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Politik der Nadelstiche

Poroschenko kündigt Truppenverstärkung an. NATO-Kriegsschiffe starten Manöver im Schwarzen Meer. EU-Sanktionen verzögern sich

Von Reinhard Lauterbach *

Während die ostukrainischen Aufständischen am Montag verabredungsgemäß ukrainische Gefangene freiließen, rasselt die andere Seite mit dem Säbel. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko flog in die seit einigen Tagen frontnahe Stadt Mariupol ein und kündigte die Entsendung weiterer Panzer und Raketenwerfer für die Verteidigung der Stadt an. Panzer sind allerdings für den Straßenkampf in einer Großstadt nicht einmal militärisch das geeignete Mittel. Sie zeugen vom Willen zu einer Gegenoffensive. Auch aus der Umgebung des östlich von Donezk gelegenen Frontvorsprungs um den Verkehrsknotenpunkt Debalzewe meldeten die Aufständischen Verstärkungen der Kiewer Truppen. Die Waffenruhe wird offenbar im wesentlichen eingehalten. Die OSZE berichtete von nur vereinzelten Schußwechseln, bei denen keine schweren Waffen eingesetzt worden seien. Der Sprecher des Kiewer Sicherheitsrates, Andrij Lysenko, behauptete, der Beschuß der Aufständischen komme nicht von Regierungstruppen, sondern von russischen Spezialkräften, die ukrainische Uniformen trügen.

Rußland kritisierte unterdessen das am Montag begonnene NATO-Marinemanöver im Nordwesten des Schwarzen Meeres. Es sei unangemessen und erhöhe unnötig die Spannungen in der Region. Im Rahmen der Übung »Sea Breeze 2014« sollen insgesamt zwölf Schiffe aus der Ukraine und mehreren NATO-Staaten Handlungen erproben, die im allgemeinen bei Seeblockaden nötig sind: Kontrolle von zivilen Schiffen. Sogar Kanada hat zu dem Manöver ein Schiff über den Atlantik geschickt. Die russische Marine entsandte als Antwort den Raketenkreuzer »Moskwa« ins Mittelmeer. Denn bei der Kontrolle des Schwarzen Meeres geht es weniger um dieses selbst als strategisch um die Präsenz der russischen Marine im Mittelmeer.

Der Kommandeur des ukrainischen Freiwilligenbataillons »Donbass«, Semjon Semjontschenko, hat am Montag seine Kollegen aus den anderen derartigen Einheiten zum Zusammenschluß aufgerufen. Es gehe darum, gegenüber der Kiewer Regierung und gegenüber ausländischen Lieferanten von Waffen und Ausrüstung geschlossen aufzutreten, schrieb er. Semjontschenko, der einer der in Nationalistenkreisen populärsten Feldkommandanten ist, stellte das Projekt in die Tradition der »Ukrainischen Militärorganisation« der 1920er Jahre. Diese Truppe trat damals mit Attentaten auf vor allem polnische Politiker hervor und gilt als Vorläufer der faschistischen »Organisation Ukrainischer Nationalisten«. Aus seinem Aufruf geht hervor, daß er den laufenden Wahlkampf ablehnt und statt dessen verlangt, den Kriegszustand auszurufen. Ein gemeinsamer Auftritt der bewaffneten Freiwilligen besäße erhebliches innenpolitisches Druckpotential, brächte aber womöglich das Gewaltmonopol des ukrainischen Staats auch in den von Kiew kontrollierten Gebieten ins Wanken.

Die Entscheidung der EU über eine neue Sanktionsrunde gegen Rußland hat sich am Montag verzögert. Wie der scheidende Ratsvorsitzende Herman Van Rompuy mitteilte, hatten sich bis zum ursprünglich vorgesehenen Termin nicht alle Mitgliedsstaaten zu den Vorschlägen geäußert. Vor allem Tschechien, die Slowakei und Ungarn hatten im Vorfeld Kritik an der Sanktionspolitik geäußert. Das am Freitag im Prinzip beschlossene Sanktionspaket sollte russischen Unternehmen den Zugang zum europäischen Finanzmarkt erschweren und die Lieferung von Hochtechnologie für die Ölförderung in der Arktis verbieten. Als Antwort hat Rußland gedroht, EU-Fluglinien die Überflugrechte über Sibirien zu entziehen.

* Aus: junge Welt, Dienstag 9. September 2014


Manöverkritik

Olaf Standke über Militärübungen im Ukraine-Konflikt **

Nach der Einigung auf eine Waffenruhe in der Ostukraine hat die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) am Montag erste Beobachter an die Grenze zu Russland entsandt. Die NATO schickt Militär. Seit gestern läuft im Schwarzen Meer das Manöver »Sea Breeze», eine gemeinsame Seeübung. Fünf NATO-Kriegsschiffe wollen drei Tage lang die »maritime Sicherheit in einem Krisengebiet gewährleisten«.

