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Dialog, Drohung und kein Ultimatum

Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates und EU-Gipfel zur ukrainisch-russischen Krise einberufen

Von Klaus Joachim Herrmann *

Die Krise um die Krim bewegt sich international zwischen Drohungen und Diplomatie. In Moskau fallen die Kurse und in der Ukraine werden Regionalverwaltungen besetzt.

Ukrainische Soldaten und prorussische Bewaffnete unterhalten sich über eine Kasernenmauer hinweg und werden fotografiert – die ukrainische Halbinsel Krim am Montag war bis zum Abend ein vergleichsweise ruhiger Ort. Doch am Abend meldeten Agenturen ein Ultimatum. Russland habe von den auf der Krim stationierten ukrainischen Einheiten gefordert, bis 3 Uhr morgens die Regierung auf der Krim anzuerkennen, die Waffen niederzulegen und abzuziehen. Moskau dementierte: »Blödsinn!«

Für Montagabend hatte der UN-Sicherheitsrat eine weitere Sondersitzung zur Krise einberufen. Die EU-Außenminister diskutierten in Brüssel den Entwurf einer Erklärung. Die sollte die russische Militäraktion verurteilen und zugleich Hoffnung auf eine politische Lösung des Konflikts ausdrücken. Sanktionen gegen Moskau blieben im Gespräch, ebenso die Aussetzung von Verhandlungen über Reiseerleichterung und ein neues Kooperationsabkommen. Am Donnerstag soll es laut Angaben von Diplomaten einen EU-Sondergipfel zu diesem Thema geben.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und US-Präsident Barack Obama warfen Russland nach einem Telefonat am späten Sonntagabend vor, gegen das Völkerrecht zu verstoßen. Obamas Außenminister John Kerry wollte zur Unterstützung der Ukraine nach Kiew reisen. Die sieben führenden westlichen Industrieländer (G7) boten der Ukraine »starken finanziellen Rückhalt« an, ohne dass Zahlen genannt wurden.

Nach Angaben der Bundesregierung stellte der Westen Hilfe zur Begleichung von Schulden beim russischen Energiekonzern Gazprom noch für diesen Monat in Aussicht. Der russische Konzern Gazprom fordert die Begleichung von Rechnungen in Höhe von 1,5 Milliarden US-Dollar.

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sieht den Kontinent in einer tiefen Krise: »25 Jahre nach dem Ende der Blockkonfrontation ist die Gefahr einer erneuten Spaltung Europas real.« Er schlug eine »Fact Finding Mission« der OSZE in der Ostukraine und auf der Krim vor. Zudem plädierte der Chef des Auswärtigen Amtes für eine internationale Kontaktgruppe, die Russland und die Ukraine zum Dialog bewegen könnte. Auch der französische Außenminister Laurent Fabius betonte, neben der scharfen Verurteilung Russlands gebe es »die Notwendigkeit einer Vermittlung«.

Gehe Russland den bisherigen Weg weiter, müsse es »dafür bezahlen«, drohte der britische Europaminister David Lidington. Für den schwedischen Außenminister Carl Bildt gibt es eine politische Lösung des Konflikts nur »auf der Grundlage eines Rückzugs der russischen Truppen und der Rücknahme der Invasionsdrohung gegen die Ukraine«.

Bei der Eröffnung der Frühjahrssitzung des UN-Menschenrechtsrates in Genf hielt Russlands Außenminister Sergej Lawrow dagegen. Moskau verteidige seine Bürger und Landsleute, sichere ihre Menschenrechte. Der neuen Führung in Kiew warf er Vertragsbruch und gewaltsame Machtergreifung vor. Die Angst vor einer Eskalation trieb derweil international den Ölpreis in die Höhe, ließ den Rubel abrutschen und die Aktien an den russischen Börsen ins Minus fallen.

Die Formierung einer Verhandlungsdelegation steht auf der Tagesordnung des ukrainischen Parlaments am heutigen Dienstag. Mitglieder der Obersten Rada in Kiew sollen mit ihren Moskauer Kollegen der Staatsduma Kontakt aufnehmen, berichtete das ukrainische Webportal cegodnya.ua.

Der Vorsitzende der rechtsnationalistischen Partei »Swoboda«, Oleg Tjagnibok, kündigte vor Journalisten an, dass das heftig umstrittene Sprachengesetz überarbeitet werden solle. Die Abschaffung des Rechtes von Russen auf »ihre« Amtssprache hatte vor allem im Osten und Süden der Ukraine sowie auf der Krim wütende Proteste gegen die neue Führung in Kiew ausgelöst.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 4. März 2914


Diplomatische Lösung für die Krim gesucht

Außenminister Lawrow verteidigt vor Menschenrechtsrat russisches Vorgehen / Treffen mit UN-Generalsekretär

Von Marc Engelhardt, Genf **


Am Rande des UN-Menschenrechtsrats nehmen Bemühungen um eine diplomatische Beilegung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine an Fahrt auf.

