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"Russland ist ein selbständiger, aktiver Faktor der internationalen Gemeinschaft"

Rede von Präsident Wladimir Putin zum Beitritt der Krim vor beiden Häusern des russischen Parlaments (im Wortlaut)


Am 18. März 2014 hielt der russische Präsident Wladimir Putin im Kreml vor Abgeordneten der Staatsduma, vor Mitgliedern des Föderationsrats, Gouverneuren des Landes und Vertretern der Zivilgesellschaft eine große Rede. Es ging darin nicht nur um die Antwort auf die Bitte der Republik Krim und der Stadt Sewastopol um Aufnahme in den Bestand der Russischen Föderation. Putin nutzte auch die Gelegenheit, die weltpolitischen Entwicklungen seit dem Ende des Kalten Kriegs Revue passieren zu lassen und die geopolitische Rolle Russlands darzustellen. Insofern handelt es sich - unabhängig von der Frage, wie weit man seiner Argumentation folgen möchte - um eine große Rede.
Wir dokumentieren sie im Folgenden mit unwesentlichen Kürzungen. Eine vollständige Fassung in englischer Sprache bietet die Seite des Kreml an: Address by President of the Russian Federation.
Zur besseren Lesbarkeit haben wir Zwischenüberschriften eingefügt.


Rede des Präsidenten

Guten Tag, sehr geehrte Mitglieder des Föderationsrats, sehr geehrte Abgeordnete der Staatsduma! Sehr geehrte Vertreter der Republik Krim und Sewastopols – sie sind hier, unter uns, Bürger Russlands, Einwohner der Krim und Sewastopols!

Verehrte Freunde, wir befassen uns heute mit einer Frage, die eine lebenswichtige und historische Bedeutung für uns alle hat. Am 16. März fand auf der Krim ein Referendum statt, das in voller Übereinstimmung mit demokratischen Verfahren und völkerrechtlichen Regeln verlief.

Am Referendum haben über 82 Prozent der Wähler teilgenommen, über 96 Prozent haben sich für einen Anschluss an Russland ausgesprochen. Diese Zahlen sprechen für sich.

Um zu verstehen, warum es zu diesem Abstimmungsergebnis gekommen ist, muss man die Geschichte Russlands kennen und verstehen, was die Krim für Russland und was Russland für die Krim bedeutet.

(...)

Zur Geschichte der Krim und Russlands

Die Krim ist eine einzigartige Mischung aus den Kulturen und Traditionen verschiedener Völker. Auch darin ähnelt sie dem großen Russland, wo im Verlauf der Jahrhunderte keine einzige der zahlreichen Völkerschaften verschwunden ist oder sich aufgelöst hat. Russen und Ukrainer, Krimtataren und Vertreter anderer Völkerschaften lebten und wirkten gemeinsam auf dem Boden der Krim, sie bewahrten sich ihre Eigenständigkeit, ihre Sprache und ihren Glauben.

Übrigens sind von den 2,2 Millionen Einwohnern der Krim heute fast anderthalb Millionen Russen, 350.000 Ukrainer, die überwiegend die russische Sprache als ihre Muttersprache betrachten, sowie ungefähr 290.000 bis 300.000 Krimtataren, von denen sich ein bedeutender Teil - wie das Referendum gezeigt hat - ebenfalls auf Russland orientiert.

Nun, es gab eine Zeit, da man den Krimtataren, wie auch anderen Völkerschaften der UdSSR gegenüber mit Härte und Ungerechtigkeit aufgetreten ist. Dazu möchte ich sagen: Millionen von Menschen verschiedener Nationalitäten wurden Opfer der damaligen Repression, vor allem natürlich auch Russen. Die Krimtataren sind inzwischen in ihre Heimat zurückgekehrt. Ich bin der Meinung, dass es notwendig ist, alle politischen und rechtlichen Schritte zu unternehmen, um die Rehabilitation der Krimtataren zu vollenden und ihren guten Namen in vollem Umfang wiederherzustellen.

Wir achten Vertreter aller Nationalitäten, die auf der Krim leben. Das ist ihr gemeinsames Haus, ihre kleine Heimat, und es wäre sicher richtig – denn ich weiß, dass die Einwohner der Krim das unterstützen – wenn es dort nebeneinander drei gleichberechtigte Landessprachen geben würde: Russisch, Ukrainisch und Krimtatarisch.

