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Ost-West-Brücke oder Streitobjekt zwischen den Mächten

In der Ukraine geht es um mehr als nur das Präsidentenamt – es geht um die nachsowjetische Ordnung

Von Klaus Joachim Herrmann *

Eine Sonderrolle zwischen der EU und Russland spielt die Ukraine. Sie kann hierhin oder dorthin gehören, Brücke oder Puffer sein. Deshalb ist sie nun innen und außen Gegenstand eines erbitterten Streits.

Europa Ja oder Nein, entweder Brüssel oder Moskau, russlandfreundliche Macht oder westlich orientierte Opposition – bei jedem Thema befindet sich die Ukraine derzeit in der Konfrontation. Die Bilder eines sich zur Revolte ausweitenden Bürgerprotestes beherrschen die Medien und sind Ausgangspunkt politischer Parteinahme. Die strategische Auseinandersetzung verschwindet aber im Qualm der brennenden Reifen im Zentrum der Hauptstadt Kiew.

Es begann mit dem friedlichen Protest bis zu Hunderttausender Menschen gegen das, was als eine Absage an Europa verstanden wurde. Das eher vage und gerade für die Europäische Union wenig verbindliche Assoziierungsabkommen mit der Ukraine wurde von Präsident Viktor Janukowitsch nicht unterzeichnet. Das war das Ende seines Pokers um die besten Bedingungen. Es hatte aber nur als Aufschub erscheinen sollen, als pragmatische Entscheidung für 15 Milliarden Dollar russischer Kredite und Preisnachlässe bei Erdgas vor dem drohenden Winter. Wichtig genug für einen Staat nahe der Pleite. Weil der Kreml genau das bot, was dem Westen unbillig und unbezahlbar erschien, konnte Präsident Wladimir Putin sein strategisches Vorland etwas besser befestigen. Das war es ihm wert.

Schließlich machten USA, EU und NATO nie ein Geheimnis daraus, in den nachsowjetischen Raum um Russland wieder einrücken zu wollen. Das Programm der Östlichen Partnerschaft meint ja sogar namentlich die Anbindung ganz genau der früheren Sowjetrepubliken: Armenien, Aserbaidshan, Belarus, Georgien, Moldau und Ukraine. Für Europa, so heißt es auch offiziell, »würde die Partnerschaft mehr Stabilität und Sicherheit im Osten bedeuten«, wie die Europäische Kommission kund tat. Das neue System zur Raketenabwehr täte dann ein übriges.

Die Ukraine ist in diesem Raum sicher der wichtigste Faktor, nach der Größe, der Bevölkerungszahl von rund 46 Millionen Menschen und der Wirtschaftskraft. Nicht zu vergessen die direkte Nachbarschaft mit Russland, Belarus, Polen, der Slowakei, Ungarn, Rumänien und der Republik Moldau. So gesehen, muss die Ukraine nach Europa nicht erst eingeladen werden. Sie steckt ja mittendrin – aber eben nicht in der EU und ihren Strukturen. Die Assoziation, die unterschriftsreif vorlag, platzte jedoch.

Dasselbe droht in gewisser Weise aber auch den Vereinbarungen mit Russland. Denn ein Machtwechsel in Kiew würde den Kreml wohl nachdenken lassen, ob eine Ukraine auf Westwanderung noch als slawischer Bruder zu begünstigen wäre. Eng verwandt bleiben beide allemal. Kiew gehörte einst zur Rus wie Moskau. Was später »Ukraine« hieß, war im Russischen Reich noch »Kleinrussland«. Beide dort dominierenden Sprachen – Ukrainisch und Russisch – sind gemeinsamen ostslawischen Ursprungs. Ein starke Bindung an Russland ist besonders im Osten und Süden der Ukraine traditionell.

Schon vor gut anderthalb Jahrhunderten wurde um die Ost- oder Westanbindung ebenso gestritten wie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Dann auch um die Vorherrschaft der ukrainischen gegenüber der russischen Sprache. Nach Ukrainisch und Westen oder Russisch und Osten lassen sich auch die Parteien sortieren – hier die Vaterlandspartei von Expremier Julia Timoschenko bis zu ihren ultranationalistischen Verbündeten, dort die Partei der Regionen des Präsidenten Viktor Janukowitsch mit den Kommunisten. Hatten erstere nach der orangefarbenen Revolution 2006 große Hoffnungen enttäuscht, dann letztere seit ihrem Wahlsieg 2012.

