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Putin setzt jetzt auf Gewaltverzicht

Föderationsrat soll Vollmacht zum Eingreifen in der Ukraine zurücknehmen

Putin setzt jetzt auf Gewaltverzicht: Föderationsrat soll Vollmacht zum Eingreifen in der Ukraine zurücknehmen Aufständische in der Ostukraine stimmen Waffenruhe zu, Kiew meldet Hubschrauberabschuss Von Irina Wolkowa, Moskau *

Die Zeichen für eine möglicherweise doch friedliche Lösung der ukrainischen Krisen mehren sich. Auch Moskau sandte ein Zeichen der Entspannung.

Über die Aufhebung des Mandats von Russlands Präsidenten Wladimir Putin für den Einsatz russischer Truppen auf dem Gebiet der Ukraine wird Russlands Föderationsrat am Mittwoch in einer Sondersitzung befinden. Das Oberhaus, so wurde der Vizevorsitzende des Auswärtigen Ausschusses Andrej Klimow von der Moskauer Nachrichtenagentur Interfax zitiert, werde der Bitte des Kremlchefs nachkommen. Dabei gehe es darum, »die Lage zu normalisieren«, wie Putins Sprecher Dmitri Peskow erklärte. Putins Schritt stehe im Zusammenhang mit den beginnenden Verhandlungen zu einer friedlichen Beilegung des Konflikts.

Der Föderationsrat hatte dem Präsidenten am 1. März auf dessen Bitte die Entsendung eines begrenzten Kontingents in das Nachbarland erlaubt. Hintergrund waren die Entwicklungen auf der Krim. Die zur Ukraine gehörende, aber vor allem von Russen bewohnte Schwarzmeerhalbinsel hatte sich am 17. März bei einem Volksentscheid mit überwältigender Mehrheit für den Beitritt zur Russischen Föderation ausgesprochen. Zwar hatte Putin den Einsatz regulärer Truppen lange und vehement dementiert, später jedoch eingeräumt, ohne russische Sondereinheiten und Mitarbeiter von Geheimdiensten wäre es auf der Krim zu ähnlich blutigen Kämpfen gekommen wie danach in der Ostukraine.

Kritiker im In- und Ausland hatten immer wieder gewarnt, das Mandat für den Einmarsch sei nach wie vor gültig, Putin könne davon Gebrauch machen, um die Interessen russischer Bürger im Ausland zu schützen, was die Verfassung dem Präsidenten ausdrücklich aufgibt. Dieser selbst hatte das nicht ausgeschlossen, bei seiner Bürgersprechstunde Mitte April jedoch geäußert, er hoffe, von diesem Recht nicht Gebrauch machen zu müssen.

Den Verzicht gab der Kremlsprecher unmittelbar vor Putins Abflug nach Wien bekannt. Dort will der russische Präsident vor allem über South Stream verhandeln – jene Gasleitung, die unter Umgehung der Ukraine über den Boden des Schwarzen Meeres verlegt wird und Südeuropa versorgen soll.

Die Europäische Union hatte den für 2015 geplanten Baubeginn wegen Russlands Ukraine-Politik ausgesetzt. Die beteiligten Unternehmen – darunter auch die deutsche BASF-Tochter Wintershall – wollten an dem Projekt dennoch festhalten. Auch Bulgarien hat den mit Russland dazu geschlossenen Vertrag trotz Drucks aus Brüssel nicht gekündigt.

Durch Putins offiziellen Verzicht auf militärische Gewalt haben sich nicht nur die Perspektiven für die Pipeline, sondern für die russische Wirtschaft insgesamt erheblich aufgehellt. Die Börsen in Moskau erreichten gestern mit 1500 bzw. 1400 Zählern erstmals wieder den Stand vom 21. Januar – dem Tag, an dem der Konflikt zwischen proeuropäischen Protestlern in Kiew und ihren prorussischen Gegnern zu offener Gewalt eskalierte.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch 25. Juni 2014


Rußland steckt zurück

Präsident Putin gibt Mandat für »Auslandseinsatz« zurück. Aufständische in der Ostukraine stimmen Waffenruhe zu, Kiew meldet Hubschrauberabschuß

Von Reinhard Lauterbach **


Rußland hat einen Schritt zur Entschärfung des Konflikts im Donbass getan. Präsident Wladimir Putin bat den Föderationsrat – die obere Kammer des Parlaments –, seinen Beschluß vom 1. März mit einem Mandat für »Auslandseinsätze« des russischen Militärs zurückzunehmen. Der Beschluß war seinerzeit vor dem Hintergrund der Krimkrise kurzfristig gefaßt worden und hatte Putin ermächtigt, zum Schutz russischer Staatsbürger im Ausland die Armee einzusetzen. In einer Erklärung des Föderationsrates hieß es am Dienstag, nun erwarte Moskau, daß auch Kiew den Militäreinsatz im Donbass einstelle und zu Verhandlungen mit den Vertretern der Region bereit sei.

