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40 tote Zivilisten in der Region Donezk geborgen

Maidan-Aktivisten werfen Abgeordnete in Müllcontainer / Erneuerung der Machtorgane in der Ukraine angekündigt

Von Klaus Joachim Herrmann *

Die Untersuchung von Massengräbern in der Ostukraine wurde fortgesetzt. In Kiew bekommen »Säuberungen« Gesetzeskraft.

Der Verdacht von Massakern an Zivilisten in der Ostukraine wurde am Donnerstag bekräftigt. Rund 40 Leichen von zivilen Einwohnern seien in den bei Donezk entdeckten Massengräbern geborgen worden, erklärte laut der russischen Agentur RIA/Nowosti Alexander Sachartschenko, Premier der »Volksrepublik Donezk«. Darüber hinaus seien Massengräber entdeckt worden, in denen gefangen genommene Angehörige der »Volksmilizen« und ukrainische Soldaten begraben seien.

Die Kiewer Führung dementierte bislang scharf, dass deren militärische Einsatzkräfte an diesen Ereignissen beteiligt gewesen wären. So erklärte Andrej Lyssenko, Sprecher des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, dass sich »kein einziger Vertreter der Nationalgarde in dieser Region befunden« habe. Allerdings könnten andere Einheiten der Zentralmacht im Zuge der »Anti-Terror-Operation« in dieser Region stationiert gewesen sein.

Solche Verbrechen würden genauestens untersucht, erklärte der Menschenrechtsbeauftragte des russischen Außenministeriums Konstantin Dolgow gegenüber der in Moskau erscheinenden »Rossiskaja Gasjeta«. Er nannte die Ereignisse bei Donezk ein humanitäres Verbrechen. Das russische Außenministerium fordere internationale Organisationen zur Mitwirkung an unabhängigen Ermittlungen auf. Er erneuerte den Verdacht einer Teilnahme der Nationalgarde. Der Menschenrechtsbeauftragte kritisierte zudem den Verlauf der Ermittlungen zum Brand des Gewerkschaftshauses in Odessa, bei dem mehr als 40 Menschen den Tod fanden. »All diese Verbrechen wurden von radikalen Kräften verübt, die im politischen Leben der Ukraine immer noch etwas zu sagen haben«, sagte Dolgow.

Unter dem Vorwand einer »Volkssäuberung« wurden in Tscherkassy während einer Sitzung des Gebietsparlamentes am gleichen Tag ein kommunistischer und ein Abgeordneter der Partei der Regionen von Maidan-Aktivisten in Müllcontainer geworfen.

Wie die offiziöse Agentur UNIAN erläuterte und mit einem Videomitschnitt dokumentierte, habe diese »Welle der Volkssäuberung« nach der Annahme des Gesetzes über die »Reinigung der Macht« bereits am 16. September beim Zentralparlament in Kiew begonnen. Damals war unmittelbar vor der Werchowa Rada ein Deputierter in eine Mülltonne geworfen und gedemütigt worden.

Das Gesetz zur Lustration, der offiziellen »Säuberung«, werde er schnellstmöglich unterzeichnen, kündigte Präsident Petro Poroschenko am Nachmittag auf seiner Pressekonferenz in Kiew an. Dabei setzte er sich für eine radikale Erneuerung des Beamtenapparates ein. »Neue Leute solle die neue Ukraine erbauen«, sagte er. Als erste von insgesamt acht Schwerpunkten seiner Reformstrategie 2020 nannte Poroschenko den Kampf gegen Korruption, die Erneuerung der Machtorgane und des bürokratischen Apparates sowie ganz besonders der Gerichte.

Eine Absenkung der Temperaturen in ferngeheizten Wohnungen der Hauptstadt um zwei auf 16 Grad kündigte Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko für die bevorstehende Heizperiode an. Am heutigen Freitag sollen die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine über die Lieferung von Gas fortgesetzt werden. »Je näher der Winter kommt, desto mehr Trümpfe hält Russland in der Hand«, sagte der ukrainische Premier Arseni Jazenjuk.