Die Wirkung einer weiteren enttäuschten Hoffnung wurde sträflich unterschätzt. Erst kamen friedliche Demonstranten mit dem Wunsch nach Europa in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Dann kamen Politiker, die die Sache nicht besser machten. Mit der Radikalisierung eskalierte die Gewalt. Doch nicht nur geografisch, sondern auch historisch und kulturell wäre die Ukraine zum Brückenschlag zwischen Ost und West, zwischen Russland und EU wie geschaffen. EU-Kommissionschef José Manuel Barroso schließt die Möglichkeit von dreiseitigen Verhandlungen aus. Wenn aber nicht alle Beteiligten an einen Tisch kommen, dürfte die Ukraine Streitobjekt zwischen den Mächten bleiben.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 28. Januar 2014


Kiew zwischen Blockade und Dialogbemühen

Regierungsgegner räumten Justizministerium / EU, OSZE und NATO in der ukrainischen Krise aktiv **

Nach Appellen auch von Oppositionspolitiker Vitali Klitschko haben radikale Regierungsgegner in Kiew die Besetzung des Justizministeriums beendet.

Die Demonstranten hätten das Gebäude des Justizministeriums in Kiew verlassen, hieß es am Montag. Sie blockierten aber weiter den Zugang zu dem Ministerium. Mehrere Dutzend Demonstranten hatten das Gebäude im Zentrum der Hauptstadt seit Sonntagabend besetzt gehalten. Klitschko hatte die Regierungsgegner aufgefordert, »Provokationen« zu unterlassen. Justizministerin Olana Lukasch hatte sogar mit der Verhängung des Ausnahmezustands gedroht.

Die Opposition um Klitschko erklärte sich unterdessen offiziell zu weiteren Gesprächen mit der Führung um Präsident Viktor Janukowitsch bereit. Es gehe darum, weiteres Blutvergießen und eine Eskalation der Lage zu verhindern, teilten Klitschko sowie der ehemalige Parlamentspräsident Arseni Jazenjuk und Nationalistenführer Oleg Tjagnibok mit. Der zuletzt andauernde »Waffenstillstand« auf den Straßen zwischen Sondereinheiten der Polizei und Regierungsgegnern zeige, dass ein Dialog grundsätzlich möglich sei. Beobachter in Kiew deuteten die Erklärung als wichtiges Kompromissangebot der prowestlichen Opposition vor einer Sondersitzung des ukrainischen Parlaments an diesem Dienstag.

Im westukrainischen Gebiet Ternopol hat die Opposition offensichtlich bereits die Macht übernommen. Nach Angaben die ukrainischen Agentur Unian hat das Regionalparlament die Tätigkeit und die Symbole der in Kiew regierenden Partei der Regionen und der Kommunistischen Partei verboten.

Neben der EU bemüht sich auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) um Vermittlung zwischen Regierung und Opposition. Er habe Ministerpräsident Mykola Asarow eine Reihe Vorschläge unterbreitet, »um die Chancen eines Dialogs zu erhöhen und die Gefahr der Gewalt zu reduzieren«, sagte der Schweizer Bundespräsident Didier Burkhalter am Montag beim Staatsbesuch in Warschau. Die Schweiz führt derzeit den Vorsitz der OSZE. Die Antwort der ukrainischen Regierung auf das Angebot der Vermittlung »in dieser heiklen Angelegenheit« stehe noch aus, sagte Burkhalter bei einer Pressekonferenz mit dem polnischen Staatschef Bronislaw Komorowski. Der sprach sich ebenfalls für eine Fortsetzung des Dialogs zwischen Regierung und Opposition aus. Es müssten Lösungen gefunden werden, »um das Risiko eines neuerlichen Gewaltausbruchs zu einzudämmen«. Unterdessen wollte EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle am Montag erneut nach Kiew fliegen, um die Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition voranzubringen.

