um die es Russland im Frühjahr und Sommer vorrangig gegangen war. Denn Kiew hat sich in seiner eigenen Logik der Nichtanerkennung gefangen. Jeder Versuch, jetzt mit den Führungen der Volksrepubliken zu verhandeln, wäre mit einem politischen Gesichtsverlust verbunden und überdies für denjenigen Kiewer Politiker, der es täte, höchst riskant. Denn das ukrainische Parlament besteht in seiner großen Mehrheit aus Kräften, die sich nur in einem zu überbieten wissen: nationalistischer Rhetorik. So ist es wahrscheinlicher, dass die Entwicklung in die Richtung gehen wird, vor der Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier Russland nach den Donbass-Wahlen glaubte warnen zu müssen: die »Bestärkung des Strebens der Separatisten nach völliger Unabhängigkeit«.

Faktisch haben dieAbstimmungen vom Sonntag die Spaltung der Ukraine zementiert. Die hohe Beteiligung der Bevölkerung zeigt, dass sie ihre Volksrepubliken mehrheitlich als den künftigen staatlichen Rahmen ihres Lebens akzeptiert. Das wird übrigens von den ukrainischen Parlamentswahlen in den von Kiew kontrollierten Teilen der Region bestätigt. Sie hatten den »proukrainischen« Kräften nirgends mehr als 25 bis 30 Prozent der Stimmen gebracht. Wenn in Kiew jemand ernsthaft den Verlust des Aufstandsgebietes für die Ukraine beklagen sollte, dann kann er es der eigenen Politik der politischen Unnachgiebigkeit und der »Befreiung durch Raketenwerfer« zuschreiben.

Russland hat mit den Wahlen im Donbass einen Pyrrhussieg errungen. Der Wiederaufbau der zerstörten Region wird faktisch weitgehend an Moskau hängenbleiben. Wie lange die Bevölkerung Russlands willig ist, diese Lasten zu tragen, und in welchem Maße hieraus Unzufriedenheit mit der Politik Putins erwachsen wird, ist offen. Es ist klar, dass der Westen – der diese Situation, indem er Kiew einseitig den Rücken gestärkt hat, selbst verursacht hat – einen solchen Rückstoßeffekt sehr gern mitnähme. Einstweilen sucht Moskau offenbar den Schulterschluss mit der europäischen Rechten. Unter den internationalen Beobachtern, die den Wahlen im Donbass ihr Gütesiegel verpassten, dominierten Vertreter des schwarz-braunen Spektrums: ein Europaabgeordneter des Front National, ein deutscher neurechter Journalist, der österreichische Burschenschafter und Piusbruder Ewald Stadler, der sein Glück bei FPÖ, BZÖ und noch obskureren Gruppen versucht hat, und ein Senator von der Berlusconi-Partei »Volk der Freiheit«. Wer sich solche Claqueure sucht, muss sich nicht wundern, an ihnen gemessen zu werden.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 4. November 2014


Russland glaubt an Deeskalation

Die Wahlen in den sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk werden von Moskau als Schritte zum Dialog betrachtet

Von Irina Wolkowa, Moskau ***


Mit ausführlicher Berichterstattung durch das Staatsfernsehen und Respektsbekundung durch das Außenamt reagierte Russland auf die Wahlen in der Ostukraine.

Jene Frauen und Männer, die sich Sonntag bei den Wahlen in den sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk durchsetzten, haben »ein Mandat zur Lösung praktischer Aufgaben bei der Wiederherstellung eines normalen Lebens in diesen Regionen bekommen«, heißt es in einer Erklärung des Außenamtes in Moskau. Russland »respektiert die Willensbekundung«, steht mit dieser Entscheidung bisher aber allein auf weiter Flur. Kiew und dessen Paten im Westen hatten, noch bevor der erste Stimmzettel in die Urnen flog, die Abstimmung in den pro-russischen Separatistenregionen im Südosten der Ukraine für illegitim erklärt und Moskau im Falle einer Anerkennung der Ergebnisse mit weiteren Sanktionen gedroht. Der Sicherheitsdienst der Ukraine leitete inzwischen sogar ein Straferfahren wegen »Handlungen zur gewaltsamen Machtübernahme, zum Sturz oder zur Änderung der verfassungsmäßigen Ordnung« ein. Zuvor hatte der ukrainische Präsident Pjotr Poroschenko gewarnt, durch die Wahlen würde der Konflikt zwischen Separatisten und Zentralregierung in Kiew erneut eskalieren.

Moskau sieht das völlig anders. Die Wahlen, so heißt es in der Erklärung des Außenamtes, würden »aktive Schritte zur Herstellung eines stabilen Dialogs« zwischen der ukrainischen Zentralregierung und dem Donbass im Geiste der in Minsk erzielten Vereinbarungen ermöglichen.

Unter Ägide der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa hatten sich dort beide im September auf eine Feuereinstellung und Verhandlungen über eine einvernehmliche Beilegung ihres Konflikts geeinigt. Dazu hatte Kiew auch ein Gesetz verabschiedet, das den Rebellenregionen einen Sonderstatus einräumt. Er soll jedoch nur für Gebiete gelten, die die Separatisten zum Zeitpunkt der Feuereinstellung kontrollierten und geht diesen wie Moskau nicht weit genug. Es sei in der Praxis nicht umsetzbar, warnte auch Moskaus EU-Botschafter Wladimir Tschischow. Brüssel wäre daher gut beraten, die Wahlen in der Ostukraine als »Maßnahme zur Deeskalation zu betrachten«.

Ähnlich äußerten sich Duma-Abgeordnete aller Fraktionen, von denen einige als Wahlbeobachter vor Ort waren. Sie glauben, vor allem die hohe Wahlbeteiligung stärke die Position der Separatisten bei den Verhandlungen mit Kiew. Das russische Staatsfernsehen hatte am Sonntagabend ausführlich über die Abstimmung berichtet. Zu sehen waren mehrere hundert Meter lange Schlangen vor den Wahllokalen. Die Stimmung war gedämpft optimistisch, eine Rückkehr in den Staatsverband der Ukraine konnte sich keiner der Interviewten vorstellen.

Achtung des Wählerwillens, so kritische Beobachter in Moskau unisono, bedeute jedoch nicht dessen Anerkennung. Zumal Moskau nach Referenden zum Russland-Beitritt der beiden Volksrepubliken die gleiche Formulierung benutze. Eine Entwicklung wie in Abchasien oder Südossetien, die Russland gleich nach dem Krieg mit Georgien 2008 als unabhängig anerkannte, gilt daher als wenig wahrscheinlich. Zumal dadurch Moskaus Konflikt mit dem Westen weiter eskalieren würde. Eher schon taugt Moldawiens abtrünnige Region Transnistrien als Vorbild. Auch auf deren Beitrittsgesuch reagierte Moskau mit Schweigen, alimentiert jedoch die Separatisten und sorgt dadurch für stabile Instabilität in der strategisch wichtigen Region.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 4. November 2014


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