* Aus: neues deutschland, Freitag 26. September 2014


Vollstrecker deutscher Politik

Bundesregierung behauptet weiter, in der Ukraine würden Neonazis keinen besonderen Einfluß haben. Antwort auf Linke-Anfrage offenbart Desinteresse an realistischer Einschätzung

Von Sevim Dagdelen **


Die Bundesregierung verfolgt die innenpolitischen Entwicklungen in der Ukraine genau«, erklärt Michael Roth (SPD), Staatsminister im Auswärtigen Amt, in einer Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag zum fortschreitenden Rechtsruck in der Ukraine (Drucksache 18/2559). Erstaunlich nur, daß derselbe Regierungsvertreter auf die meisten Fragen der Linken antwortet: »Der Bundesregierung liegen hierzu keine eigenen Erkenntnisse vor.« Das trifft auch auf das »Freiwilligenbataillon Asow« zu. Die Regierung behauptet, ihr seien lediglich Medienberichte bekannt, nach denen diese Miliz im Kern aus Neofaschisten oder rechten Fußballhooligans besteht. Allerdings würde sie rechte Milizen dieser Art auch öffentlich legitimieren, gäbe sie zu, eigene Erkenntnisse über sie zu haben.

Das Kabinett hält weiterhin an einer sehr speziellen juristischen Einschätzung fest und ist der Ansicht, daß die mehrmals vereinbarte Entwaffnung militanter Gruppen in der Ukraine für diese nicht gelte, da sie ja dem Innenministerium unterstünden. Dies, obwohl von den rechten Formationen immer wieder Putschdrohungen kommen – wie zuletzt von Dmitro Jarosch vergangene Woche.

Auch prinzipiell scheint die Bundesregierung mit der Existenz dieser paramilitärischen Verbände in der Ukraine keine Probleme zu haben. Deren Aufgabe sei es angeblich, die territoriale Integrität der Ukraine und Ordnung in dem Land herzustellen oder zu sichern. Die Aufforderung zur Entwaffnung habe »auf alle illegalen, das Gewaltmonopol der ukrainischen Regierung nicht anerkennenden Gruppen« abgezielt, heißt es in ihrer Antwort. Offensichtlich ist es der Bundesregierung recht, daß diese Ordnung von Freikorps durchgesetzt wird.

Außerdem scheint das Kabinett in der Beurteilung des Nationalisten Oleg Ljaschko und seiner »Radikalen Partei« mindestens genauso große Ignoranz an den Tag zu legen wie schon zuvor bei der Neonazipartei »Swoboda«. Ljaschko hatte bei den fragwürdigen Präsidentschaftswahlen im Mai das drittbeste Ergebnis erreicht. Eine Umfrage Mitte Juli sah Ljaschkos Partei mit über 20 Prozent als stärkste politische Kraft bei den anstehenden Parlamentswahlen. Ljaschko paßt mit seinen radikal antirussischen Einstellungen zu den geopolitischen Zielen der Bundesregierung, die fast alles dafür tut, den russischen Einfluß in der Ukraine zu minimieren.

Als Favoriten für deren Durchsetzung hat sie sich indes den Kiewer Bürgermeister Witali Klitschko ausgesucht. Hinter dessen Entscheidungen stellt sich die Bundesregierung offenbar bedingungslos. Unter anderem betont sie, die Kiewer »Gay Pride Parade« im Juli sei nicht verboten worden. Den Veranstaltern sei lediglich wegen der »damals bestehende (n) Sicherheitslage nachdrücklich davon abgeraten« worden, sie durchzuführen.

Der Umstand, daß die ganze politische Krise durch den Putsch vom Februar dieses Jahres verschärft wurde, scheint schon fast vergessen. Als Begründung für die Anerkennung der Putschregierung durch die EU galten damals die Todesschüsse auf dem Maidan, die angeblich von der Regierung Janukowitsch angeordnet waren. Die Ermittlungen dazu liefen bisher ins Leere. Der damalige, von der Swoboda-Partei gestellte Generalstaatsanwalt der Ukraine, Oleg Machnitzki, hat alles getan, um eine Aufklärung zu verhindern, indem Beweismittel unterdrückt oder sogar unterschlagen wurden. Trotz einiger personeller Umbildungen in der Kiewer Regierung bleiben extreme Rechte und antisemitische Nationalisten maßgebliche Kräfte in Kiew. Und Machnitzki verlor zwar seinen Posten als oberster Strafverfolger – wurde aber kurz darauf zum Präsidentenberater berufen.