Werte Kollegen! Im Herzen und im Bewusstsein der Menschen war und bleibt die Krim ein unabdingbarer Bestandteil Russlands. Diese auf der Wahrheit und Gerechtigkeit beruhende Überzeugung war unerschütterlich und wurde von einer Generation an die nächste weiter gegeben. (...)

Chruschtschows Schenkung

Nach der Revolution traten die Bolschewiki aus verschiedenen Gründen – möge Gott darüber urteilen – große Teile des Territoriums im historischen Süden Russlands an die Unionsrepublik Ukraine ab. Das geschah ohne Rücksicht auf die nationale Zusammensetzung der Einwohner; und das ist nun heute der Südosten der Ukraine. 1954 wurde dann entschieden, ihr den Krim-Bezirk (Oblast Krim) und Sewastopol zuzuschlagen, obwohl die Stadt direkt der Union unterstand. Initiator dieser Schenkung war der damalige Führer der KPdSU, Chruschtschow. (...)

Für uns ist ... wichtig: Der Beschluss kam unter offensichtlicher Verletzung sogar der damals geltenden Verfassungsbestimmungen zustande. Die Entscheidung wurde insgeheim, in Hinterzimmern getroffen. Natürlich wurden unter den Bedingungen eines totalitären Staates weder die Einwohner der Krim noch Sewastopols gefragt. Natürlich gab es Fragen, warum denn die Krim plötzlich zur Ukraine gehören sollte. Aber im Großen und Ganzen ... wurde diese Entscheidung als reine Formsache betrachtet, denn es war lediglich eine Umverteilung eines Gebiets innerhalb eines großen Landes. Es war damals einfach nicht vorstellbar, dass die Ukraine und Russland einmal nicht mehr zusammen sein würden, dass sie zu verschiedenen Staaten werden. Aber so ist es gekommen.

Was damals unvorstellbar erschien, geschah leider. Die Sowjetunion zerfiel. Die Ereignisse entwickelten sich derart stürmisch, daß nur wenige Bürger die ganze Dramatik des Geschehens und seiner Folgen verstanden. Viele Menschen in Rußland, in der Ukraine und in anderen Republiken hofften, daß die entstehende Gemeinschaft Unabhängiger Staaten eine neue Form von Staatlichkeit werden könnte. Es wurden ja eine gemeinsame Währung, ein einheitlicher Wirtschaftsraum und gemeinsame Streitkräfte versprochen; all das blieben aber nur Versprechungen. Dabei hat aber ein großes Land aufgehört zu existieren. Als die Krim sich nun auf dem Gebiet eines anderen Staates wiederfand, hat Russland das so empfunden, als sei es nicht nur beraubt, sondern regelrecht bestohlen worden.

Man muss zugleich aber einräumen, dass Russland durch die Initiierung der Unabhängigkeitserklärungen dem Zerfall der UdSSR selbst Vorschub geleistet hat. Und dabei wurden sowohl die Krim als auch Sewastopol, die Hauptbasis der Schwarzmeerflotte, vergessen. Millionen Russen legten sich in einem gemeinsamen Land schlafen und wachten hinter Grenzen wieder auf, wurden häufig nationale Minderheiten in früheren Unionsrepubliken, das russische Volk wurde eines der größten geteilten Völker, um nicht zu sagen, das größte geteilte Volk der Welt.

(...) All die Jahre haben die Bürger, unter ihnen auch viele Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens dieses Thema immer wieder angesprochen. Sie sagten, dass die Krim seit jeher russische Erde sei und Sewastopol eine russische Stadt. Ja, wir haben all das gut verstanden und im Herzen und in der Seele nachfühlen können, aber man musste von den Gegebenheiten ausgehen und nun auf einer neuen Grundlage gutnachbarliche Beziehungen mit der unabhängigen Ukraine aufbauen. Die Beziehungen zur Ukraine, mit dem ukrainischen Brudervolk waren und bleiben für uns außerordentlich wichtig – das sage ich ganz ohne Übertreibung.

