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Von Böcken und Gärtnern

Von Norman Paech *

Nie war die Beschwörung des Völkerrechts so laut und unisono wie jetzt beim Abschied der Krim von der Ukraine und ihrem Weg nach Russland. Wir haben dieses Rechtsbewusstsein bei der Bombardierung Jugoslawiens im Frühjahr 1999, beim Überfall auf Irak im Mai 2003 oder beim Krieg gegen Libyen im März 2011 stark vermisst. Alles schwere Völkerrechtsverbrechen, ob unter Umgehung der UNO oder unter Missbrauch der Resolutionen des UN-Sicherheitsrats. Gewiss, die einseitige Lostrennung der Krim von der Ukraine ist mit dem geltenden Völkerrecht nicht zu vereinbaren. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker geht nicht so weit, dass es das ebenfalls garantierte Recht auf territoriale Integrität (Art. 2 Ziffer 7 UN-Charta) auch dann durchbrechen könnte, wenn es sich nicht um koloniale Abhängigkeit und rassistische Unterdrückung wie in den Befreiungskämpfen der 70er Jahre handelt.

Es ist immer ein bizarres Spiel, wenn sich die Böcke zu Gärtnern aufschwingen. Sie werden kaum glaubwürdiger, wenn sie jetzt erstmals, wie Gerhard Schröder und Ludger Vollmer, offen einräumen, die Völkerrechtswidrigkeit ihrer Aggression gegen Jugoslawien gesehen zu haben, obwohl sie Jahre hindurch die Rechtmäßigkeit beschworen haben. Und die einseitige Unabhängigkeitserklärung Kosovos im Februar 2008? Obwohl der Internationale Gerichtshof in einem nicht bindenden Gutachten vom Juli 2010 erklärte, dass sie nicht gegen das Völkerrecht verstoße, bestätigte er gleichzeitig die territoriale Integrität Jugoslawiens und vermied es, den völkerrechtlichen Status Kosovos zu bewerten. Eine widersprüchliche und nach wie vor umstrittene Position, die erst 107 von 193 Mitgliedstaaten der UNO akzeptiert haben.

Wir haben davon auszugehen, dass vor allem den USA die Völkerrechtswidrigkeit ihrer zahllosen Interventionen von Iran 1953 über Vietnam seit 1955, über Chile 1973, Grenada 1983, Nicaragua 1984 bis Haiti 1991 und 2004 etc., etc. – eine schier endlose Kette schwerer Völkerrechtsverbrechen – durchaus bewusst war.

Seit 47 Jahren hält Israel das Westjordanland besetzt, seit 34 Jahren sind die Golanhöhen und Jerusalem annektiert – kein Zweifel an der Rechtswidrigkeit und trotzdem nur möglich hinter dem Schutzschild der USA und der europäischen Staaten. Sie können natürlich auf die Sowjetunion den Finger richten, ob 1968 beim Einmarsch in die Tschechoslowakei oder 1979 nach Afghanistan. Doch gibt es einen entscheidenden Unterschied. Gegenüber der imperialen Aggressivität der US-amerikanischen Interventionen waren die sowjetischen Interventionen defensiv – gegen die Errichtung westlicher Bastionen vor den eigenen Grenzen. Nie ging es um Landnahme und ferne Protektorate.

Dies gilt auch für Putins Hand auf der Krim. Nichts spricht für eine Rückeroberung der alten Sowjetrepubliken, wie uns mit abgestandenen Assoziationen aus dem Kalten Krieg eingeredet werden soll. Die Politik der NATO und der EU in den letzten 20 Jahren hingegen war auf Expansion und spätestens seit Putin auf Konfrontation mit Russland ausgelegt: die Aufnahme immer weiterer ehemaliger Warschauer-Vertragsstaaten in die NATO, die geplanten EU-Assoziierungen und der Aufbau einer Raketenabwehr im Osten. So nah wie möglich an Russland heran, war die Devise. »Eindämmung«, da hat Putin schon Recht.

