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Kreml redet von Rückzug

Ukraine vor 3. Runden Tisch / Vergiftungstod in Odessa?

Von Klaus Joachim Herrmann *

Das kritische ukrainisch-russische Verhältnis scheint sich nach Monaten der Eskalation vor der Präsidentenwahl etwas zu entspannen.

Russland habe entschieden, eine »militärische Operation in der Ukraine aufzuschieben«, erklärte am Montag der Chef des ukrainischen Zentrums für militärpolitische Forschungen, Dmitri Tymtschuk. Die Wahrscheinlichkeit eines Eingreifens bleibe aber bestehen, solange sich Truppen des Nachbarn an der Grenze befänden, sagte er laut der Agentur UNIAN vor Journalisten.

Genau dies will Russland offenbar ändern. Ausdrücklich zur Kenntnis nahm das Außenministerium in Kiew die Erklärung Russlands über den Abzug von Truppen, die an Übungen in der Nähe der Grenze teilgenommen hätten. Zugleich wurde die russische Seite aufgerufen, für den 21. bis 25. Mai geplante Übungen der Luftwaffe abzusagen, weil sie die Spannungen während der Präsidentenwahl verstärkten.

Zuvor hatte Russlands Präsident Wladimir Putin laut ITAR-TASS Verteidigungsminister Sergej Schoigu den Rückzug befohlen. Die Frühjahrsmanöver auf den Übungsplätzen in den Grenzgebieten Brjansk, Rostow am Don und Belgorod seien abgeschlossen. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen bedauerte am Nachmittag, dass er einen Abzug nicht bestätigen könne.

Die Übergangsregierung in Kiew wurde von Präsident Putin aufgefordert, ihre »Anti-Terror-Operation« im Osten der Ukraine zu beenden. Die Gewalt müsse aufhören, damit die Krise durch Dialog friedlich gelöst werden könne, hieß es in einer Mitteilung des Kremls. Außenminister Sergej Lawrow wurde schärfer. Er erklärte, dass diese Operation »bereits jetzt in eine Terroraktion gegen ukrainische Staatsbürger allein wegen deren politischen Überzeugungen ausartet«. Das Wichtigste sei, den Strafeinsätzen im Südosten ein Ende zu setzen.

Den Runden Tisch zur Beilegung der Staatskrise in der Ukraine anerkannte Lawrow sogar erstmals – »bei allen Nachteilen« – als Schritt in die richtige Richtung. Anhängern der Föderalisierung werde zwar kaum Gehör geschenkt, es seien inzwischen aber einige Vertreter beteiligt, räumte er ein. Ein 3. Runder Tisch der »nationalen Einheit« soll am Mittwoch im ostukrainischen Donezk stattfinden.

Die Wahl in der Ukraine wird am kommenden Sonntag von rund tausend Beobachtern der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) verfolgt. Einhundert Langzeitbeobachter seien seit längerem im Land, darunter acht deutsche, sagte der Sprecher des deutschen Außenamts Martin Schäfer. 900 Kurzzeitbeobachter sollen bis Mittwoch in der Ukraine eintreffen.

Das Innenministerium legte in Kiew Untersuchungsergebnisse zum Tod von 48 Menschen am 2. Mai im Gewerkschaftshaus von Odessa vor. Danach sollen 32 Menschen an einer Vergiftung mit Chloroform gestorben sein.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 20. Mai 2014


Keine Einigung in Kiew

Ukraine: Anschlag auf KPU-Generalsekretär Simonenko. Krimtataren-Emir droht Rußland mit Dschihad

Von Reinhard Lauterbach **


Bei der zweiten Runde des »Nationalen Dialogs« in der Ukraine hat Übergangsministerpräsident Arseni Jazenjuk der Bevölkerung des Donbass mehr Rechte für die Regionen und einen Sonderstatus für die russische Sprache versprochen. Bedingung sei aber, daß die Einheit der Ukraine erhalten bleibe, sagte Jazenjuk bei dem Treffen, das am Samstag in Charkiw veranstaltet wurde. Der Einladung des in Donezk als Gouverneur amtierenden Oligarchen Sergej Taruta, das Treffen in seiner Stadt abzuhalten, war die Kiewer Regierung aus Sicherheitsgründen nicht gefolgt.