Anerkennung der Krim als Bestandteil der Ukraine

Heute kann man offen darüber sprechen. Lassen Sie mich daher einige Details aus den Verhandlungen vom Beginn der 2000er Jahre berichten. Damals hat mich der ukrainische Präsident Kutschma gebeten, den Prozess der Grenzziehung der russisch-ukrainischen Grenze zu voran zu bringen. Bis dahin war auf diesem gebiet faktisch nichts geschehen. Zwar hatte Russland die Krim als Teil der Ukraine anerkannt, doch Gespräche über eine Grenzziehung gab es nicht. Ich war mir der ganzen Schwierigkeit der Angelegenheit durchaus bewusst, gab aber gleich Anweisung, mit dieser Arbeit zu beginnen – nämlich die Grenzen festzulegen, damit alle verstehen: Durch das Einverständnis zur Grenzziehung erkennen wir die Krim de facto und de jure als ukrainisches Territorium an, sodass diese Frage ein für alle Mal geklärt würde.

Wir sind der Ukraine nicht nur in der Frage der Krim entgegengekommen, sondern auch in solch schwierigen Fragen wie der Grenzziehung im Seebereich des Asowschen Meeres und der Straße von Kertsch. Wovon sind wir damals ausgegangen? Nun, wir glaubten, dass ein gutnachbarliches Verhältnis zur Ukraine für uns das Wichtigste ist, und dass es nicht unter unauflösbaren Territorialstreitigkeiten leiden dürfe. Aber bei alledem rechneten wir natürlich auch damit, dass die Ukraine uns ein guter Nachbar sein würde, dass die Russen und die russischsprachigen Bürger in der Ukraine, besonders in ihrem Südosten, in Verhältnissen eines freundschaftlichen, demokratischen und zivilisierten Staates leben könnten, in dem ihre Rechte im Einklang mit internationalen Normen gewährleistet seien.

Allerdings begann sich die Lage anders zu entwickeln. Immer wieder kam es zu Versuchen, die Russen ihrer historischen Erinnerungen zu berauben, mitunter auch ihrer Muttersprache, womit sie zwangsweise assimiliert werden sollten. Natürlich litten die Russen wie auch andere Bürger der Ukraine unter der permanenten politischen und staatlichen Krise, welche die Ukraine bereits seit mehr als 20 Jahren erschüttert.

Ukrainische Krise in Permanenz

Ich verstehe sehr gut, warum die Menschen in der Ukraine eine Veränderung wollten. In den Jahren nach der Unabhängigkeit sind sie dieser Staatsmacht überdrüssig geworden. Es wechselten die Präsidenten, die Ministerpräsidenten, die Abgeordneten der Rada, aber ihr Verhältnis zu ihrem Land und ihrem Volk änderte sich nicht. Sie plünderten die Ukraine aus, stritten untereinander um Vollmachten, Aktiva und Finanzströme. Und dabei interessierte es die Machthaber wenig, wie die einfachen Leute leben und warum Millionen Ukrainer, die für sich in der Heimat keine Perspektive mehr sahen, gezwungen waren, ins Ausland zu fahren und dort niedrigste Arbeiten zu verrichten. (...) Allein in Russland gingen im vergangenen Jahr etwa drei Millionen Ukrainer einer Arbeit nach. Die Summe ihrer Einkünfte in Russland belieft sich im Jahr 2013 auf über 20 Milliarden US-Dollar, das sind etwa 12 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Ukraine.

Ich wiederhole: Ich kann diejenigen gut verstehen, die unter friedlichen Losungen auf den Maidan gingen, um gegen Korruption, ineffiziente Staatsführung und Armut zu protestieren. Das Recht auf friedlichen Protest, auf demokratische Verfahren und Wahlen ist ja gerade dazu da, um eine Regierung abzuwählen, die den Menschen missfällt. Aber jene, die hinter den jüngsten Ereignissen in der Ukraine standen, verfolgten andere Ziele: Sie bereiteten einen Staatsstreich vor, wollten die Macht ergreifen und schreckten vor nichts zurück. Es kam zu Schießereien und Terror, zu Morden und Pogromen. Die Hauptakteure des Umsturzes waren Nationalisten, Neonazis, Russophobe und Antisemiten. Sie bestimmen in vieler Hinsicht bis heute das Leben in der Ukraine.

Gleich zu Beginn wurde von der sogenannten "Regierung" über eine skandalöse Gesetzesvorlage einer Änderung der Sprachenpolitik im Lande beraten, durch die Rechte nationaler Minderheiten direkt verletzt würden. Freilich haben die ausländischen Sponsoren dieser "Politiker", die Berater der heutigen "Regierung" die Initiatoren dieser Idee sogleich zurückgepfiffen. ... Die Gesetzesvorlage wurde zurückgestellt, aber ganz offenbar nur auf Zeit. (...)