Es war ein Staatsstreich mit westlicher Unterstützung, der Janukowitsch zur Flucht zwang. Dies und die ungenießbare Koalition der neuen Machthaber in Kiew, die auch Faschisten umfasst, brachten offensichtlich die russische Führung dazu, ihre Sicherheit im Süden nunmehr militärisch in die Hand zu nehmen. 1962 hatten die USA nicht gerne Raketen in unmittelbarer Reichweite ihrer Grenzen. Sie hätten voraussehen können, dass Russland sich wehren würde, wenn man ihm zu nahe auf den Pelz rückt.

Sanktionen sind offenbar unvermeidbar, damit die westlichen Regierungen sich vor ihren harte Strafe und Prügel fordernden Medien rechtfertigen können. Zur Lösung der Probleme und zur Achtung des Völkerrechts, was ihnen so sehr am Herzen zu liegen scheint, tragen sie nichts bei. Das würde nur ein Ende der Verlogenheit und die eigene strikte Beachtung des Völkerrechts leisten, die die Herren der Strafe schon bei ihren nächsten Unternehmungen in Syrien, Iran und Afrika unter Beweis stellen können.

* Norman Paech, emeritierter Professor für Öffentliches Recht, lebt in Hamburg.

Aus: neues deutschland, Montag, 24. März 2014 (Kommentar)



Gescheiterte Russlandpolitik

Sahra Wagenknecht über die neue deutsche Außenpolitik und deren Folgen in der Krim-Krise **

Die SPD hat sich in unverantwortlicher Weise vom Erbe des Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt entfernt. Statt Russlands Sicherheitsinteressen ernst zu nehmen und eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur mit Russland zu erarbeiten, setzen Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Vizekanzler Sigmar Gabriel auf den US- und NATO-Kurs, Russland mit Hilfe von NATO-Osterweiterung und Raketenstationierung einzudämmen. In der Ukraine-Krise hat das fatale Konsequenzen.

Als Außenminister Steinmeier Anfang des Jahres auf der Münchner Sicherheitskonferenz sagte, dass Deutschland eigentlich zu groß sei, um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren, schien er bereits seine Mission »Steinmeier rettet die Ukraine« vor Augen gehabt zu haben. Als er wenige Wochen später tatsächlich an der Aushandlung des Abkommens beteiligt war, das am 21. Februar in Kiew von der Opposition und dem amtierenden Präsidenten Janukowitsch unterschrieben wurde, schienen sich einige Kommentatoren vor Begeisterung nicht mehr halten zu können. In einem »Jetzt geht’s los«-Tenor wurde sogleich eine neue deutsche Außenpolitik ausgerufen, garniert mit »europäischer Führungsrolle« und »mehr militärischer Verantwortung«.

Steinmeiers »Diplomatenkunst« war zu diesem Zeitpunkt aber schon erkennbar unverantwortlich. Er handelte das Abkommen unter anderem mit der völkisch-faschistischen Swoboda-Partei aus. Deren aktueller Parteivorsitzender, Oleg Tjagnibok, redet gerne von der »jüdisch-russischen Mafia« und bekam 2010 aus den Händen eines SS-Veteranen der Division »Galizien« das »goldene Kreuz« für seine »Verdienste um die Ukraine« überreicht. Damit machte die Bundesregierung gemeinsame Sache mit Leuten in Kiew, die mit NPD-Funktionären vergleichbar sind. Doch da es der Koalition in der Ukraine vor allem darum geht, bei der weltweiten Geopolitik vorn mitzumischen, kehrte man diese »Details« einfach unter den Teppich. Wenn das die neue deutsche Außenpolitik sein soll, dann kann ich nur sagen: Nein, danke.