Die seit Wochen demonstrierenden Regierungsgegner fordern den Rücktritt von Präsident Viktor Janukowitsch und Neuwahlen. Mehrere Gesprächsrunden zwischen dem Staatschef und der Opposition brachten bisher keinen Durchbruch. In den vergangenen Tagen gab es gewaltsame Auseinandersetzungen, mehrere Menschen wurden getötet.

Auch NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen drängt zum Dialog. »Wir fordern die ukrainische Regierung auf, grundlegende demokratische Prinzipien zu respektieren«, sagte Rasmussen am Montag in Brüssel. Die NATO und Kiew arbeiten in einem gemeinsamen Ausschuss eng zusammen, die Ukraine ist auch an den Militäreinsätzen in Afghanistan und Kosovo beteiligt.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 28. Januar 2014


Rechter Mob marschiert

Lage in der Ukraine gerät immer mehr außer Kontrolle. Warnung vor Ausnahmezustand. Sturm auf Gebietsverwaltungen von der Polizei zurückgeschlagen

Von Reinhard Lauterbach ***


Nach der Besetzung eines Gebäudes des ukrainischen Justizministeriums durch Regierungsgegner hat erstmals eine Regierungsvertreterin das Stichwort »Ausnahmezustand« in den Mund genommen. Justizministerin Jelena Lukasch forderte die Demonstranten in der Nacht im Fernsehen auf, das Gebäude wieder freizugeben; andernfalls werde sie Präsident Wiktor Janukowitsch bitten müssen, den Ausnahmezustand auszurufen. Die Drohung zeigte nach einigem Hin und Her Wirkung: nach etwa 14 Stunden verließen die Besetzer das Gebäude. Zuvor hatte der Leiter des Zeltlagers auf dem Unabhängigkeitsplatz sich von der Aktion distanziert; sie sei eine Provokation der Regierung. Auch Oppositionsführer Witali Klitschko hatte die Aktion in der Nacht kritisiert. Für die Besetzung des Justizministeriums erklärte sich eine bisher nicht bekannte Gruppe namens »Gemeinsame Sache« verantwortlich.

Trotz der leichten Entspannung zeigen die Entwicklungen des Wochenendes jedoch, daß der Regierung die Situation in mehrfacher Hinsicht außer Kontrolle gerät. In Kiew gebärden sich rechte Sturmtrupps immer mehr als Herren der Stadt. Die Beerdigungen der am vergangenen Mittwoch umgekommenen Regierungsgegner wurden zu Machtdemonstrationen der Rechten, die in gefleckten Kampfanzügen und maskiert unter faschistischen Fahnen durch die Straßen zogen. Außerhalb der Hauptstadt halten rechte Trupps weiterhin die meisten Gebietsverwaltungen westlich von Kiew besetzt. Sie erklärten ihre Loyalität gegenüber einem in der letzten Woche von Oppositionspolitikern proklamierten Schattenparlament, dem »Ukrainischen Nationalrat«. In Winniza stürmte ein Mob von Anhängern der Freiheitspartei unter großer Brutalität das Rathaus. Die Polizisten, die sich kaum verteidigten, wurden mit Dachlatten und langen Stöcken geschlagen, die Randalierer bewarfen die Beamten mit ausgerissenen Türen, Stühlen und Feuerlöschern. In Luzk, der Hauptstadt des Gebiets Wolhynien im äußersten Nordwesten der Ukraine, kam es offenbar zu Verbrüderungen zwischen der Polizei und Oppositionellen.

Dagegen ist es Sicherheitskräften in den wichtigen Industriestädten Dnepropetrovsk und Zaporoschje sowie in Tscherkassy südlich von Kiew gelungen, den Sturm der Gebietsverwaltungen zu verhindern. Dabei kam es zu vielen Festnahmen und zu mehreren hundert Verletzten auf beiden Seiten. Angereiste Aktivisten des Kiewer »Automaidan«, der sich zunehmend als »mobile Eingreiftruppe« der Demonstranten aufführt, wurden in Tscherkassy festgenommen, weil sie versuchten, Polizisten mit ihren Autos zu überfahren.