Bei der 25. Sitzung des UN-Menschenrechtsrats, die Montag in Genf begonnen hat, geht es um viele Krisenherde. Doch am Eröffnungstag drehte sich schnell alles nur um einen, der auf der Tagesordnung fehlt: die Ukraine und die Krim. Russlands Außenminister Sergej Lawrow nutzte seine Rede zu Beginn für eine Anklage. »Die uns jetzt mit Sanktionen drohen, haben das Land durch die einseitige Unterstützung der Oppositionsgruppen in Kiew doch erst gespalten«, klagte er. Für ihn sei klar, wer für die Eskalation verantwortlich ist: nicht Russland.

Die Präsenz russischer Soldaten auf der Krim verteidigte Lawrow als rechtmäßig: »Wir haben auf einen Hilferuf der legitimen Regierung reagiert, die uns um Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung auf der mehrheitlich von Russen bewohnten Halbinsel gebeten hat.«

Der Regierung in Kiew warf Lawrow Wortbruch vor. Erst habe sie sich mit dem damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch auf eine gemeinsame Übergangsregierung geeinigt, dann aber gewaltsam die Macht übernommen und eine »Regierung der Sieger« installiert. Lawrow kritisierte ausdrücklich die Einschränkung der Minderheitenrechte ethnischer Russen in der Ukraine, denen etwa der Gebrauch der russischen Sprache umgehend nach dem Machtwechsel untersagt worden sei.

Manche Mitglieder des Menschenrechtsrats dürften die Rede mit zusammengebissenen Zähnen verfolgt haben. Doch offene Kritik blieb aus. Europas Diplomaten hatten zuvor verabredet, die Diskussion über die Ukraine im Sicherheitsrat zu führen, wo Fragen von Krieg und Frieden behandelt werden.

Vor allem aber wollte wohl niemand die diplomatische Offensive torpedieren, die am Rande des Treffens kräftig Fahrt aufnahm. Als erster teilte noch vor Lawrows Rede der Schweizer Bundespräsident Didier Burkhalter als amtierender OSZE-Vorsitzender mit, er bemühe sich um die Gründung einer Kontaktgruppe, in der alle beteiligten Seiten vertreten sein sollen.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon traf mit Lawrow zusammen – mit einer klaren Botschaft. »Beide Seiten müssen zur Deeskalation beitragen«, sagte Ban. »Russland muss von jeglichen Aussagen oder Maßnahmen Abstand nehmen, die die Lage weiter zuspitzen könnten.« Mit der gleichen Botschaft für die ukrainische Regierung habe er seinen Stellvertreter Jan Eliasson nach Kiew entsandt. »Es ist jetzt von größter Wichtigkeit, die Lage in der Ukraine durch einen konstruktiven und friedlichen Dialog zu beruhigen.« Sowohl Ban als auch Lawrow erwähnten mehrfach die OSZE als möglichen Vermittler. Auch mit der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton und Frankreichs Präsident François Hollande habe er über diese Möglichkeit gesprochen, sagte Ban.

Der UN-Menschenrechtsrat tagt bis 28. März. Zu seinen Themen gehören der Krieg in Syrien, die Menschenrechte in Sri Lanka und der Bürgerkrieg in Zentralafrika.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 4. März 2914


Sturm auf Verwaltungen

In der Ukraine ist es am Montag laut örtlichen Medien zum Sturm auf mehrere regionale Verwaltungen gekommen. So seien die Gebietsverwaltungen der im Osten des Landes gelegenen Industrieregion Donezk und der Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer von angeblich prorussischen Gruppen besetzt worden. Als Hintergrund der Aktionen wurden Forderungen nach Volksabstimmungen über eine größere Autonomie der Gebiete genannt.

Auf der Krim sollen rund 6000 Angehörige der ukrainischen Streitkräfte zur russischen Seite übergelaufen sein, berichteten Agenturen unter Berufung auf die Regierung in der Krim-Hauptstadt Simferopol. Zuletzt habe ein Stützpunkt mit rund 800 Soldaten und 45 MiG-Kampfjets die Seiten gewechselt. Zuvor hätten sich Einheiten der Küstenwache und der Flugabwehr losgesagt, hieß es.

