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Vormarsch Richtung Osten

Russland und die Ukraine – das ist auch ein Konflikt mit der NATO

Von Hubert Thielicke *

Der aktuelle Konflikt um Russland und die Ukraine vollzieht sich auch vor dem Hintergrund weitreichender geopolitischer Veränderungen nach Ende des Ost-West-Konflikts.

Mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 wurde die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik zur Republik Ukraine. Aus den praktisch fiktiven Grenzen innerhalb der UdSSR entstanden über Nacht Staatsgrenzen. Und auch die geopolitischen Verhältnisse im westlichen Vorfeld änderten sich nach Ende des Kalten Kriegs stark. Da war die Osterweiterung der EU, der im Verlauf mehrerer Runden die ehemaligen europäischen Verbündeten der UdSSR beitraten, aber auch die früheren baltischen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen. Viel beunruhigender wirkt jedoch aus Moskauer Perspektive das Vorrücken der NATO bis zu den russischen Grenzen. Nach der Auflösung des Warschauer Vertrages hatte die Allianz offiziell auf ihrem Rom-Gipfel im November 1991 den Ost-West-Konflikt für beendet erklärt. Ihr eigentlicher Daseinszweck existierte nicht mehr. Die eigene Auflösung kam jedoch nicht infrage. Im Gegenteil, die Ostausdehnung des Paktes verlief schneller als jene der EU.

Bereits 1999 wurden Polen, Tschechien und Ungarn aufgenommen; fünf Jahre später folgten die drei baltischen Republiken, Bulgarien, Rumänien, die Slowakei und Slowenien, 2009 schließlich noch Albanien und Kroatien. Russland fühlte sich brüskiert, hatten doch westliche Politiker noch 1990 zu verstehen gegeben, dass eine Erweiterung näher heran an die Grenzen der Sowjetunion unterbleiben werde. So erklärte etwa der damalige Bundesaußenminister Genscher am 31. Januar 1990, eine Ausdehnung des NATO-Territoriums nach Osten werde es nicht geben, Moskaus Sicherheitsinteressen dürften nicht beeinträchtigt werden.

Doch es sollte noch enger werden: Auf dem Bukarester NATO-Gipfel 2008 peilten die Präsidenten Juschtschenko und Saakaschwili die Mitgliedschaft der Ukraine bzw. Georgiens an. Das vor allem von USA-Präsident Bush jun. forcierte Projekt fand jedoch keine Zustimmung. Insbesondere Deutschland und Frankreich verwiesen auf die starke Ablehnung der NATO durch die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung und die ungelösten Territorialkonflikte Abchasien und Süd-Ossetien. In diesem Prozess ging es nicht nur um eine rein formale Ausdehnung des NATO-Bereichs.

Dass das Militärbündnis bereit war, Zähne zu zeigen, veranschaulichte der Kosovo-Krieg 1999. Im Rahmen der Operation Allied Force setzte die Allianz Hunderte Kampfflugzeuge gegen die Bundesrepublik Jugoslawien ein. Der Luftkrieg kostete mehr als 3000 Menschen das Leben, zerstörte viele Gebäude wie Industrieanlagen und beschädigte die Infrastruktur nachhaltig. Basis dafür war einzig und allein ein Beschluss des NATO-Rates; es gab keine Entscheidung des UN-Sicherheitsrates. Damit waren die NATO-Aktionen eindeutig völkerrechtswidrig.

Nach dem neuen START-Vertrag zur atomaren Abrüstung ist es in den vergangenen Jahren zu keinen wesentlichen Fortschritten in den amerikanisch-russischen Beziehungen gekommen. Im Gegenteil. Moskau sieht in dem von Washington anvisierten weltweiten Raketenabwehrschirm eine Bedrohung seiner Sicherheit. Gleichzeitig treiben die USA die Modernisierung ihrer Kernwaffen voran. In Europa ist die NATO Russland bei den konventionellen Waffen ohnehin um das Zwei- bis Dreifache überlegen. Wie China ist Russland dabei, seine Militärausgaben beträchtlich zu steigern. So droht ein neues Wettrüsten.