Zuvor hatten am Montag auch die Führungen der Volksrepubliken Donezk und Lugansk die vom ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko ausgerufene einwöchige Waffenruhe akzeptiert. Diese Entscheidung fiel nach einem Gespräch mit einer Delegation aus ukrainischen und russischen Vertretern unter Schirmherrschaft der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), aber offenbar gegen den Willen der militärischen Leitung der Aufständischen. Igor Strelkow, einer ihrer Kommandanten, hatte noch am Montag nachmittag vor der Waffenruhe gewarnt und auf Umgruppierungen und Verstärkungen der Kiewer Streitkräfte in der Region hingewiesen. Es sei zu befürchten, daß Kiew bei Ablauf der Waffenruhe einen »Blitzkrieg« gegen die noch von den Aufständischen gehaltenen Städte entfesseln werde. Dagegen erklärten Politiker der Volksrepublik Donezk nach dem Beschluß, es komme jetzt darauf an, in den drei verbleibenden Tagen der Waffenruhe bis Freitag Bedingungen für eine dauerhafte Friedenslösung auszuhandeln.

Ob das gelingt, muß sich zeigen; Poroschenkos Angebot hatte klar auf die Kapitulation der Aufständischen bei Zusage freien Abzugs abgezielt, und genau aus diesem Grunde hatten diese den Vorschlag zunächst auch abgelehnt. »Wir sollen uns entwaffnen, und dann schnappen sie uns unbewaffnet«, hatte Denis Puschilin, Regierungschef der Donezker Republik, den Pferdefuß der Offerte aufgezeigt.

Was den Sinneswandel der Volksrepubliken bewirkt hat, war zunächst nicht klar. Es gibt im Prinzip zwei Erklärungsansätze, die sich gegenseitig nicht ausschließen. Der eine ist die zunehmend kritische militärische Lage für die Aufständischen. Die Kiewer Armee hat große Teile der Grenzregion zu Rußland erobert. Es war zuletzt absehbar, daß auch der letzte Übergang an der Ostgrenze der Region früher oder später fallen würde. Hinzu kommen wachsende Schwierigkeiten mit der Versorgung der Zivilbevölkerung. Die Kiewer Truppen haben durch Artilleriebeschuß die Wasserversorgung von Donezk und Umgebung lahmgelegt und feuerten regelmäßig auf Reparaturtrupps; das vorhandene Wasser reicht nach Darstellung der örtlichen Behörden nur noch für zehn bis zwölf Tage. Danach drohten 2,5 Millionen Menschen ohne Trinkwasser zu bleiben. Das andere Erklärungsmoment ist, daß Moskau offensichtlich den Aufständischen klargemacht hat, daß sie auf keine direkte militärische Unterstützung durch Rußland rechnen können. Etliche Politiker der Volksrepubliken reagierten hierauf mit offener Enttäuschung. Die russischen Kommunisten nannten Putins Entscheidung »voreilig«.

Der ukrainische Präsident Poroschenko begrüßte Rußlands Einlenken als Unterstützung seines Friedensplans. Auch die Bundesregierung äußerte sich zufrieden; jetzt gebe es zumindest die Chance eines politischen Prozesses, erklärte das Auswärtige Amt.

Am späten Dienstag nachmittag meldete Reuters unter Berufung auf die Kiewer Truppen, im Osten der Ukraine sei von Aufständischen ein Militärhubschrauber abgeschossen worden. Es würden neun Tote befürchtet.

** Aus: junge Welt, Mittwoch 25. Juni 2014


Kiews Elitetruppen

Ukraines Machthaber stützen Militäroperation auf irreguläre Freiwilligenbataillone

Von Reinhard Lauterbach ***


Die reguläre ukrainische Armee hat in den Kämpfen um das Donbass keine gute Figur gemacht. Aus Sicht ihrer neuen politischen Auftraggeber hat sie sich nicht nur als ineffizient und unterfinanziert erwiesen – das war vorher bekannt –, sondern vor allem als politisch unzuverlässig. In den ersten Tagen des Aufstands waren Desertionen von ganzen Einheiten häufig; noch bis weit in den Mai hinein beschwerten sich Angehörige der aus Maidan-Kämpfern rekrutierten Nationalgarde darüber, daß Armeeeinheiten sie in Kampfsituationen im Stich gelassen hätten. Im ukrainischen Verteidigungsministerium wird diese Unlust zu kämpfen auf Seiten der Armee und ihrer Wehrpflichtigen inzwischen relativ offen zugegeben, und Politiker des Maidan-Lagers wüten intern über angebliche Abgründe des Verrats in den eigenen Reihen. So soll der Abschuß des Iljuschin-Transporters am Flughafen von Lugansk vor zwei Wochen mit 49 Toten auf Indiskretionen zurückzuführen gewesen sein; von einiger praktischer Bedeutung für die Anfangserfolge des Aufstandes war, daß die regionale Polizei des Donbass den Besetzungen staatlicher Verwaltungen kaum und wenn, dann ohne große Energie entgegentrat. 17000 Polizisten sollen die Seiten gewechselt haben; sie wurden in diesen Tagen wegen Bruch ihres Eides fristlos aus dem Dienst entlassen.

