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HAT DIE UKRAINE NOCH EINE CHANCE?

Von Adalbert Krims *

Die Lage in der Ukraine ist nach wie vor sehr gespannt und eine dauerhafte Friedenslösung nicht i Sicht. Ob das zweite Minsker-Abkommen zumindest zu einem wirklichen Waffenstillstand und einer Weiterführung eines politischen Verhandlungsprozesses führt, ist bei Redaktionsschluss (12. 3. 15) immer noch nicht absehbar. Unversöhnlich stehen sich nach wie vor die gegensätzlichen Sichtweisen über den Grundcharakter des Konflikts gegenüber: die einen sehen darin eine „russische Aggression“ gegen einen unabhängigen Nachbarstaat, die anderen das Zusammenspiel zwischen einer innenpolitischen Auseinandersetzung und einem geopolitischen Plan zur Zurückdrängung bzw. Isolierung Russlands.

In diesem Zusammenhang sollte man sich in Erinnerung rufen, was Henry Kissinger zwei Wochen nach dem politischen Umsturz in der Ukraine in der „Washington Post“ geschrieben hat (5. 3. 14): „Jeder Versuch eines Teils der Ukraine, den anderen zu dominieren, würde langfristig zu einem Bürgerkrieg oder einer Spaltung führen. Die Behandlung der Ukraine als Teil einer Ost-West-Konfrontation würde für Jahrzehnte jede Aussicht zerstören, Russland und den Westen – vor allem Russland und Europa – in einem kooperativen internationalen System zusammenzubringen.“ Kissinger, Sicherheitsberater und Außenminister mehrerer republikanischer US-Administrationen, warnte auch ausdrücklich davor, die Ukraine „auf die Seite des Westens“ zu ziehen: „Wenn die Ukraine überleben und erfolgreich sein soll, darf sie nicht der Außenposten der einen Seite gegen die andere sein – sie sollte als Brücke zwischen beiden fungieren.“ Die Warnung Kissingers und vieler anderer (darunter auch alle noch lebenden deutschen Ex-Bundeskanzler) wurde nicht nur von den neuen Machthabern in Kiew, sondern auch von den USA und der EU in den Wind geschlagen. Das Ergebnis dieser Politik ist inzwischen genau so, wie Kissinger es vor einem Jahr vorhergesagt hat.

Offenbar folgt die US-Politik nämlich eher einem anderen „Geostrategen“ und ehemaligen Sicherheitsberater demokratischer Präsidenten, Zbigniew Brzezinski. In seinem 1997 erschienenen Buch „Die einzige Weltmacht“ sieht Brezezinski die Ukraine als entscheidenden Faktor, ob Russland eine Weltmacht oder nur eine regionale Mittelmacht darstellt. Dazu kommt, dass die USA seit der Unabhängigkeit der Ukraine insgesamt 5 Milliarden Dollar für die „Unterstützung der Demokratie“ ausgegeben haben (das bestätigte die für Europa zuständige Staatssekretärin im US-Außenministerium, Victoria Nuland, am 13. Dezember 2013 in Washington vor der „U.S.-Ukraine Foundation“. Zwei Wochen vor dem Umsturz in Kiew hatte Nuland die Vermittlungsbemühungen der EU mit „fuck the EU“ kommentiert. Und Nuland war es auch, die den damals von der EU und Deutschland favorisierten Boxweltmeister und Oppositionsführer Vitali Klitschko als „keine gute Wahl“ bezeichnete und stattdessen auf den späteren Ministerpräsidenten Arseni Jazenjuk setzte.

Die falsche Alternative: Brüssel oder Moskau?

Die Europäische Union, die mit ihrem Assoziierungsabkommen die Ukraine ultimativ vor die Entscheidung „Brüssel oder Moskau“ gestellt und damit die innenpolitische Krise Ende 2013 zwar nicht verursacht, aber doch wesentlich verschärft hatte, versuchte im Februar 2014 in letzter Minute, den Konflikt doch noch friedlich zu lösen. Die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens brachten Regierung und Opposition zur Unterzeichnung eines Protokolls, das u. a. eine Übergangsregierung aus allen politischen Kräften, vorgezogene Neuwahlen von Präsident und Parlament im Dezember, die Auflösung aller privaten bewaffneten Verbände sowie eine Verfassungsreform (u. a. Einschränkung der Macht des Präsidenten, Dezentralisierung der politischen Macht) vorsah. Allerdings hielt dieses Abkommen nur wenige Stunden, dann übernahm die Opposition mit Hilfe bewaffneter Demonstranten die Macht – unter Bruch nicht nur der Vereinbarung mit der EU, sondern auch der ukrainischen Verfassung. Da die EU das akzeptierte und die neue Regierung (unter Einschluss offener Faschisten, aber unter Ausschluss der bisherigen pro-russischen Regierungspartei) politisch und ökonomisch unterstützte, wurde sie zur Partei eines innenpolitischen Konflikts und konnte daher keine glaubwürdige Rolle als Vermittler zwischen Kiew und Moskau spielen.