** Aus: junge Welt, Freitag 26. September 2014


Poroschenko kündigt Reformen an

»Gefährlichster Teil des Krieges in der Ostukraine vorbei«. Neues Treffen mit Putin in Aussicht gestellt ***

Nach fast sechs Monaten blutiger Gewalt in der Ostukraine hält der ukrainische Präsident Petro Poroschenko den schlimmsten Teil der Kämpfe für überstanden. »Ich habe keinen Zweifel, daran, daß der gefährlichste Teil des Krieges vorbei ist, dank des Heldentums der ukrainischen Soldaten«, sagte Poroschenko bei einer Pressekonferenz am Donnerstag in Kiew. Zuvor hatte er mitgeteilt, daß die seit fast drei Wochen geltende Waffenruhe erstmals halte.

Poroschenko kündigte weitreichende Reformen an, die seinem Land den Weg in die Europäische Union ebnen sollen. Zu den wichtigsten Maßnahmen zählten die Bekämpfung der Korruption und die Dezentralisierung der politischen Macht. Das Steuersystem, die Justiz und die Polizei sollten reformiert sowie die Energieabhängigkeit des Landes verringert werden. Er hoffe, daß aus den Wahlen im Oktober ein reformorientiertes Parlament hervorgehe, das sein Programm umsetze und die Ukraine zu einem attraktiveren Partner für Europa mache. »Ziel unserer ehrgeizigen Reformen ist es, europäische Lebensstandards zu erreichen und 2020 den Aufnahmeantrag für die Europäische Union zu stellen«, sagte Poroschenko. Die Ukraine hat mit der EU bereits ein Assoziierungsabkommen geschlossen.

Ablehnend äußerte sich Poroschenko zu den Plänen der Aufständischen in der Ostukraine, im November Regionalwahlen in den von ihnen kontrollierten Gebieten abzuhalten: Weder die Ukraine noch der Rest der Welt werde diese Wahlen anerkennen. Und er hoffe, Rußland auch nicht. Die Regierung in Kiew hatte Regionalwahlen im Osten des Landes unter ihrer Schirmherrschaft für Dezember vorgeschlagen. Die Rebellen wollen sie bereits im November abhalten und zwar ohne Einfluß der Zentralregierung.

Poroschenko kündigte ein erneutes Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin an. Es könne innerhalb von drei Wochen stattfinden, sofern sein Friedensplan eingehalten werde.

*** Aus: junge Welt, Freitag 26. September 2014


Kiew kriegt kalte Füße

Ukraine rechnet mit russischem Gasboykott. Energiekrise sehr wahrscheinlich

Von Reinhard Lauterbach ****


Die ukrainische Bevölkerung muß sich im kommenden Winter warm anziehen. Die staatliche Gasverteilungsfirma Naftogas Ukrainy rechnet damit, daß der russische Gasprom-Konzern die Ukraine nicht beliefern wird. Naftogas-Chef Andrij Kolobow sagte Anfang der Woche in einer Kabinettssitzung, er erwarte mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 70 Prozent, daß Gasprom nicht nur die seit Juni wegen Zahlungsrückständen in Höhe von gut fünf Milliarden US-Dollar unterbrochenen Lieferungen an die Ukraine nicht wiederaufnehmen, sondern auch kein Gas mehr im Transit durch die Ukraine leiten werde. »Dann stehen wir mit unseren Problemen allein da«, umschrieb Kolobow die Tatsache, daß damit für die Ukraine die in der Vergangenheit immer wieder gern genutzte Möglichkeit der Selbstbedienung aus den Transitleitungen entfiele.