Für internationales Aufsehen hatte am Vorabend gesorgt, dass sich der erst am Sonnabend ernannte Befehlshaber der ukrainischen Marine, Denis Beresowski, den prorussischen Kräften auf der Krim angeschlossen hatte. Die ukrainische Staatsanwaltschaft leitete daraufhin ein Verfahren wegen Landesverrats gegen den Admiral ein. khe




Warteschlangen vor Moskauer Wechselstuben

Der Rubel fällt auf historisches Tief und an den Börsen gibt es Milliardenverluste / Gazpromaktien stürzten in einer halben Stunde um zehn Prozent

Von Irina Wolkowa, Moskau ***


Die Entscheidung für ein russisches Engagement auf der Krim hat für Russlands Wirtschaft Folgen: Kursstürze von Aktien und Rubel.

Warteschlangen kennen Moskauer unter 20 Jahren nur noch aus den Erzählungen von Eltern und Großeltern. Jetzt ist sie sie wieder da: die Wartegemeinschaft. Gestürmt werden die Wechselstuben. Durch das Mandat, das der Föderationsrat Präsident Wladimir Putin am Sonnabend für einen Einmarsch in die Ukraine erteilte, erreichte der Wechselkurs des Rubels, der seit Wochen konstant auf Talfahrt ist, ein neues Tief. Gleich bei der Eröffnung des Devisenhandels am Montag gab der Rubel gegenüber dem Dollar um 80 Kopeken nach, der von der Zentralbank festgelegte Kurs beläuft sich inzwischen auf 1:37.

Heulen und Zähneklappern herrscht auch an den Moskauer Börsen MMWB und RTS. Insgesamt fast zwei Billionen Rubel – etwa 40 Milliarden Euro – verloren russische Unternehmen schon kurz nach Eröffnung des Handels an Wert. Für zusätzliche Panik sorgte die Zentralbank, die den Leitzins auf einen Schlag um 1,5 Prozent heraufgesetzt hatte. Bei MMWB gab der Kurs russischer Aktien um rund 9,5 Prozent nach, bei RTS sogar um mehr als elf Prozent. Das ist mehr als das Doppelte im Vergleich zu August 2008, als Russland mit Georgien Krieg führte. Rasant verloren vor allem staatsnahe Unternehmen an Wert: Gazprom allein in der ersten halben Stunde fast zehn Prozent.

Bei der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise im Herbst 2008 berappelten sich die Kurse jedoch erheblich schneller als in den entwickelten Industriestaaten. Diesmal sind die Hoffnungen auf rasche Erholung geringer. Analysten fürchten sogar, Schlimmeres. Der Grund: mögliche Sanktionen des Westens gegen Russland. Die Vorbereitungen für den G-8-Gipfel Anfang Juni in Sotschi haben alle sieben westlichen Industrienationen ausgesetzt. Optimisten hoffen, EU und USA werden es damit bewenden lassen. Wegen der eigenen Abhängigkeit von russischem Gas und von Exporten auf den russischen Markt.

Für die Regierungskritiker dagegen ergeben Sanktionen durchaus Sinn. Sie würden die Preise für Importe in die Höhe treiben, die Inflation anheizen und sozialen Zündstoff schaffen, der zum Anfang vom Ende der Ära Putin werden könnte. Mögliche Sanktionen und einen drohender Krieg haben aus Sicht der Wirtschaftszeitung »Wedomosti« auch die Differenzen innerhalb der Elite verstärkt. Gegen eine Eskalation der Krim-Krise, glaubt das Blatt, würde sich sogar das Beamtenheer sperren.

Putin, schreibt »Wedomosti« unter Berufung auf zwei Beamte aus dem Apparat der Regierung, habe sich, bevor er den Föderationsrat um Genehmigung für die Entsendung von Truppen in die Ukraine bat, nicht mit den für Wirtschaft und Finanzen zuständigen Kabinettsmitgliedern konsultiert. Hiesige Medien zitierten Putins Sprecher mit den Worten, Russland erachte es für notwendig, die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine und die auf der Krim stationierte russische Schwarzmeerflotte zu schützen, alles andere sei »zweitrangig«. Premier Dmitri Medwedjew holte ein Projekt aus der Kiste, das schon 2003 um Haaresbreite zu einem bewaffneten Konflikt mit der Ukraine geführt hätte: eine Brücke von der Krim zur Halbinsel Taman in der südrussischen Region Krasnodar. Der staatlichen Straßenbaukonzern soll eine Aktiengesellschaft für die Realisierung gründen.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 4. März 2914


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