Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Mit Putins Russland muss gerechnet werden

Hubert Thielicke über die Ukraine und Realismus in der Diplomatie *

Die Ereignisse in der Ukraine überschlagen sich. NATO und EU tagen, die USA drohen Russland mit Konsequenzen. Waren westliche Politiker und Diplomaten wirklich so naiv zu glauben, dass die gewaltsame Veränderung der Machtbalance in Kiew zugunsten westukrainischer Kräfte, darunter extrem rechter, problemlos ablaufen würde? Der Umsturz wurde als »Niederlage Putins« bejubelt. Der russische Bär ließ sich das aber nicht gefallen; nun steht man vor einem Scherbenhaufen. Zeit also, nüchtern nach einer Lösung zu suchen.

Deutschland kommt dabei als Staat in der Mitte Europas eine große Verantwortung zu. Unwillkürlich denkt man an die Münchner Sicherheitskonferenz. Dort sprach das »Dreigestirn« aus Bundespräsident, Außenamtschef und Verteidigungsministerin vollmundig über eine neue, größere Rolle in der Weltpolitik. Die jüngsten Ereignisse um die Ukraine haben die Bundesregierung jedoch auf den Boden der (europäischen) Tatsachen zurückgeholt. Gefragt sind nicht militärische Ausbilder, logistische Unterstützung oder gar Soldaten, gefragt ist solide diplomatische Arbeit – Verhandlungsgeschick und Vermittlung.

Erstens ist Realismus vonnöten, die Fähigkeit, die Interessen beider Seiten in Betracht zu ziehen. Die deutsche Diplomatie hat da bisher versagt. Der Maidan-Spaziergang des damaligen Außenministers Guido Westerwelle mit Oppositionspolitikern wirkte eher eskalierend, stärkte keineswegs die deutsche Vermittlerrolle. Das rasche Scheitern der Vereinbarung zwischen Präsident Janukowitsch und der Opposition, die unter Mitwirkung des neuen deutschen Außenministers und seiner Kollegen aus Frankreich und Polen zustande kam, wurde in Moskau als Vertrauensbruch gewertet. Die Opposition übernahm die Macht in Kiew. Die Folgen – die russische Bevölkerungsmehrheit der Krim verweigert sich den neuen Machthabern und sucht Hilfe bei Russland; in der Ostukraine scheint der russische Bevölkerungsteil in Aufruhr zu sein.

Deutschland sollte mäßigend auf beide Seiten wirken, bei der Suche nach einem wirklich unparteiischen Vermittler helfen und ihn unterstützen. Warum nicht den ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan einschalten, wie es LINKEN-Fraktionschef Gregor Gysi vorschlug?

Zweitens heißt Realismus auch, die Tatsachen so zu nehmen, wie sie sind. Für die Ukraine heißt das, den Interessen der russischen Minderheit Rechnung zu tragen. Immerhin sind das etwa acht Millionen der rund 45 Millionen Einwohner. Diese Gemengelage hat sich in Jahrhunderten gemeinsamer Geschichte entwickelt, spielte aber bis zum Zerfall der UdSSR keine Rolle, da die Grenzen zwischen den Unionsrepubliken fiktiver Natur waren. Das änderte sich erst 1991, als daraus Staatsgrenzen wurden.

Heute leben etwa 17 Millionen Russen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Auf der Krim stellen sie mit etwa 60 Prozent die Mehrheit, in den ostukrainischen Gebieten bilden sie eine starke Minderheit. Wer eine »Maidan-Revolution« begrüßte, muss sich nun mit einer »Krim-Revolution« abfinden. Zu einem neuen »Krimkrieg« wird es nicht kommen, wenn die Herren Turtschinow, Jazenjuk u.a. von Versuchen Abstand nehmen, die Lage auf der Krim mit Polizei- und anderen Operationen zu verändern. Eine demokratische Volksabstimmung ist die beste Lösung. Die gegenwärtigen Machthaber in Kiew sollten von Großbritannien lernen: Am 18. September wird die Bevölkerung Schottlands in einem Referendum über seine Unabhängigkeit entscheiden.

Drittens können Drohungen die Lage nur verschlimmern. Es gibt keine ernsthaften Sanktionsmöglichkeiten. Militärisch kann man einer Kernwaffengroßmacht nicht drohen. Wirtschaftliche Sanktionen liegen nicht im Interesse Europas, wenn auch die USA die EU gern dazu bringen möchten. Kunststück, die russisch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen sind minimal.

Bliebe der eine oder andere politische Nadelstich: Die USA und einige enge Verbündete wollen nicht am G8-Treffen in Sotschi teilnehmen, Russland gar aus den G8 ausschließen. Aber könnte das nicht dazu führen, dass die Rolle der G20, der BRICS und der Shanghaier Organisation wächst? Mehr noch, trotz aller aufgeregter Rhetorik braucht Präsident Obama Russland zur Lösung der Konflikte um Syrien und das iranische Atomproblem. Es ist nicht zu übersehen: Das schwache Russland Jelzins ist Geschichte; Putins neues Russland ist ein Faktor, mit dem man rechnen muss.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 4. März 2914


Zurück zur Ukraine-Seite

Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Russland-Seite

Zur Russland-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage