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Putin hat nun alle Vollmachten

Moskau hofft auf Besserung der Lage / Eskalation auf der Krim und im ukrainischen Osten Kurs auf mehr Autonomie

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Präsident Putin kann russischen Truppen jederzeit den Einsatzbefehl in der Ukraine geben. Kiew argwöhnt, auf der Krim seien sie längst.

Russlands Präsident Wladimir Putin verfügt über eine Hintertür. Um den Einsatz von Truppen auf der Krim zu vermeiden, müsste sich die Lage dort entspannen und »die Gefahr für Russen abnehmen«, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow im Rundfunksender »Echo Moskwy«, Der Föderationsrat habe Putin zwar das Mandat für den Einsatz erteilt, es sei jedoch Sache des Präsidenten, darüber zu entscheiden, ob er es wahrnimmt, ebenso über Zeitpunkt, Umfang und Art. »Wir hoffen daher, dass sich die Situation zum Besseren wendet«, sagte Peskow.

Konsultationen mit Julia Timoschenko, so hofften Beobachter, hätten die Wende einleiten können. Russische Medien hatten den Moskau-Besuch der ehemaligen Ministerpräsidentin der Ukraine und Chefin der Vaterlandspartei unter Berufung auf die ukrainische Agentur UNN angekündigt. Die proeuropäischen Protestler auf dem Kiewer Maidan, sagte Politikwissenschaftler Stanislaw Belkowski vom Moskauer Institut für Nationale Strategien, hätten Timoschenko nach ihrer Freilassung einen kühlen Empfang bereitet. Sie misstrauten den alten Eliten generell. Bei den Präsidentenwahlen Ende Mai hätte Timoschenko daher nur geringe Siegeschancen. Das würde sich jedoch schlagartig ändern, wenn sie sich mit Putin über einen tragfähigen Kompromiss zur Beilegung der Krimkrise einigte, sagte der Politologe bei »Echo Moskwy«. Beide Seiten müssten dabei Federn lassen.

Für Putin aber hätte eine derartige Lösung gleich zwei gute Seiten. Mit Timoschenko würde in der Ukraine eine Präsidentin die Macht übernehmen, die trotz aller prowestlicher Rhetorik auf russische Interessen Rücksicht nehmen müsste. So wie 2009, als beide Politiker einen Kompromiss zu russischen Gaslieferungen aushandelten, von dem vor allem Moskau profitierte. Die damalige Regierungschefin Timoschenko kassierte dafür allerdings eine siebenjährige Haftstrafe.

Doch aus dem Moskau-Besuch wird wohl doch nichts. Sonntag dementierte Timoschenko auf Twitter. Nun muss Putin nach anderen Möglichkeiten für das Krisenmanagement suchen. Er sei an einem Waffengang nicht interessiert, glaubt die Mehrheit russischer Experten. Dafür spricht indirekt vor allem die Tatsache, dass bis Sonntag keine regulären Truppen in die Ukraine verlegt wurden. Offenbar liefen auch noch keine konkreten Vorbereitungen. Derzeit werde weder über die mögliche Personalstärke oder über die beteiligten Waffengattungen gesprochen, sagte Vizeaußenminister Grigori Karassin der Nachrichtenagentur RIA/Nowosti.

Russland, erklärte auch Regierungschef Dmitri Medwedjew am Sonnabend in einem Telefongespräch mit seinem ukrainischen Kollegen Arseni Jazenjuk, sei an der Beibehaltung »stabiler und freundschaftlicher Beziehungen mit der Ukraine« interessiert. Die schrillen Töne Putins, meint Alexei Malaschenko vom Moskauer Carnegie-Zentrum, seien vor allem ein innenpolitisches Signal. Der Kreml wolle zeigen, dass in Russland ein Umsturz wie in der Ukraine keine Chancen habe. Putin wisse sehr wohl, dass mit einem Militäreinsatz in der Ukraine für den Westen die rote Linie überschritten wäre.

Auf der Krim war die russisch-ukrainische Krise am Wochenende eskaliert. Kiew hatte einen neuen Polizeichef für die Krim ernannt, ohne die Personalie mit den Behörden der Region abzustimmen, wie es das Autonomieabkommen vorsieht. Bewaffnete aus Kiew versuchten sogar, das Innenministerium in der Hauptstadt Simferopol zu besetzen. So stellten es jedenfalls Moskau und die Regierung der Krim dar.

Kiew seinerseits behauptet, bei den Bewaffneten, die weder Rang- noch Erkennungszeichen auf den Uniformen trugen, habe es sich um Angehörige der auf der Krim stationierten russischen Schwarzmeerflotte gehandelt und um jene 2000 Mann, die Moskau schon am Freitagabend entsandt hätte.

Krimchef Sergej Aksjonow erklärte sich daraufhin zum Obersten Befehlshaber aller auf der Halbinsel stationierten Truppen der ukrainischen Zentralregierung und verstieß damit seinerseits gegen den Autonomievertrag. Auf der Krim gäbe es keine Einheiten mehr, die Befehle aus Kiew ausführen könnten, meldete RIA nowosti am Sonntag.

In Charkiw und anderen süd- und ostukrainischen Zentren kam es Samstag zu großen prorussischen Kundgebungen. Charkow und Donezk erwägen Volksentscheide über mehr Autonomierechte. Gouverneure in Südrussland fordern derweil Hilfe bei der Versorgung von Flüchtlingen aus der Ukraine. Laut dem Staatsfernsehen suchten hier bisher rund 143 000 Menschen Zuflucht vor »Willkür und Gesetzlosigkeit«.

* Aus: neues deutschland, Montag, 3. März 2914


Kiew kann viel befehlen

Ukrainische Streitkräfte haben ihre Herkunft noch nicht abgestreift

»Ich gebe den Befehl, alle Militäreinheiten in volle Kampfbereitschaft zu versetzen.« Der ukrainische Übergangspräsident Alexander Turtschinow klingt martialisch. Doch wer hört auf ihn?

Noch vor einem halben Jahr hätte man mit Fug und Recht gut 80 000 Heeressoldaten, über 50 000 Mann der Luftwaffe und 15 000 Marineangehörige addieren können. Dazu kämen knapp eine Million Reservisten, Truppen des Innenministeriums und Grenzschutzabteilungen.

Vor allem die Luftwaffe ist kampfstark. Die Ukraine verfügt über Hightech-Luftfahrtbetriebe in Kiew, Lwiw und Saporoshje. Bei der jüngsten Übung »Herbst-Examen« 2013 in Iwano-Frankiwsk boten die Kampfgeschwader modernes Gerät: MiG 29, Su 27, Su 24 und Su 25-Flugzeuge, die zum Teil mit Hightech-Upgrades versehen sind. Der Ausbildungsstand, so zeigte sich auch bei Übungen mit NATO-Verbänden, ist gut.

Insgesamt befinden sich die Streitkräfte, die aus der Sowjetarmee hervorgegangen sind, derzeit auf dem Weg zu einer Berufsarmee: neue Strukturen, neue Schwerpunkte bei Ausrüstung, Ausbildung und Taktik.

Wichtiger als Technik und Taktik ist jedoch der moralische Zustand der Truppe. Sie hat sich beim Umsturz in Kiew und der Westukraine herausgehalten. Offenkundig genießt die neue Regierung nicht das Vertrauen aller Kommandeure. Die gut 3000 Soldaten der Krim-Brigade verstehen sich dagegen wohl bestens mit der russischen Marineinfanterie. Als das Flaggschiff der ukrainischen Marine, die Fregatte »Hetman Sahajdatschy«, jetzt von einer NATO-Übung ins Schwarze Meer einlief, wehte am Mast die russische Flagge.

In der NATO weiß man wenig über die Kräfteverhältnisse innerhalb der ukrainischen Armee. Das mag sich auch mit deutscher Hilfe ändern. Das Flottendienstboot »Alster« ist auf dem Weg. Vorerst Kurs Mittelmeer. hei




Kampf um die Krim

Russen entwaffnen Ukrainer – Kiew ruft Generalmobilmachung aus. Moskau: Westen unterstützt illegitimes Regime

Von Reinhard Lauterbach **


Auf der Krim haben russische Truppen am Wochenende etliche ukrainische Militäreinheiten entwaffnet. Eine Meldung der russischen Nachrichtenagentur RIA vom Mittag behauptete, es gebe auf der Krim keine handlungsfähigen ukrainischen Verbände mehr. Ukrainische Quellen halten dagegen, in einer Basis bei Simferopol habe sich der ukrainische Kommandeur geweigert, eine Entwaffnung zu akzeptieren. Die russische Seite versuchte offenbar nicht, sie zu erzwingen.

Unklar ist, in welchem Umfang das russische Angebot an ukrainische Polizisten und Militärs zum Überwechseln angenommen wurde. Russische Quellen berichteten, solche Übertritte gebe es »in Massen«; von ukrainischer Seite wurde dies dementiert. Festzustehen scheint, daß zahlreiche Angehörige der aufgelösten ukrainischen Sonderpolizeieinheit Berkut in russische Dienste übertreten. Im russischen Konsulat in der Krim-Hauptstadt Simferopol wurden im Eilverfahren russische Pässe an die Ukrainer ausgegeben. Ehemalige Berkut-Soldaten haben an den Straßen zwischen der Krim und dem ukrainischen Festland Straßensperren errichtet. Journalisten werden angeblich nicht durchgelassen. Der Flughafen von Simferopol funktioniert dagegen offenbar normal.

In Kiew beschloß die Regierung die Generalmobilmachung und berief alle Reservisten zum Dienst ein. Der als »Präsident« amtierende Olexander Turtschinow sprach in einer Fernsehansprache von einer »unprovozierten Aggression« Rußlands gegen die Ukraine. Er rief das ukrainische Militär auf, sich nicht auf Schußwechsel mit russischen Truppen einzulassen. Der Aufruf entspricht einerseits dem realen Kräfteverhältnis, hat andererseits aber eine propagandistische Dimension. Denn gleichzeitig versuchen die Kiewer Machthaber alles, um den Konflikt um die Krim zu internationalisieren. So riefen sie UN und EU auf, Beobachter ins Land zu schicken und bei der Bewachung von Atomkraftwerken und ähnlichen Anlagen zu helfen. Auch die NATO erhielt von Kiew eine Bitte um »brüderliche Hilfe«. Die Außenminister des Bündnisses wollten sich noch am Sonntag zu einer Sondersitzung treffen.

Zwei Debatten des UN-Sicherheitsrates zur Lage in der Ukraine blieben am Wochenende ohne Ergebnis. Westliche Vertreter riefen Moskau auf, die Lage zu entspannen und seine Truppen in die Kasernen zurückzuschicken. US-Präsident Obama telefonierte 90 Minuten lang mit seinem russischen Kollegen Putin und drohte ihm mit »schwerwiegenden Konsequenzen«. Rußland warf dem Westen vor, in Kiew ein illegitimes Regime zu unterstützen, das die Rechte der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine unterdrücke. Eine indirekte Bestätigung hierfür kommt aus Kiew. Ein Pressesprecher von »Präsident« Turtschinow kündigte an, dieser werde sein Veto gegen das diskriminierende Sprachgesetz einlegen, das das Parlament in den ersten Tagen der Machtergreifung verabschiedete. Das Gesetz hat offenbar dazu beigetragen, die bisher weitgehend passiven russischsprachigen Ukrainer gegen die neue Macht zu mobilisieren.

Am Freitag und Samstag hatte es in mehreren Städten der Ost- und Südukraine prorussische Demonstrationen gegeben. In Charkiw eroberten etwa 5000 Demonstranten einige staatliche Verwaltungsgebäude zurück, die zuvor von Anhängern des »Euromaidan« besetzt worden waren. Anschließend holten die Besetzer die ukrainischen Flaggen ein und setzten russische.

** Aus: junge welt, Montag, 3. März 2914


Bürger schützen – und Interessen

Klaus Joachim Herrmann über ein russisches Eingreifen auf der Krim ***

Die Politik Russlands gegenüber der Ukraine ist von US-amerikanischer Art. Wenn Amerikaner und nationale amerikanische Interessen irgendwo bedroht sind, behält sich in Washington Präsident Obama ein Eingreifen vor. Wenn nun Russen und nationale russische Interessen in der Ukraine bedroht sind, behält sich in Moskau Präsident Putin ein Eingreifen vor.

Russen – und auch andere Volksgruppen – sind von der neuen Macht in Kiew real und demonstrativ bedroht. Den rechten Ultranationalisten und der neuen »westlichen« Mehrheit im Parlament waren sie sofort die Abschaffung ihres Rechtes auf Amtssprache wert. Das setzte die Rechtspartei »Swoboda« auf die Tagesordnung und beschwor damit finsterste Geister des Großen Krieges: die Faschisten und ihre Bandera-Kollaborateure.