Auch diese Entwicklungen lassen erahnen, warum man in Moskau so dünnhäutig auf die ukrainischen Ereignisse reagierte. Die Atmosphäre wurde nicht gerade besser durch die jüngsten antirussischen Pressekampagnen im Westen. »Putin und Russland sind in den vergangenen Monaten so gründlich dämonisiert worden, dass Putin nicht glaubt, dass es noch schlimmer für ihn kommen könne«, so die Einschätzung des außenpolitischen Experten Dmitri Trenin vom Moskauer Carnegie-Center.

Entsprechend hart war und ist die Reaktion auf den Umsturz in Kiew. Nach wie vor erkennt Moskau die dortige Regierung nicht an, zumal Kräfte wie die ultranationalistische Swoboda-Partei oder der »Rechte Sektor«, die sich offen als Feinde Russlands gerieren, entscheidend mitmischen. Auch das mag verständlich machen, dass die ethnischen Russen, die auf der Krim mit etwa 60 Prozent die Bevölkerungsmehrheit stellen, nach den Kiewer Ereignissen bestrebt waren, mit Milizen und russischer Hilfe das Eindringen radikaler westukrainischer Kräfte zu verhindern. Das Referendum wird zeigen, wie die Einwohner ihre Zukunft sehen.

Die Krim-Stadt Sewastopol ist für Russland ein historischer Ort: Hier tobte ab 1853 der Krimkrieg zwischen Russland auf der einen, Frankreich, Großbritannien, dem Osmanischen Reich und dem Königreich Sardinien auf der anderen Seite. Von 1941 bis 1942 verteidigten die sowjetischen Soldaten die Stadt gegen die deutschen Eindringlinge, vergebens. Unter Parteichef Chruschtschow wurde die Krim 1954 an die Ukrainische SSR übergeben, Sewastopol blieb aber als einer der Hauptstützpunkte der Marine unter der Aufsicht des Verteidigungsministeriums in Moskau.

Auch heute noch ist der Hafen für Russland von großer militärstrategischer Bedeutung. Laut russisch-ukrainischem Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und Partnerschaft von 1997 sollte Sewastopol für 20 Jahre Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte bleiben. Das Charkower Abkommen von 2010 verlängerte die Frist bis 2043. Jährlich zahlt Russland dafür eine hohe Pacht. Der an der russischen Schwarzmeerküste gelegene Hafen Noworossisk ist nicht tief genug und verfügt nicht über die erforderliche Infrastruktur.

In Sewastopol befinden sich der Stab der Flotte, Truppeneinheiten, Marine- und Fliegerkräfte. Gemäß dem Stationierungsabkommen von 1997 darf die Gesamtstärke der Schiffe 388 Einheiten betragen. Insgesamt sollen dort 25 000 russische Soldaten stationiert sein; zählt man Arbeiter, Angestellte und Familienmitglieder hinzu, gehe es um etwa 100 000, so der der russische Militärexperte Wiktor Litowkin. Die russische Schwarzmeerflotte sei wichtig für den Schutz Südrusslands. Verhindert werden solle der Aufmarsch von Flottenverbänden eines potenziellen Gegners im Schwarzen Meer. Zugleich bietet sich den Schiffen die Möglichkeit, von hier aus schnell ins Mittelmeer auszulaufen, wie etwa im Fall der Syrien-Krise geschehen.

Die geostrategische Bedeutung der Ukraine für Russland liegt auf der Hand. Aber auch in den Kalkulationen der USA spielt das Land eine große Rolle. So forderte Zbigniew Brzezinski, ehemaliger Sicherheitsberater von US-Präsident Carter, dieser Tage, die NATO solle Notfallpläne umsetzen und Truppen in Mitteleuropa stationieren, um für den Kriegsfall vorbereitet zu sein. Europa müsse sich stärker engagieren: »Wenn die EU eine ernsthafte Rolle in der Welt spielen möchte, dann kann sie in der Ukraine damit anfangen.« Für die schwächelnde ukrainische Wirtschaft müsse Geld bereit gestellt werden; Deutschland solle dabei vorangehen.

