Nicht legal, aber legitim
Sezessionen und Völkerrecht im Fall der Krim
Von Gregor Schirmer *
Sezession – also Abspaltung von
Staatsteilen, Zerfall von Staatenverbünden
und daraus resultierende
neue Staaten – ist in der Geschichte
der Neuzeit nichts Ungewöhnliches.
Es ist keine Übertreibung, dass die
Staatenwelt der Gegenwart zu einem
großen Teil Ergebnis von Sezessionsprozessen
ist, angefangen mit der
Sezession der USA von Großbritannien
durch die Unabhängigkeitserklärung
von 1776 und den Sieg im
Unabhängigkeitskrieg.
Der Konflikt um die Krim und in der
Ostukraine ist kein Einzelfall. Der kleine
Kontinent Europa steckt voller akuter
und latenter Sezessionskonflikte.
In Schottland steht im September eine
Volksabstimmung über die Loslösung
von Großbritannien bevor, deren
Ergebnis von beiden Seiten akzeptiert
werden soll. In Nordirland
und Wales ist England mit weiteren
Separationsbestrebungen konfrontiert.
Im Baskenland und in Katalonien
wirken starke Kräfte für staatliche
Unabhängigkeit von Spanien und
Frankreich, das zudem mit Unabhängigkeitsbewegungen
auf Korsika zu
tun hat. Italien muss sich der Sezessionsbestrebungen
in der Lombardei
und auf Sardinien erwehren.
Die Abspaltungen Abchasiens und
Südossetiens von Georgien, als
selbstständige Staaten werden außer
von Russland nur von wenigen Staaten
anerkannt. Die Zugehörigkeit
Tschetscheniens zur Russischen Föderation
wird nach wie vor von Separatisten
infrage gestellt. Transnistrien
hat sich von Moldawien separiert,
ohne einen sicheren staatlichen
Status erreicht zu haben. Der flämisch-
wallonische Konflikt in Belgien
ist weit mehr als ein Sprachenstreit.
Die Liste ist nicht vollständig.
Das geltende Völkerrecht bietet –
abgesehen von der Liquidation des
imperialistischen Kolonialsystems
und seiner Ablösung durch formal
unabhängige Staaten – weder im vertragsrechtlichen
noch im gewohnheitsrechtlichen
Bestand eindeutige Regelungen über Sezessionen. Die
unterschiedliche, oft gegensätzliche
Praxis und Rechtsauffassung der
Staaten machten die Entstehung von
Völkergewohnheitsrecht zu dieser
Materie unmöglich. Völkerrechtlich
unproblematisch sind Sezessionen,
die vom abspaltungswilligen Staatsteil
mit dem »Mutterstaat« vereinbart
oder von ihm gebilligt werden. Der
»Normalfall« ist aber, dass sich Staaten
der Sezession von Teilen ihres
Territoriums widersetzen und sie in
ihrem innerstaatlichen Recht ausschließen. Eine Ausnahme waren die
sowjetischen Verfassungen von 1936 und 1977, die gleichlautend bestimmten: »Jeder Unionsrepublik bleibt das Recht auf freien Austritt aus der UdSSR gewahrt.«
In Bezug auf Sezessionen besteht ein Spannungsverhältnis zwischen
zwei gleichermaßen verbindlichen Grundsätzen des Völkerrechts. Das ist
einerseits das Prinzip der souveränen
Gleichheit der Staaten, das die Unverletzlichkeit
der territorialen Integrität der Staaten einschließt. Andererseits
geht es um das Prinzip der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung
der Völker mit dem Recht, frei und ohne Einmischung von außen
über ihren politischen Status zu
entscheiden.