Natürlich ist die Idee zu dieser Übung nicht erst gestern geboren worden. Doch dass eine solche Waffenschau in der augenblicklichen Situation zusätzliche Brisanz bedeutet und in Moskau nur als Provokation empfunden werden kann, müsste jedem auch klar sein. Entsprechend harsch fielen die Proteste aus. Und die russische Seite antwortet mit einem noch größeren Manöver in unmittelbarer Nähe der Krisenregion. Schon frühere Militärübungen nahe Sewastopol, wo die russische Schwarzmeerflotte stationiert ist, hatten für Spannungen zwischen Kiew und Moskau gesorgt. Die nächsten werden folgen, wenn Mitte September im Westen der Ukraine ein Manöver unter Beteiligung von US- und auch Bundeswehrsoldaten stattfindet. Erstmals Bodentruppen mit schweren Waffen nahe der russischen Grenze – auch damit will man in Brüssel ausdrücklich ein Zeichen setzen.

** Aus: neues deutschland, Dienstag 9. September 2014 (Kommentar)


Wahnsinn mit Methode

Ukraine-Konflikt wird weiter eskaliert

Von Reinhard Lauterbach ***


Einerseits sind Verzögerungen bei Entscheidungen der EU nichts Neues. Die Mitgliedsstaaten lieben es, ihre Kompromisse als Kampf bis aufs Messer bzw. bis auf den letzten Cent zu inszenieren. Nachtsitzungen bis in die Puppen dienen in erster Linie der Selbstdarstellung der nationalen Politiker in ihren jeweiligen Heimatstaaten. Andererseits ist es schon für sich genommen ein Signal, wenn eine im Prinzip schon vorige Woche getroffene Entscheidung über das Wochenende eben nicht routinemäßig in den Hauptstädten abgenickt wird. Die EU ist erkennbar ohne Begeisterung dabei, die nächste Sanktionsrunde gegen Rußland zu beschließen. Tschechien, die Slowakei und Ungarn haben zuletzt öffentlich gegen die Sanktionspolitik gemosert; der regionale Scharfmacher Polen ist deswegen über seine einstigen Partner in der »Visegrád-Gruppe« »enttäuscht«.

Mit der Ankündigung der neuen »Strafmaßnahmen« am Freitag hat der scheidende Ratsvorsitzende Herman van Rompuy die Aussage verbunden, man könne bei russischem Wohlverhalten ja einzelne davon auch wieder zurücknehmen. Gleichzeitig analysiert die Wirtschaftspresse, daß die Sanktionen von begrenzter Wirkung sind. Rußlands Staatsverschuldung ist mit zwölf Prozent des Bruttoinlandsproduktes lächerlich im Vergleich zu der der USA oder der EU-Staaten, auch die russischer Unternehmen hält sich in Grenzen. Was also soll das Ganze, wenn es nicht wirkt und ins eigene Fleisch schneidet?

Abgesehen von der Arroganz, mit der hier eine Partei des Ukraine-Konflikts sich anmaßt, gleichzeitig auch noch den Richter spielen und »Strafen« verhängen zu können – es geht hier offensichtlich um genau jene Anpassung an Washingtoner und Brüsseler Kriterien. Rußland soll zu einem demütigenden Rückzug gezwungen werden – oder dazu, sich auf einen Jahre dauernden Kleinkrieg in der Ukraine einzulassen. Denn eines geht gar nicht: die Leute im Donbass in Ruhe zu lassen. Juri Luzenko, Berater von Petro Poroschenko, tönt zwei Tage nach der Vereinbarung der Waffenruhe von der Rückeroberung des Donbass in einigen Jahren einschließlich Vertreibung der Zivilbevölkerung (durch den Vergleich mit der kroatischen »Operation Sturm« gegen die Krajina 1995), und EU-Europa schweigt. Die Kommandeure der faschistischen Freiwilligenbataillone »Donbass« und »Asow« wollen ihre Leute für den Partisanenkrieg schulen, und niemand ruft sie zur Ordnung. Das bedeutet: All das wird, wenn es eintreten sollte, gewollt gewesen sein. Spätestens seit dem US-Krieg gegen die Sandinisten in Nicaragua in den 1980er Jahren ist das Konzept als »low intensity warfare« bekannt. Es ist darauf berechnet, eine Stabilisierung durch gezielte Nadelstiche zu verhindern. Daß der Hauptleidtragende eines solchen Konflikts die Zivilbevölkerung des Donbass sein wird, wird billigend in Kauf genommen. Mit Kollateralschäden kennen die Herrschaften sich ja aus.

*** Aus: junge Welt, Dienstag 9. September 2014 (Kommentar)

Das Buch zum Thema:

"Ein Spiel mit dem Feuer"
Im Papyrossa-Verlag ist Ende August 2014 ein Ukraine-Buch erschienen
Mit Beiträgen von Erhard Crome, Daniela Dahn, Kai Ehlers, Willi Gerns, Ulli Gellermann, Lühr Henken, Arno Klönne, Jörg Kronauer, Reinhard Lauterbach, Norman Paech, Ulrich Schneider, Eckart Spoo, Peter Strutynski, Jürgen Wagner, Susann Witt-Stahl
Informationen zum Buch (Inhalt und Einführung)




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