In den Kernfragen gab es aber weiterhin keine Einigung. Als eine Parlamentarierin aus dem Lager der Machthaber die ostukrainischen Politiker aufforderte offenzulegen, wer den Aufstand im Donbass finanziere, konterten die mit der Forderung, auch die Finanziers des Machtwechsels der Öffentlichkeit bekanntzugeben. Die in Charkiw anwesenden offiziellen Vertreter der regionalen Führungsschichten im Donbass verlangten von den Kiewer Machthabern, die »Antiterroroperation«in der Südostukraine sofort abzubrechen. Nur unter dieser Bedingung gebe es noch eine Chance, die Teilung der Ukraine abzuwenden, sagte zum Beispiel der Vorsitzende des Gebietsparlaments von Lugansk, Waleri Holenko. Hiervon wollte Jazenjuk ebensowenig wissen wie von der Forderung der ostukrainischen Politiker nach einer auch politischen Föderalisierung der Ukraine. Sein Argument: Auf diese Weise würden 27 Janukowitschs an die Stelle des einen treten, den man im Februar entmachtet habe. Die Zahl ist falsch, aber politisch gewollt: 27 Verwaltungsbezirke hatte die Ukraine bis zum Beitritt der Krim und Sewastopols zur Russischen Föderation. Heute sind davon mithin nur noch 25 übrig. Das Treffen endete ohne gemeinsame Beschlüsse. Der als Moderator des »Nationalen Dialogs« fungierende deutsche Spitzendiplomat Wolfgang ­Ischinger rief die politischen Gegner in der Ukraine auf, nur noch mit Worten zu kämpfen und nicht mehr mit Waffen.

Auch davon kann keine Rede sein. Die Armee samt ihrer Hilfstruppen griff mehrere Barrikaden der Aufständischen an und behauptete, einen ihrer militärischen Anführer gefangengenommen zu haben. Ein nächtlicher Angriff von Aufständischen auf ein Lager der Nationalgarde bei Slowjansk wurde nach Kiewer Angaben zurückgeschlagen. Den Aufständischen scheint es inzwischen an Kämpfern zu fehlen. Ihr Anführer Igor Strelkow rief in einer Botschaft alle Männer mit militärischer Grundausbildung auf, sich zum Kampf gegen die Kiewer Truppen zu melden, anstatt zu Hause »vor den Computern zu sitzen und Bier zu trinken«. Wer jetzt nicht mitkämpfe, dem blieben künftig nur Schande und Unterwerfung. In der Industriestadt Mariupol am Asowschen Meer räumte ein von dem Oligarchen Rinat Achmetow aus Arbeitern seiner Stahlwerke rekrutierter Ordnungsdienst die in der vorletzten Woche errichteten Barrikaden weg.

In Kiew attackierten Faschisten derweil am Freitag den Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU), Petro Simonenko. In einer Fernsehdiskussion hatte dieser zunächst seinen Rückzug von der Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl am 25. Mai erklärt. Im Land herrsche seit dem Staatsstreich vom Februar Chaos und Anarchie, die Ukraine befinde sich im Krieg und verliere Territorien. Zugleich hätten die Oligarchen ihre eigenen Privatarmeen gegründet und finanzierten paramilitärische Strukturen wie die Neonaziorganisation »Rechter Sektor«. Unter diesen Bedingungen sei eine reguläre Durchführung der Wahlen nicht möglich, sagte Simonenko. Nach der Sendung lauerten Faschisten Simonenko auf. An einer Straßensperre bewarfen die Angreifer den Wagen des KPU-Generalsekretärs mit einem Brandsatz, die Insassen konnten sich aber retten. Zwei Abgeordnete der Vaterlandspartei von Julia Timoschenko brachten ebenfalls am Freitag einen Antrag auf Auflösung der KPU ins Parlament ein.

Auf der Krim versammelten sich am Samstag etwa 20000 Krimtataren, um des 70. Jahrestags der Zwangsumsiedlung ihres Volkes nach Mittelasien 1944 zu gedenken. Die Kundgebung in der Regionalhauptstadt Simferopol verlief unter dem Knattern russischer Militärhubschrauber, die in geringer Höhe über den Versammelten kreisten. »Geistige Führer« der Tataren wie der Exdissident Mustafa Dschemiljew bemühen sich seit Wochen, die historischen Ressentiments der Minderheit gegen Rußland in Stellung zu bringen. Ein selbsternannter »Emir« der Krimtataren rief die Muslime der Krim gar zum »Heiligen Krieg« gegen Rußland nach syrischem Vorbild auf.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 20. Mai 2014


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