Klar ist auch, dass es bis heute keine legitime exekutive Macht in der Ukraine gibt; es gibt niemanden, mit dem man verhandeln könnte. Viele staatliche Organe sind von Titelbetrügern usurpiert worden, dabei haben sie keine Kontrolle über irgendetwas im Lande, im Gegenteil: Oftmals befinden sie sich unter der Kontrolle von Radikalen. Um zu einem Empfang bei einem Minister der heutigen Regierung vorgelassen zu werden, benötigt man die Genehmigung bewaffneter Schläger vom Maidan. Das ist kein Scherz, sondern heutige Realität.

Allen, die sich dem Putsch widersetzten, wurden Repressionen und Strafen angedroht. An erster Stelle stand dabei – natürlich – die Krim, die russischsprachige Krim. Deswegen wandten sich die Einwohner der Krim und Sewastopols an Russland mit der Aufforderung, ihre Rechte und ihr Leben zu schützen. (...)

Es versteht sich von selbst, dass wir diese Bitte nicht abschlagen konnten, dass wir die Krim und ihre Bewohner nicht in ihrer Not allein lassen konnten. Alles andere wäre Verrat gewesen.

Bewaffnete Kräfte Russlands sind nicht in die Krim einmarschiert

Vor allem musste dabei geholfen werden, Bedingungen für eine friedliche, freie Meinungsäußerung zu schaffen, damit die Krim-Bewohner zum ersten Mal in der Geschichte über ihr Schicksal selbst bestimmen konnten. Was hören wir jedoch jetzt von unseren Kollegen in Westeuropa und aus Nordamerika? Sie sagen uns, wir brächen die Normen des Völkerrechts. Erstens ist es gut, wenn sie sich daran wenigstens erinnern, daß es das Völkerrecht gibt, und – Dank dafür, lieber spät als nie.

Und zweitens und am wichtigsten: Was sollen wir verletzt haben? Ja, der Präsident der Russischen Föderation erhielt vom Oberhaus des Parlaments das Recht, bewaffnete Kräfte in der Ukraine einzusetzen. Aber dieses Recht hat er bis jetzt nicht genutzt. Bewaffnete Kräfte Russlands sind nicht in die Krim einmarschiert, sie waren dort schon und befanden sich dort in Übereinstimmung mit einem völkerrechtlichen Vertrag. Ja, wir haben unsere Gruppierung dort verstärkt, aber überschritten nicht die festgelegte Zahl – ich möchte das unterstreichen, damit es alle hören und wissen – unserer bewaffneten Kräfte auf der Krim, die auf 25.000 Menschen festgelegt ist, dafür gab es einfach keine Notwendigkeit.

Weiter. Als der Oberste Rat der Krim die Unabhängigkeit erklärte und das Referendum begann, befand er sich in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen, in der vom Recht auf Selbstbestimmung die Rede ist. Ich möchte daran erinnern, daß die Ukraine beinahe wörtlich dasselbe tat, als sie ihren Austritt aus der UdSSR erklärte. In der Ukraine machte man also von einem Recht Gebrauch, das man den Krim-Bewohnern nicht zubilligt. Warum?

Präzedenzfall Kosovo Außerdem bewegte sich die Krim-Regierung auf dem Boden des bekannten Präzedenzfalls im Kosovo, den unsere westlichen Partner selbst schufen, mit ihren eigenen Händen und in einer Situation, die absolut analog zu der der Krim war. Sie erkannten die Abtrennung des Kosovo von Serbien als legitim an und wiesen darauf hin, daß keinerlei Genehmigung der Zentralmacht des Landes für die einseitige Unabhängigkeitserklärung erforderlich sei. Der Internationale UN-Gerichtshof stimmte dem auf der Grundlage von Artikel 1, Ziffer 2 der Charta der Vereinten Nationen am 22. Juli 2010 zu und bemerkte dazu folgendes. Ich zitiere wörtlich: "Aus der Praxis des Sicherheitsrates ergibt sich kein allgemeines Verbot einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung". Und weiter: "Das allgemeine Völkerrecht enthält kein irgendwie festgelegtes Verbot einer Unabhängigkeitserklärung." Das ist, wie man sagt, klar und deutlich.