Die Kiewer Rus könnte man schon mal als eine Art heiliges Amselfeld der nationalen Erweckung verstehen. Die Ukraine ist in jedem Falle Moskaus militärisches Vorfeld. USA, EU und NATO rücken seit dem Zerfall der Sowjetunion gezielt in die geostrategischen Räume um Russland ein. Darin wiederum ist die Krim dessen unersetzlicher Zugang zum Schwarzen und zum Mittelmeer, zum Nahen Osten.

Also gilt es Bürger zu schützen – und Interessen. Die USA haben schon mit geringeren Gründen interveniert. Der Unterschied? Jetzt wären es die Russen, und die waren allzu lange nicht einmal Verhandlungen wert.

*** Aus: neues deutschland, Montag, 3. März 2914 (Kommentar)


Haltet den Dieb

Die Ukraine-Krise und der Westen

Von Reinhard Lauterbach ****


Die Krokodilstränen westlicher Politiker über eine angebliche Verletzung des Völkerrechts durch Rußland im Zusammenhang mit der Besetzung öffentlicher Gebäude auf der Krim durch Soldaten der Schwarzmeerflotte wirken allenfalls peinlich. Die Kiewer Machthaber, gegen die Rußland seine Truppen aus den Kasernen geholt hat, sind eben nicht jene »legitime Regierung«, als die die westliche Propaganda sie unablässig darstellt. Ihre Machtergreifung fand, wie US-Quellen für den internen Gebrauch selbst feststellen, auf verfassungswidrige Weise statt, und zwar nicht nur entgegen jener Verfassung, die die Maidan-Besetzer als undemokratisch wieder abschaffen wollten, sondern unter Verletzung genau jener ukrainischen Verfassung von 2004, die die Putschisten anschließend wieder installiert haben. Wenn der US-Analysedienst Stratfor, dem diese Erkenntnisse zu verdanken sind, anschließend kommentiert, diese Rechtsmängel seien aber nicht so schlimm, weil die Ukraine ja keine so ehrwürdige konstitutionelle Tradition habe wie die USA, spricht das für sich. Es bleibt dabei: Das Arsenjuk-Turtschinow-Regime ist im juristischen Sinne ein Usurpatorenverein, auch wenn seine westlichen Freunde und Förderer diese Putschtruppe alsbald anerkannt haben. Wenn ich auf dem Flohmarkt ein Fahrrad kaufe, von dem ich weiß oder wissen muß, daß es gestohlen ist, gelte ich als »bösgläubiger« Erwerber und kann mich nicht auf das Eigentumsrecht berufen, auch wenn ich die faktische Sachherrschaft habe, also das Rad in meinem Keller steht. Die bösgläubige Anerkennung einer Staatsgewalt ist juristisch auch nichts anderes – oder man heiligt das Faustrecht.

Dem russischen Argument, man müsse eigene Bürger in der Ukraine schützen, sieht man die Abstammung von der Doktrin der »Responsibility to Protect« an: jener angeblichen »Schutzverantwortung«, mit der das westliche Machtkartell seit Jahren seine À-la-carte-Interventionen in aller Welt rechtfertigt. Was vom Schutz der syrischen Bevölkerung nach drei Jahren westlicher Schutzverantwortung übrig ist, ist hinreichend bekannt; die Flüchtlingszahlen sprechen für sich. Libyen ist ein weiteres Beispiel, in der Zentralafrikanischen Republik kann man dieselbe Doktrin in europäischer Version beobachten. Im Unterschied dazu gibt es allerdings auf der Krim tatsächlich 1,5 Millionen Russen, die nach den nationalistischen Exzessen auf dem Maidan durchaus Anlaß haben, um ihre Sicherheit zu fürchten. Die USA waren 1962 bereit, wegen sowjetischer Raketenstellungen an ihrer Südflanke die Welt an den Rand des Atomkriegs zu treiben; Rußland hingegen soll den Angriff auf seine Südwestflanke einfach so hinnehmen und noch Dankeschön sagen. Heuchelei ist »unser« Geschäft.

* Aus: junge Welt, Montag, 3. März 2914 (Kommentar)


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