Was von Verhandlungen mit Faschisten zu halten ist, zeigte sich in der Folge. Zwar hatte Steinmeier direkt nach der Unterzeichnung des Abkommens noch ganz lässig erklärt: »Wir werden ein Auge darauf haben, dass aus der Vereinbarung, die hier getroffen wurde, auch Politik wird.«

Doch diese Vereinbarung kümmerte die militanten Hooligans vom Rechten-Block nicht im Geringsten. Stattdessen stürmten sie am nächsten Tag das ukrainische Parlament und ließen Janukowitsch mit einer verfassungsrechtlich unzureichenden Mehrheit abwählen. Wie die rechten Militanten den Start der neuen Regierung interpretierten, zeigte sich später in den Straßen: Rechte Schläger verprügelten jüdische Mitbürger und politische Gegner. Die israelische Botschaft in Kiew gab daraufhin eine Warnung aus, dass Juden ihre Häuser zunächst nicht verlassen sollten.

Wer nun gedacht hatte, dass die Bundesregierung zur Besinnung kommen würde, wurde eines Besseren belehrt: Obwohl in der neuen Regierung die Swoboda-Faschisten Minister stellen und den Posten des Generalstaatsanwalt besetzen durften, und obwohl faschistische Banden durch die Straßen patrouillieren und den Programmdirektor des Fernsehens in Kiew unter tatkräftiger Mitwirkung eines Swoboda-Abgeordneten durch Schläge zur Unterzeichnung seiner Rücktrittserklärung zwangen, unterstützt die Bundesregierung diese ukrainische Regierung unter Einschluss alter Oligarchen und Faschisten und will sie mit Milliardenbeträgen aus EU-Mitteln finanzieren.

Die Volksabstimmung auf der Krim und die anschließende Eingliederung der Krim in die russische Föderation sind auch Ergebnis einer gescheiterten Russlandpolitik, an der die Bundesregierung tatkräftigen Anteil hat. Diese Politik gefährdet den Frieden in Europa und wird der Verantwortung Deutschlands für die Geschichte im 20. Jahrhundert nicht gerecht.

P.S.: Die aggressiven Parolen der Grünen, noch rechts von der CDU/CSU, sprechen bei diesem Thema für sich selbst. Dass die Grünen im Europäischen Parlament dem ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder wegen seiner richtigen Feststellung, dass die Abspaltung des Kosovo und das NATO-Bombardement klar völkerrechtswidrig waren, einen Maulkorb verpassen wollten, zeigt, wie unangenehm ihnen diese Wahrheit über die rot-grüne Außenpolitik noch heute ist.

** Aus: neues deutschland, Montag, 24. März 2014 (Gastkommentar)


Dokumentiert:

Machtspiele beenden - Kriegsgefahr stoppen

Der Parteivorstand der LINKEN hat auf seiner Sitzung am 22. März 2014 einmütig die folgende Erklärung zur Lage in der Ukraine und auf der Krim verabschiedet:

Wir verfolgen mit Besorgnis die Entwicklungen in der Ukraine und auf der Krim. Wir verurteilen die militärischen Drohgebärden der Russischen Föderation, der ukrainischen Regierung und der NATO. Die Antwort auf die völkerrechtswidrige Abtrennung der Krim durch die Russischen Föderation, welche wir verurteilen, muss in der Diplomatie liegen - Krieg kann keine Probleme lösen und darf kein Mittel der Politik sein. Erst Recht nicht 100 Jahre nach Beginn des 1. Weltkriegs, in einem Land, das unsäglich unter dem 2. Weltkrieg und dem Angriffskrieg Nazi-Deutschlands litt.

Sicherheit in Europa muss zivile Sicherheit unter der Einbeziehung Russlands sein. Weiter noch: zur Einigung Europas gehört Russland.