Ich ziehe mich nicht gern auf Zitate zurück, kann mich aber nicht enthalten, einem offiziellen Dokument noch eine Passage zu entnehmen, diesmal aus einem Memorandum der USA vom 17. April 2009, das eben diesem Internationalen Gerichtshof zur Kosovo-Anhörung übergeben wurde. Ich zitiere erneut: "Unabhängigkeitserklärungen können, so oft es auch geschieht, die innere Gesetzgebung verletzen. Das bedeutet aber nicht, daß damit eine Verletzung des Völkerrechts geschieht." Ende des Zitats. (…) Sie haben es selbst geschrieben und der ganzen Welt verkündet, haben alles zurechtgebogen, und nun regen sie sich auf!? Worüber denn? Das, was die Bewohner der Krim tun, entspricht doch exakt dieser Anweisung – eine solche ist es ja faktisch. Warum ist das, was Albanern im Kosovo (und wir verhalten uns ihnen gegenüber mit Respekt) möglich ist, Russen, Ukrainern und Krimtataren auf der Krim verboten? Erneut stellt sich die Frage: Warum?

Nun hören wir aber von ihnen, von den Vereinigten Staaten und Europa, dass es sich beim Kosovo um einen besonderen Fall handelt. Woraus ergibt sich nach Meinung unserer Kollegen diese Exklusivität? Angeblich daraus, dass es im Verlauf des Konflikts im Kosovo viele Opfer gab. Ist das ein juristisches Argument? In der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs wird darüber nicht das Geringste gesagt. Hinzu kommt, Sie wissen es: Es gibt keine doppelten Standards. Es handelt sich um offensichtlich primitiven und unverblümten Zynismus. Man darf nicht derart grob seine Interessen betonen, dass man heute einen Gegenstand als weiß bezeichnet und morgen als schwarz. Soll das etwa heißen, dass jeder beliebige Konflikt soweit geführt werden soll, bis es Todesopfer gibt?

Ich sage unumwunden: Wenn die Selbstverteidigungskräfte der Krim gegenwärtig die Situation nicht unter Kontrolle hätten, dann könnte es dort Tote geben. Gott sei dank ist das nicht geschehen! Es gab auf der Krim nicht einen bewaffneten Zusammenstoß und es gab keine Toten. Was meinen Sie, warum? Die einfache Antwort: Weil es schwer oder praktisch unmöglich ist, gegen das Volk und seinen Willen zu kämpfen. In diesem Zusammenhang möchte ich den ukrainischen Militärangehörigen danken, es handelt sich um kein kleines Kontingent – 22.000 Menschen unter voller Bewaffnung. Ich will denjenigen ukrainischen Armeeangehörigen danken, die sich nicht zu einem Blutvergießen haben hinreißen lassen und sich nicht mit Blut befleckt haben.

In diesem Zusammenhang kommt einem etwas anderes in den Sinn. Uns wird etwas über irgendeine russische Intervention auf der Krim erzählt, über eine Aggression. Aus der Geschichte kann ich mich an keinen Fall erinnern, daß eine Intervention ohne einen einzigen Schuß und ohne Opfer stattfand.

Die Weltunordnung nach dem Ende der Bipolarität

Verehrte Kollegen! Im Zusammenhang mit der Lage in der Ukraine spiegelt sich all das, was derzeit, aber auch schon in den letzten Jahrzehnten in der Welt passiert, wider. Nach dem Verschwinden der Bipolarität ist diese Welt nicht etwa stabiler geworden. Wichtige internationale Institutionen erstarken nicht, im Gegenteil, häufig ist es so, dass sie an Bedeutung verlieren. Unsere westlichen Partner, allen voran die Vereinigten Staaten, ziehen es vor, in ihrer praktischen Politik nicht vom Völkerrecht, sondern vom Recht des Stärkeren Gebrauch zu machen. Sie glauben an ihre Erwähltheit und Exklusivität, daran, dass sie die Geschicke der Welt lenken dürfen und daran, dass immer nur sie allein Recht haben können. Sie handeln so, wie es ihnen einfällt: mal hier, mal da wenden sie Gewalt gegen souveräne Staaten an, bilden Koalitionen nach dem Prinzip "wer nicht mit uns ist, ist gegen uns". Um ihren Aggressionen das Mäntelchen der Rechtmäßigkeit zu verleihen, erwirken sie entsprechende Resolutionen bei internationalen Organisationen, und wenn das aus irgendeinem Grunde nicht gelingt, dann ignorieren sie sowohl den UN-Sicherheitsrat, als auch die Vereinten Nationen als Ganzes.