Beide Grundsätze sind in der UN-Charta
verankert und werden in der
Erklärung der Prinzipien des Völkerrechts
von 1970 näher umrissen. Ich
halte es für unzulässig, die Sezession
der Krim von der Ukraine und ihre
Aufnahme in die Russische Föderation
sowie die Sezessionsbestrebungen
in der Ostukraine nur unter dem Aspekt
der territorialen Integrität zu beurteilen
und das ebenso zwingende
Selbstbestimmungsrecht außer Acht
zu lassen. In der Prinzipienerklärung
wird bestimmt, »bei ihrer Auslegung
und Anwendung sind die vorstehenden
Grundsätze voneinander abhängig;
jeder Grundsatz ist im Zusammenhang
mit den anderen Grundsätzen
zu verstehen«.
Zum Selbstbestimmungsrecht
heißt es in der Erklärung: »Die Gründung
eines souveränen und unabhängigen
Staates, die freie Assoziation
mit einem unabhängigen Staat,
die freie Eingliederung in einen solchen
Staat oder der Eintritt in einen
anderen, durch ein Volk frei bestimmten
politischen Status sind
Möglichkeiten der Verwirklichung
des Selbstbestimmungsrechts durch
das betreffende Volk.« Dann wird
einschränkend erklärt, dass diese Bestimmungen
nicht so auszulegen sind,
»als ermächtigten oder ermunterten
sie zu Maßnahmen, welche die territoriale
Unversehrtheit oder die politische
Einheit souveräner und unabhängiger
Staaten … ganz oder teilweise
auflösen oder beeinträchtigen
würden.«
Dazwischen steht ein Aber: Diese
Schutzbestimmung für Souveränität
und territoriale Integrität soll für
Staaten gelten, »die sich gemäß dem
oben beschriebenen Grundsatz der
Gleichberechtigung und Selbstbestimmung
der Völker verhalten und
die daher eine Regierung besitzen,
welche die gesamte Bevölkerung des
Gebiets ohne Unterschied der Rasse,
des Glaubens oder der Hautfarbe vertritt
«. Das kann man vom Verhalten
des Staates Ukraine und seiner gegenwärtigen
Regierung gegenüber
dem russischen Teil seiner Bevölkerung
nicht behaupten.
Nach der dubiosen Neuwahl des
Präsidenten haben die Kiewer Machthaber
mit brutaler Waffengewalt im
Osten der Ukraine eine Situation geschaffen,
die man nicht anders denn
als Bürgerkrieg bewerten kann. Dafür
gelten Art. 3 der Genfer Konventionen
von 1949 und das II. Zusatzprotokoll
von 1977, die den Schutz
der Zivilbevölkerung gebieten und
Angriffe auf sie und auf einzelne Zivilpersonen
und lebensnotwendige
Objekte verbieten.
Es gibt im Völkerrecht kein allgemeines
Recht von Teilen der Bevölkerung
eines Staates auf einseitige
Sezession gegen den Willen des
»Mutterstaates«. Das könnte den Zerfall
der Staatenwelt in unzählige Subjekte
begünstigen, die internationalen
Beziehungen destabilisieren und
völlig dem Diktat imperialistischer
Großmächte ausliefern. Dem steht
das in die Souveränität eingeschlossene
Recht jedes Staates auf territoriale
Integrität entgegen.
Sezessionen sind aber auch nicht
generell völkerrechtlich verboten. In
der Völkerrechtswissenschaft wird
mehrheitlich die Auffassung vertreten,
dass in Ausnahmefällen ein Recht
auf Sezession unter Berufung auf das
Selbstbestimmungsrecht anerkannt
werden muss. Ein solcher Fall ist dann
gegeben, »wenn die Rechte der betroffenen
Bevölkerungsgruppe dauerhaft
und schwerwiegend verletzt
werden und ein Autonomiestatus von
dem Staat verweigert wird …, wenn
eine Situation absolut untragbar für
ein Volk nicht nur in der Gegenwart
sondern auch ohne Aussicht auf Besserung
in der Zukunft ist, und kein
anderer Ausweg sich anbietet.« (Norman
Paech/Gerhard Stuby) Mit der
Diskriminierung und Verfolgung russischstämmiger
Menschen durch die gegenwärtigen Kiewer Machthaber ist
die Ostukraine nahe an einen solchen
Ausnahmefall gekommen.