In den Nachbarländern wächst inzwischen die Besorgnis über die Entwicklung in der Ukraine. Polen, das die Proteste in den letzten Monaten offen und verdeckt unterstützt hat, ruft die Opposition inzwischen zur Mäßigung auf. Rußland dagegen scheint sich allmählich auf einen Machtverlust Janukowitschs einzustellen. Die Moskauer Zeitung Kommersant nannte die Gespräche des Präsidenten mit der Opposition Kapitulationsverhandlungen. Auch die Bundesregierung will erkennbar Einfluß auf den Fortgang der Ereignisse in Kiew nehmen. Exstaatssekretär Ischinger lud Witali Klitschko zur Münchener »Sicherheitskonferenz« ein.

*** Aus: junge Welt, Dienstag, 28. Januar 2014


Gefährliches Spiel

Einmischung des Westens in der Ukraine

Von André Scheer ****


Vermummte und bewaffnete Demonstranten stürmen Regierungsgebäude. Denkmäler für die Befreiung der Ukraine von der faschistischen Besatzung werden geschändet und zerstört. In den westukrainischen Oblasten Iwano-Frankiwsk und Ternopil, wo die Putschisten die Gouverneure zum Rücktritt gezwungen haben, verbieten von ihnen kontrollierte Gebietsräte die regierende Partei der Regionen und die Kommunistische Partei. Im Gegenzug bietet Staatspräsident Wiktor Janukowitsch der Opposition die Übernahme der Regierung an...

Trotzdem meldete sich unmittelbar nach der Erstürmung des Justizministeriums in Kiew in der Nacht zum Montag die dortige EU-Vertretung mit einer Mahnung an Janukowitsch zu Wort, seine in den vergangenen Tagen angebotenen Zugeständnisse auch umzusetzen. Für die Opposition fand man trotz der Vorboten einer an die Macht geputschten Diktatur weiter milde Worte. Der »friedliche Charakter der Demonstrationen« müsse »gewahrt bleiben«. Der SPD-Spitzenkandidat für die Europawahl im Mai und Möchtegern-EU-Kommissionspräsident Martin Schulz predigte auf dem Sonderparteitag der Sozialdemokraten am Wochenende in Berlin: »Janukowitsch, stopp mit der Gewalt. Und rede mit deinem Volk, das ist der bessere Weg als der Unsinn, der da jetzt veranstaltet wird.« In der Deutschen Welle plädierte er für Sanktionen: »Konten einfrieren oder beschlagnahmen oder die Reisefreiheit von Mitgliedern der ukrainischen Führung begrenzen.«

Man muß Janukowitsch und sein jahrelanges strategisches Lavieren zwischen der EU und Rußland nicht mögen – aber die Verlogenheit und Heuchelei aus Brüssel und Berlin ist widerwärtig.

In Hamburg reichte ein offensichtlich sogar erfundener Angriff auf eine Polizeiwache, um über Teile der Stadt als »Gefahrengebiet« einen de-facto-Ausnahmezustand zu verhängen. In Wien genügten angekündigte Proteste gegen den Burschenschaftlerball am vergangenen Woche als Vorwand, um ein Vermummungsverbot zu erlassen, das letztlich sogar das Mitführen von Schals gegen die eisige Witterung untersagte. Davon, die dort Protestierenden in die Regierung aufzunehmen, war nichts zu hören. Und aus Brüssel gab es bislang auch keine Aufforderung an die Machthaber in Hamburg und Wien, den Demonstranten Zugeständnisse zu machen.

Es ist kein Zufall, daß der Auslöser für die Protestbewegung in der Ukraine die Weigerung der Regierung im vergangenen November war, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Was wir in diesen Tagen erleben, ist der gefährliche Versuch des Westens, über eine unappetitliche Allianz aus prodeutschen Statthaltern vom Schlage Witali Klitschkos und offenen Faschisten wie Oleg Tjagniboks »Swoboda« die Ukraine doch noch an Brüssel und Berlin zu fesseln und damit die strategische Einkreisung Rußlands enger zu schließen. Um soziale Rechte der Bevölkerung oder Demokratie geht es dabei weder den Lautsprechern im Westen noch den Oppositionsführern in Kiew.

**** Aus: junge Welt, Dienstag, 28. Januar 2014 (Kommentar)


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