So war es, woran wir uns gut erinnern, 1999 in Jugoslawien. Es war schwer zu glauben, selbst den eigenen Augen wollte man nicht trauen, aber am Ende des 20. Jahrhunderts gab es wochenlang Bomben- und Raketenschläge auf eine europäische Hauptstadt – Belgrad – und darauf folgte eine wirkliche Intervention. Wo war denn die Resolution des UN-Sicherheitsrats dazu, die solche Handlungen erlaubt hätte? Es gab keine. Und danach kamen Afghanistan, Irak und die offene Verletzung der Resolution des UN-Sicherheitsrats zu Libyen, anstelle der Einrichtung einer sogenannten Flugverbotszone begannen auch dort Bombardements.

Es gab auch eine ganze Serie an gesteuerten "farbigen" Revolutionen. Es ist klar, dass die Menschen in den Ländern, in denen sie passierten, müde waren von der Tyrannei, von der Armut, von der Perspektivlosigkeit. Doch diese Gefühle wurden zynisch ausgenutzt. Diesen Ländern wurden Standards aufgezwungen, die in keinerlei Weise den Lebensweisen, den Traditionen oder der Kultur dieser Völker entsprachen. Im Endeffekt herrschen anstelle von Demokratie und Freiheit das Chaos, Gewalt und eine Abfolge an Staatsstreichen. Der "Arabische Frühling" wurde zum "Arabischen Winter".

Ein ähnliches Szenario kam in der Ukraine zur Anwendung. Im Jahr 2004 erfand man eine von der Verfassung nicht vorgesehene dritte Runde bei den Präsidentschaftswahlen, um den genehmen Kandidaten damit durchzubringen. Das war eine Absurdität und ein Hohn gegenüber der Verfassung. Jetzt wurde eine vorab ausgebildete, gut ausgerüstete Armee aus bewaffneten Radikalen in das Szenario eingebracht.

"Der Westen betrügt uns ein ums andere mal"

Wir verstehen sehr gut, was hier abläuft, wir wissen, dass diese Aktionen sowohl gegen die Ukraine, als auch gegen Russland gerichtet waren, ebenso auch gegen eine Integration in den eurasischen Raum. Und das zu einer Zeit, da Russland sich angestrengt um einen Dialog mit unseren westlichen Partnern bemüht. Wir schlagen beständig eine Zusammenarbeit in entscheidenden Fragen vor, wir wollen das Vertrauen stärken, wir möchten, dass unsere Beziehungen vielfältig, offen und ehrlich sind. Aber wir sahen keine Schritte auf uns zu. Im Gegenteil, sie betrogen uns ein ums andere Mal, sie trafen Entscheidungen hinter unserem Rücken, stellten uns vor vollendete Tatsachen. So verhielt es sich mit der Ausdehnung der NATO nach Osten, mit der Installierung einer militärischen Infrastruktur an unseren Grenzen. Sie bekräftigten uns gegenüber gleichzeitig: "Das geht euch nichts an". Das ist leicht gesagt, es geht uns nichts an.

So war es auch mit der Errichtung der Raketenabwehrsysteme. Ungeachtet all unserer Befürchtungen bewegt sich die Maschinerie vorwärts. So war es auch mit dem endlosen In-die-Länge-Ziehen der Verhandlungen zu Fragen der Visafreiheit, mit den Versprechen eines ehrlichen Wettbewerbs und eines freien Zugangs zu den globalen Märkten.

Heute drohen sie uns mit Sanktionen, aber wir leben bereits jetzt mit zahlreichen Beschränkungen. So verboten z. B. die USA und später auch andere Staaten schon während des "Kalten Krieges" in großem Umfang der UdSSR bestimmte Technologien und Ausrüstungen zu verkaufen. Sie standen auf der sogenannten Comecon-Liste. Heute haben sie das formal geändert, aber nur formal. In Wirklichkeit sind viele Verbote aus der Vergangenheit auch weiterhin in Kraft.