So hängt die Gasversorgung der Ukraine im kommenden Winter entscheidend von den sogenannten »Reverse-Flow«-Lieferungen aus den westlichen Nachbarstaaten der Ukraine ab. Ein Team deutscher Ökonomen, das dem ukrainischen Wirtschaftsministerium zuarbeitet, hat dieser Tage mehrere Szenarien durchgerechnet und ist zu dem Schluß gekommen, daß ohne diese Lieferungen die Ukraine zum Jahresende, spätestens aber Anfang Februar, buchstäblich ohne Gas dastehen werde. Die einzige Möglichkeit, halbwegs über den Winter zu kommen, sei die volle Ausnutzung der Liefermöglichkeiten aus Polen, Ungarn und der Slowakei bei gleichzeitiger Reduzierung des Gasverbrauchs um 20 bis 30 Prozent. Diese Option hat allerdings mehrere Unbekannte: Erstens reichen die Kapazitäten der zum Rückpumpen russischen Gases nach Osten vorgesehenen Leitungen für den ukrainischen Bedarf nicht aus. Zweitens sieht Gasprom einen solchen Wiederverkauf seines Gases ausgesprochen ungern und hat deswegen vor zehn Tagen die Lieferungen an Polen einige Tage lang auf das vertraglich garantierte Minimum gekürzt – mit der Folge, daß Polen den Reexport an die Ukraine zugunsten seines eigenen Bedarfs einstellen mußte. Auf die dritte und entscheidende Unbekannte wies Naftogas-Manager Kolobow in seinem Auftritt vor dem Kabinett ausdrücklich hin: die Lieferungen im Rahmen des »Reverse Flow« setzten »eine hohe Zahlungsdisziplin« voraus. Gegenwärtig habe Naftogas aber offene Außenstände in Höhe von umgerechnet 2,5 Milliarden Euro, vorwiegend gegenüber Unternehmen der Fernwärmeversorgung, also in der Regel kommunalen Gesellschaften. Kolobows Appell, aus dem Staatshaushalt Zuschüsse an die Wärmeversorger zu zahlen, damit die ihre Schulden bei Naftogas begleichen könnten, hat allerdings angesichts der durch Wirtschaftskrise und Bürgerkrieg geplünderten Staatskasse kaum Chancen, gehört zu werden.

In dieser Situation verkündet Ministerpräsident Arseni Jazenjuk trotzig die Parole »Los vom Gas«. Anfang der Woche versprach er allen Bürgern, die sich von der Gasversorgung abkoppeln und auf andere Brennstoffe umstellen, Zuschüsse zur Anschaffung von Feststoffkesseln. Da die Regierung selbst erwartet, daß kurzfristig nur etwa 20000 Heizungen umgerüstet werden können, ist dieser Schritt freilich erstens ohnehin kosmetisch, weil zweitens nicht klar ist, womit diese Kessel dann befeuert werden sollen. Die Kohleförderung im Donbass ist um 80 Prozent eingebrochen, die Kraftwerke des Landes werden voraussichtlich schon im November ihre Kohlevorräte aufgebraucht haben und kündigen jetzt schon Stromsperren an, und Importkohle muß ja ebenfalls bar bezahlt werden. Holz gibt es in der waldarmen Ukraine nicht im Überfluß, zumal die Wälder der Karpaten bereits durch Raubbau dezimiert worden sind, was jedes Frühjahr zu Überschwemmungen führt. Bleibt also das Gassparen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß ausgerechnet die Wirtschaftskrise, die die Industrieproduktion um 21 Prozent hat einbrechen lassen, unter dem Strich den Gasverbrauch so weit senkt, daß die Ukraine das Frühjahr doch ohne Frostbeulen erreichen kann.

**** Aus: junge Welt, Freitag 26. September 2014

Das Buch zum Thema:

"Ein Spiel mit dem Feuer"
Im Papyrossa-Verlag ist Ende August 2014 ein Ukraine-Buch erschienen
Mit Beiträgen von Erhard Crome, Daniela Dahn, Kai Ehlers, Willi Gerns, Ulli Gellermann, Lühr Henken, Arno Klönne, Jörg Kronauer, Reinhard Lauterbach, Norman Paech, Ulrich Schneider, Eckart Spoo, Peter Strutynski, Jürgen Wagner, Susann Witt-Stahl
Informationen zum Buch (Inhalt und Einführung)




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