Die Konsequenz aus dem Dilemma, die bewaffneten Strukturen nicht sicher unter Kontrolle zu haben, zogen die neuen Machthaber praktisch unmittelbar nach ihrem Sieg im Februar. Aus ideologisch gefestigten Nationalisten, die sich auf dem Maidan die Straßenschlachten mit der Polizei geliefert hatten, wurde eine Nationalgarde rekrutiert. Das hatte einen doppelten Effekt: erstens gewann die nationalistische Führung eine in ihrem Sinne verläßliche Truppe, die im übrigen bereits militärisch fit war; denn vermittelt über Gruppen wie die vermeintlich die Verbundenheit zwischen Volk und Armee unterstützende Gruppe »Patriot der Ukraine« waren schon jahrelang in der Westukraine ohne große Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit rechte Kämpfer militärisch ausgebildet worden. Der zweite Effekt aber war, daß die hochmotivierten Kämpfer vom Maidan in der Hauptstadt weg und in die entfernte Provinz an die Front geschickt wurden. Als Belohnung winken die Machthaber mit vielen, vielen Posten: sie versprechen den Kämpfern, aus ihnen werde nach dem Sieg die Kerntruppe der künftigen Polizei rekrutiert.

Nicht alle sind mit dieser Perspektive einverstanden. In einer Reportage der Ukrainskaja Pravda aus dem Bataillon »Asow« erklärten mehrere Kämpfer, sie hätten nicht vor, »für die alten Oligarchen ihren Arsch hinzuhalten« und statt dessen die einfache Bevölkerung auszuplündern. Viele dieser Kämpfer legen großen Wert auf die Feststellung, daß die »nationale Revolution« erst begonnen habe und auf keinen Fall abgeschlossen sei. Sie erklären, sie würden, wenn erst das Donbass und die Krim zurückerobert seien, auf den Maidan zurückkehren und der politischen Führung auf die Finger schauen bzw. hauen. Daß diese politische Klasse auch unter Poroschenko vielfach aus Leuten besteht, die in Sachen Korruption einige Erfahrung haben, ist für die Kämpfer der Freiwilligenbataillone kein Geheimnis; es taugt aber nicht dafür, sie in ihren Überzeugungen zu erschüttern. Ihre Parole heißt: Lustration. Sie wollen den Staatsapparat von allen ehemaligen Kommunisten, Sozialisten und Anhängern der alten Regime »säubern«. Den Anführern der Freiwilligenbataillone, die sich aus langfristig nationalistisch politisierten Männern – durchaus auch solchen mit Hochschulabschluß und solchen aus der Ostukraine – zusammensetzen, ist es offenbar gelungen, aus ihnen verschworene Gemeinschaften zu schmieden; einer von ihnen, Andrej Biletskyj, wird von seinen Untergebenen als »weißer Führer« verehrt. Wenn er den Kiewer Politikern ankündigt, es könne Unruhen im Land geben, falls sie die Forderungen der Maidan-Kämpfer nicht erfüllten, dann ist diese Drohung sehr ernstzunehmen. Vor diesem Hintergrund steht die Kiewer Führung vor einem echten Dilemma: bei einem schnellen Waffenstillstand droht auch die Rückkehr der »alten Kämpfer« in die ukrainische Innenpolitik; den Krieg endlos fortzusetzen, um die Leute beschäftigt zu halten, überfordert aber die Ressourcen des Landes.

** Aus: junge Welt, Mittwoch 25. Juni 2014


Leise Hoffnung auf die Wende

Klaus Joachim Herrmann über die Waffenruhe in der Ukraine ***

Schon wächst Hoffnung, in der Ukraine könne es eine Wende zur Entspannung geben. Doch die Waffenruhe bleibt durch blutige Attacken gefährdet und für jede Provokation anfällig.

Die Zentralmacht führt im Osten des Landes einen Krieg unter dem alles gestattenden »Anti-Terror«-Logo. Ihr »Friedensplan« wurde erstritten und wohl auch erzwungen – sei es sogar ein wenig von einer etwas kritischeren internationalen Öffentlichkeit. Denn ganz so leicht schwenkt niemand vom Krieg zu einer Waffenruhe, in deren Logik plötzlich lang verweigerte Gespräche Platz finden. Es hat auch ganz sicher mit besonderen Interessen zu tun, wenn der deutsche Außenminister nach Kiew zur Förderung einer längeren Feuerpause und der Entspannung reiste.

Das Einlenken des Gegners war nicht allgemein, es geht ebenfalls nicht ohne Streit und Druck ab. Zu zweifelhaft und unsortiert sind »Volks«-Führungen und -Milizen im Donbass. Ihr Sympathisant im Kreml gab seine Interventionsvollmacht zurück. Trotz verbreiteter Erleichterung mag das Ausbleiben der »Krim-Lösung« bei deren Anhängern im Donbass den Verdacht bestärken, verraten worden zu sein. Sie bleiben unberechenbar. Eine Waffenruhe ist so sicher wie es die Verhältnisse sind – die ukrainischen gestatten nur eine leise Hoffnung.

*** Aus: neues deutschland, Mittwoch 25. Juni 2014 (Kommentar)


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