Kurz, wir haben allen Grund zu der Annahme, dass die sprichwörtliche Eindämmungspolitik gegen Russland, die sowohl im 18., im 19. und im 20. Jahrhundert betrieben wurde, auch heute noch fortgeführt wird. Man versucht ständig, uns in irgendeine Ecke zu drängen, und zwar dafür, dass wir eine unabhängige Position vertreten, dafür, dass wir diese verteidigen, und dafür, dass wir die Dinge beim Namen nennen und nicht heucheln. Im Falle der Ukraine haben unsere westlichen Partner eine Grenze überschritten, handelten grob, verantwortungslos und unprofessionell.

Sie waren doch vollkommen im Bilde darüber, dass sowohl in der Ukraine als auch auf der Krim Millionen russischer Menschen leben. Wie sehr muss man denn politisches Feingefühl und Augenmaß eingebüßt haben, um die Folgen seiner Handlungen nicht vorauszusehen? Russland ist an eine Grenze gelangt, hinter die es nicht mehr zurück konnte. Wenn man eine Feder bis zum Anschlag zusammendrückt, wird sie sich irgendwann einmal mit Gewalt ausspannen. ...

Beenden wir die Rhetorik aus Zeiten des Kalten Kriegs"

Heute ist es notwendig, die Hysterie zu überwinden, die Rhetorik aus Zeiten des Kalten Kriegs zu beenden und eine offensichtliche Sache anzuerkennen: Russland ist ein selbständiger, aktiver Faktor der internationalen Gemeinschaft, es hat, wie andere Länder auch, nationale Interessen, die man berücksichtigen und achten muss.

Dabei sind wir all denen dankbar, die unseren Schritten zur Lage auf der Krim mit Verständnis begegnet sind: Wir sind dem chinesischen Volk dankbar, dessen Führung die Lage um die Ukraine und die Krim in der Fülle der historischen und politischen Komplexität betrachtete und auch weiterhin betrachtet; wir schätzen auch die Zurückhaltung und die Objektivität Indiens hoch.

(...)

Ich denke, auch die Europäer, zuerst und vor allem die Deutschen, werden mich verstehen. Ich möchte Sie daran erinnern, dass im Verlauf der politischen Konsultationen zur Vereinigung von Ost- und Westdeutschland sogar auf höchster Expertenebene einige Länder, die Verbündete Deutschlands waren und sind, die Idee der Wiedervereinigung nicht unterstützt haben. Unser Land hat demgegenüber das aufrichtige und unaufhaltsame Streben der Deutschen nach nationaler Einheit eindeutig unterstützt. Ich bin mir sicher, dass Sie das nicht vergessen haben, und erwarte, dass die Menschen in Deutschland ebenso auch das Bestreben der Russen, des historischen Russlands, nach Wiedererrichtung der Einheit unterstützen.

(...)

Noch eines will ich sagen. In der Ukraine leben und werden weiterhin leben Millionen russischer Menschen, russischsprachiger Bürger; und Russland wird ihre Interessen auch künftig politisch, diplomatisch und juristisch schützen. Allerdings muss die Ukraine in erster Linie selbst daran interessiert sein, die Interessen dieser Menschen zu garantieren. Darin besteht ein Unterpfand für die Stabilität des ukrainischen Staates und der territorialen Integrität des Landes.

Wir wollen Freundschaft mit der Ukraine, wir wollen, dass sie ein starker, souveräner und sich selbst genügender Staat ist. Für uns ist die Ukraine ja einer der wichtigsten Partner, es gibt unzählige gemeinsame Projekte, und ungeachtet aller Dinge glaube ich an ihren Erfolg. Und das wichtigste ist: Wir wollen, dass Frieden und Einvernehmen auf ukrainischem Boden einkehren, und gemeinsam mit anderen Ländern wollen wir darin umfassende Unterstützung leisten. Doch ich wiederhole es: Nur die Bürger der Ukraine selbst sind dazu in der Lage, im eigenen Haus für Ordnung zu sorgen.

Die Entschiedenheit der außenpolitischen Position Russlands beruhte auf dem Willen von Millionen von Menschen, auf einem gesamtnationalen Konsens, auf der Unterstützung der führenden politischen und gesellschaftlichen Kräfte. Ich möchte allen für diese patriotische Einstellung Dank sagen. Allen ohne Ausnahme. Doch für uns ist es jetzt wichtig, diese Konsolidierung auch weiterhin zu bewahren, um die Aufgaben anzugehen, die vor Russland stehen.