Die Ukraine macht deutlich, dass die nie verlassene Logik des Kalten Krieges, die Idee der Dominanz, der sich am augenfälligsten an der NATO-Osterweiterung festmacht, Gift für die weitere friedliche Entwicklung des Kontinents ist. Hier hat jede Seite ihre Hausaufgaben zu machen: weg von der Idee der Hegemonie, hin zu einer wirklichen Kooperation und Stärkung des Völkerrechts, der OSZE und des Europarates, die Auflösung der NATO und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem in Europa unter Einbeziehung Russlands. Der Kosovo und andere völkerrechtswidrige Vorgehen fallen dem Westen nun auf die Füße: Es ist offensichtlich, dass nicht Völkerrecht, sondern Interessen Kompass seiner Politik sind - genau wie für Putin, den Mann dem sie jetzt Völkerrechtsbruch vorwerfen. DIE LINKE ist die Partei des Völkerrechts - es muss ohne Wenn und Aber in alle Richtungen gelten und darf nicht weiter zur rhetorischen Floskel verkommen.

Sanktionen sind die falsche Antwortauf die russischen Völkerrechtsverletzungen. Wir brauchen den Mut zu einem positiven Politikansatz - weg von der Konfrontation, hin zu einer wirklichen Perspektive für Sicherheit in ganz Europa.

Die innenpolitische Situation der Ukraine ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Spaltung, die mit der langen Geschichte des jungen Nationalstaats beginnt und sich vor dem Hintergrund des Versagens der politischen Eliten aller Couleur, des gewaltigen Einfluss der Oligarchen und der extremen sozialen Polarisierung im Land weiter verschärfte. Diese Vielzahl von Problemen wurde von Moskau, Brüssel und Berlin übergangen: das fragile Land wurde vor eine Entscheidungssituation - Zollunion mit Russland oder Assoziierungsabkommen mit der EU- gestellt, die das Land nun zu zerreißen droht und reale Kriegsgefahr mit sich bringt. Diese Verdrängung einer möglichen OSZE-Mission durch eine EU-Mission in der Ukraine ist nicht deeskalierend. Die EU ist nicht neutral in diesem Konflikt.

Diese Kriegsgefahr wird durch die fortgesetzte russische Truppenmobilisierung an der Grenze zur Ukraine noch weiter verschärft. Gegenwärtig vertieft sich die Spaltung der Ukraine weiter: Die nicht verfassungsgemäß zustande gekommene neue Regierung hat kein integrierendes Potenzial und spricht nur für einen Teil der Bevölkerung. Mit der Beteiligung von Faschisten an der neuen Regierung, die nicht vor Terror gegen Journalistinnen und Journalisten und Parteibüros Andersdenkender zurückscheuen, wird, wie auch der ehemalige EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen in deutlichen Worten sagt "ein fataler Tabubruch" begangen, da "zum ersten Mal in diesem Jahrhundert völkische Ideologen, richtige Faschisten" in eine Regierung gelassen werden. Wir fordern die Bundesregierung und die EU dazu auf, die Beteiligung faschistischer Kräfte an der Regierung nicht weiter zu tolerieren. Die Unterzeichnung des politischen Teils des Assoziierungsabkommens ist ein falsches Signal: die ukrainische Übergangsregierung wird so zu einem "weiter so" ermutigt werden. Das neoliberale EU-Assoziierungsabkommen lehnen wir ab: Die Politik der EU gegenüber der Ukraine war nicht von einem Geist der Kooperation getragen - im Gegenteil: die Ukraine wurde zur geopolitischen Option, dies zeigen auch die militärischen Teile des EU-Assoziationsabkommens. Die Unterstützung der neuen Regierung durch die EU und Deutschland sehen wir aus einem weiteren Grund äußerst kritisch: Die Vaterlandspartei ist eine Vertreterin des alten, verkrusteten und korrupten Politikstils, nach dessen Ende sich die Ukrainerinnen und Ukrainer sehnen. Die Menschen in der Ukraine brauchen die Chance für einen wirklichen Neuanfang: dazu gehört auch, dass etwaige wirtschaftliche Hilfen auf die Verbesserung der desolaten sozialen Lage zielen.




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