Die Sezession der Krim von der Ukraine
war nicht mit dem Prinzip der
Achtung der territorialen Integrität
vereinbar. Das bleibt so, auch wenn
man in Rechnung stellen muss, dass
der Westen seit dem Epochenumbruch
1990/92 in steigernder Stufenfolge
legitime Interessen Russlands
mit Füßen getreten hat.
Aber aus historischen und sicherheitspolitischen
Gründen und auch unter dem Aspekt des Selbstbestimmungsrechts
war die Rückkehr der Krim zu Russland zwar nicht legal,
aber legitim. Volksabstimmungen in
sezessionswilligen Gebieten sind –
falls sie nicht vertraglich vereinbart
oder vom Sicherheitsrat beschlossen
werden – keine Angelegenheit, über
die das Völkerrecht zu befinden hat.
Sie haben somit keine direkte völkerrechtliche
Relevanz. Sie können aber – wenn sie demokratischen Kriterien
standhalten – Indikatoren für
den Selbstbestimmungswillen der
betreffenden Bevölkerung sein, die
nicht ignoriert werden dürfen. Im Fall
der Krim war dieser Wille eindeutig.
Der oft nicht auflösbare Widerspruch
zwischen dem Schutz der territorialen
Integrität von Staaten und
dem Anspruch von Bevölkerungen auf
Selbstbestimmung über unabhängige
Staatlichkeit bringt umso mehr zwei
andere gleichermaßen verbindliche
Prinzipien des Völkerrechts für die
Behandlung von Sezessionskonflikten
ins Spiel: Erstens das Prinzip, dass
die Staaten in ihren internationalen
Beziehungen auf die Anwendung und
Androhung von Gewalt verzichten.
Eine Sezession darf nicht durch militärische
Gewalt eines anderen Staates
erzwungen werden. »Ein sich aus
einer Aggression ergebender Gebietserwerb
« wäre nach Art. 5 der allgemein
verbindlichen Aggressionsdefinition
der UN »nicht rechtmäßig
und darf nicht als rechtmäßig anerkannt
werden«.
Russland hat auf der Krim jedoch
keinen Aggressionsakt gegen die Ukraine
begangen. Es hat auch keine
Annexion der Krim durch Russland
stattgefunden, wie westliche Politiker
und Medien verlautbaren. Eine
Annexion ist nach der Prinzipien-Deklaration
die Aneignung von Territorium
eines Staates »durch einen anderen
Staat als Ergebnis der Androhung
oder Anwendung von Gewalt«.
Das trifft für die Aufnahme der Krim
in die Russische Föderation nicht zu.
Dagegen war die Abtrennung
Nordzyperns von Zypern eindeutig
ein Aggressionsverbrechen der Türkei,
das die NATO ihrem Mitglied und
die EU ihrem Beitrittskandidaten
nicht weiter übel nehmen. Die faktische
Abtrennung Kosovos von Serbien
war eines der Ergebnisse des völkerrechtswidrigen
Aggressionskrieges
der NATO gegen Jugoslawien.
Zweitens das Prinzip, »dass die Staaten
ihre internationalen Streitigkeiten
durch friedliche Mittel so beilegen,
dass der Weltfriede, die Internationale
Sicherheit und die Gerechtigkeit
nicht gefährdet werden.«
Dieses Prinzip verweist auf »Verhandlung,
Untersuchung, Vermittlung,
Vergleich«, auf die »Inanspruchnahme
regionaler Abmachungen
und Einrichtungen« (wie die
OSZE) oder andere friedliche Mittel
nach Wahl der Konfliktparteien. Die
Verhängung von »Strafen« und Sanktionen
gegen Russland ist nicht nur
sinnlos und laut Altbundeskanzler
Helmut Schmidt »dummes Zeug« und
geeignet den Konflikt zu verschärfen,
sondern zudem völkerrechtswidrig,
weil die Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung
verletzt wird.
* Aus: neues deutschland, Freitag, 6. Juni 2014
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