Und der altgediente und noch immer einflussreiche Eurasien-Stratege hat sogar weitergehende Pläne parat, wie man schon seinem 2012 erschienenen Buch »Strategic Vision« entnehmen kann. Eine »wahrhaft unabhängige Ukraine« solle EU-Mitglied werden und den Anschluss eines »transformierten« Russlands an den Westen fördern. Ziel sei die Beherrschung der eurasischen Landmasse durch die USA. Das mag man als »Träumereien an amerikanischen Kaminen« abtun. Doch wie Ben Rhodes, stellvertretender Sicherheitsberater von Präsident Obama, im Januar erklärte, sei die »Orientierung und Integration« der Ukraine in Richtung Westen tatsächlich »vorteilhaft«. Der Vorschlag Präsident Putins über einen gemeinsamen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok fand dagegen in Westeuropa bisher nur marginales Interesse.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 8. März 2014


Überstürzt und falsch

Ex-Pentagon-Chef Gates zur NATO-Ausdehnung **

Robert Gates weiß, wovon er spricht. Der Republikaner hat über russische und sowjetische Geschichte promoviert, diente vier USA-Präsidenten, war unter anderem CIA-Chef und zuletzt bis 2011 auch unter dem Demokraten Barack Obama »Kriegsminister«, wie er sich in seinen Anfang des Jahres erschienenen Erinnerungen mit dem Titel »Pflicht« (Duty: Memoirs of a Secretary of War) bezeichnet. Im Blick zurück war die Ostausdehnung des Nordatlantik-Paktes für ihn überstürzt und falsch. »Die eilfertige Aufnahme der ehemaligen UdSSR-Satelliten – der baltischen Länder, Ungarns, Polens, Tschechiens und der Slowakei – in die Nato war ein Fehler«, schreibt Gates. Dieser Prozess hätte langsamer vor sich gehen müssen. Die (Stationierungs-)»Abkommen der USA mit den Regierungen von Rumänien und Bulgarien über US-Militärbasen für Rotationszwecke« seien »eine unnötige Provokation« gewesen.

Den »Versuch, Georgien und die Ukraine in die Nato einzuladen«, nennt Gates »eine Übertreibung«. Vor allem mit Blick auf die Ukraine. Denn »die Wurzeln des russischen Reichs lassen sich auf Kiew zurückverfolgen, es handelte sich also um eine gewaltige Provokation.« Letztlich sei »die Nato-Erweiterung keine wohldurchdachte militärische Verpflichtung« gewesen, sondern »ein politischer Akt, der die Ziele der Allianz untergrub und das, was die Russen als ihre nationalen Lebensinteressen betrachteten, verantwortungslos ignorierte«, betont der einstige Pentagon-Chef.

Da sei auch Putins Groll gegen das Abkommen über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) verständlich, denn dieses sei in einer Zeit russischer Schwäche verhandelt worden und beschränke selbst die Möglichkeiten Russlands für Truppenbewegungen auf dem eigenem Territorium. Nach Gates Meinung waren die Beziehungen zu Moskau nach der Amtszeit von USA-Präsident George Bush sen. »durch eine erfolglose Administration beeinträchtigt«. So hätten »die Arroganz der amerikanischen Beamten, Wissenschaftler, Unternehmer und Politiker, die die Russen darüber belehrten, wie sie ihre inneren und äußeren Angelegenheiten führen sollten, weitgehende und dauerhafte Ablehnung und Erbitterung ausgelöst«, resümiert Gates. Sta

** Aus: neues deutschland, Samstag, 8. März 2014


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