"Wir müssen bereit, unsere nationalen Interessen konsequent zu verteidigen"

Wir werden es mit Sicherheit auch mit äußeren Gegenmanövern zu tun bekommen, doch wir müssen für uns selbst entscheiden, ob wir dazu bereit sind, unsere nationalen Interessen konsequent zu verteidigen, oder ob wir sie mehr und mehr aufgeben und uns wer weiß wohin zurückziehen. Manche westlichen Politiker schrecken uns bereits nicht nur mit Sanktionen, sondern auch mit der Perspektive einer Verschärfung der inneren Probleme. Es wäre interessant zu erfahren, was sie damit meinen: Aktivitäten einer gewissen "Fünften Kolonne" – also verschiedener "Vaterlandsverräter" – oder rechnen sie damit, dass sie die soziale und wirtschaftliche Lage Russlands verschlechtern können und damit eine Unzufriedenheit der Menschen hervorrufen? Wir betrachten solche Verlautbarungen als unverantwortlich und offen aggressiv, und werden entsprechend darauf reagieren. Dabei werden wir selbst niemals nach einer Konfrontation mit unseren Partnern – weder in Ost, noch in West – streben; ganz im Gegenteil, wir werden alles Notwendige unternehmen, um zivilisierte, gutnachbarliche Beziehungen aufzubauen, so, wie es sich in der heutigen Welt gehört.

(...)

Auch Russland steht es bevor, eine schwierige Entscheidung zu treffen, unter Berücksichtigung der Gesamtheit an inneren und äußeren Faktoren. Wie ist jetzt die Meinung der Menschen in Russland? Hier gibt es, wie in jeder demokratischen Gesellschaft, verschiedene Standpunkte, doch die Position der absoluten – und das möchte ich unterstreichen – der absoluten Mehrheit der Bürger ist ebenso offensichtlich.

Sie kennen die jüngsten Umfragen, die man in Russland dieser Tage durchgeführt hat: Ungefähr 95 Prozent der Bürger sind der Meinung, dass Russland die Interessen von Russen und anderen Nationalitäten auf der Krim verteidigen sollte. 95 Prozent! Und mehr als 83 Prozent gehen davon aus, dass Russland das tun muss, selbst wenn eine solche Position unsere Beziehungen zu manchen Staaten verschlechtern würde. 86 Prozent der Bürger unseres Landes sind der Meinung, dass die Krim nach wie vor russisches Territorium, russische Erde sei. Und hier eine sehr wichtige Zahl - sie korreliert absolut mit dem Ergebnis des Krim-Referendums: Fast 92 Prozent sind für eine Wiedervereinigung der Krim mit Russland.

Auf diese Weise ist sowohl die überwiegende Mehrheit der Bewohner der Krim, als auch die absolute Mehrheit der Bürger der Russischen Föderation für eine Wiedervereinigung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol mit der Russischen Föderation.

Jetzt ist es an Russland eine politische Entscheidung zu treffen. Und diese kann sich einzig auf dem Willen des Volkes gründen, denn das Volk ist die Quelle einer jeden Macht.

Sehr geehrte Mitglieder des Föderationsrats! Verehrte Abgeordnete der Staatsduma! Bürger Russlands, Einwohner der Krim und Sewastopols! Auf Grundlage der Ergebnisse des Referendums, das auf der Krim stattgefunden hat, auf Grundlage der Willensbekundung des Volkes, bringe ich ein Verfassungsgesetz über die Aufnahme zweier neuer Subjekte – der Republik Krim und der Stadt Sewastopol – in den Bestand der Russischen Föderation im Föderationsrat ein. Ich bitte ebenso darum, den zur Unterschrift vorbereiteten Vertrag über den Beitritt der Republik Krim und der Stadt Sewastopol zur Russischen Föderation zu ratifizieren. Ich zweifle nicht an Ihrer Unterstützung!

* Übersetzung aus dem Russischen: zum Teil Arnold Schölzel, zum Teil "apxwn",zum Teil AGF (unter Verwendung der englischen Fassung).
Quellen: junge Welt vom 18. März 2014 und http://www.chartophylakeion.de



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