Als Folge des Umsturzes in Kiew, der Rücknahme aller Zusagen über eine Regierung der nationalen Einheit, einer Verfassungsreform und Dezentralisierung, dem (schließlich durch EU-Intervention verhinderten) Gesetz über die Abschaffung von Russisch als zweiter Amtssprache sowie den NATO-Annäherungsplänen der neuen Machthaber formierte sich im Osten der Ukraine offener Widerstand, der von Russland unterstützt wurde. Dass der verfassungswidrige Machtwechsel in Kiew auch Folgen für die Krim haben würde, konnte niemanden überraschen. Die Halbinsel war mehr als 200 Jahre lang Teil Russlands und die Bevölkerungsmehrheit wollte nie zur Ukraine gehören wollte. Außerdem hat Russland massive strategische Interessen; vor allem Sewastopol als einziger „winterfester“ Hafen und Standort der russischen Schwarzmeerflotte ist für Russland unverzichtbar. Die NATO-Pläne der neuen Regierung und Ankündigungen, das Stationierungsabkommen für Sewastopol nicht mehr zu verlängern, waren für Moskau ein Alarmsignal. Die Bevölkerung sprach sich in einem international nicht anerkannten Referendum mit überwältigender Mehrheit für den Beitritt zur Russischen Föderation aus, der dann auch von der Duma in Moskau beschlossen wurde. Die Mehrheit der internationalen Gemeinschaft sah darin eine völkerrechtswidrige „Annexion“ – und die USA und die Europäische Union verhängten Sanktionen gegen Russland, die seither einige Male verschärft bzw. verlängert wurden.

Der falsche Weg: Sanktionen

Während die USA wegen ihrer nur marginalen Wirtschaftsbeziehungen von den Sanktionen kaum betroffen sind, haben sie nicht nur für Russland, sondern auch für mehrere EU-Mitgliedsländer erhebliche negative ökonomische Effekte. Zwar wurde die russische Wirtschaft durch die Sanktionen, mehr aber noch durch den (von den USA mit beeinflussten) Verfall des Ölpreises, in eine schwere Krise gestürzt, was aber bisher nicht zu der wahrscheinlich erhofften Abkehr der Bevölkerungsmehrheit von der Regierung geführt hat. Die offiziell mit den Sanktionen angestrebten politischen Ziele (nämlich eine Kursänderung der russischen Ukraine-Politik, die Rückgabe der Krim sowie die Einstellung der Unterstützung pro-russischer Kräfte) wurden ebenfalls nicht erreicht, sondern es kam zu einer generellen Verschlechterung der Beziehungen des Westens zu Russland, was sich auch negativ auf andere Konfliktherde in der Welt auswirkt. Die Sanktionspolitik stellt natürlich auch eine offene, einseitige Parteinahme für die Ukraine dar, die in Kiew eher die Hardliner stärkte. Denn während gegenüber Moskau ständig mit Sanktionsverschärfungen gedroht wurde, gab es keinerlei politischen oder gar ökonomischen Druck auf Kiew. Wenn in einem Konflikt zwischen zwei Parteien ein außenstehender Dritter immer nur Druck auf eine Partei ausübt und ihr droht, dann fühlt sich natürlich die andere Partei in ihrer Haltung bestärkt und sieht keine Notwendigkeit für Kompromissbereitschaft. Für Verhandlungen und eine politische Friedenslösung würde man aber „ehrliche Makler“, also echte Vermittler benötigen, die nicht von vornherein nur die eine Seite unterstützen. Leider haben sich auch die europäischen neutralen Staaten durch ihre Einbindung in die westliche Sanktionspolitik für eine solche Rolle disqualifiziert.

Im Osten der Ukraine erklärten sich die Regionen von Donezk und Lugansk im April 2014 einseitig für „unabhängig“. Die beiden „Volksrepubliken“ wurden aber international nicht anerkannt – und ihre Repräsentanten kamen auf die Sanktionsliste der EU. Der Konflikt in der Ostukraine weitete sich im Sommer zu einem faktischen Krieg aus, wobei sich beide Seiten gegenseitig die Schuld an der Eskalation gaben. Die Zahl der Flüchtlinge liegt inzwischen bei bis zu zwei Millionen, wobei rund zwei Drittel nach Russland geflüchtet sind. Die ukrainische Regierung hat Russland wiederholt beschuldigt, mit regulären Truppen an den Kämpfen beteiligt zu sein, ja sogar von einer direkten militärischen Invasion gesprochen. Der ukrainische Generalstabschef hat dies aber sogar im privaten Fernsehsender von Poroschenko bestritten. Die NATO spricht zwar von einigen hundert russischen Militärberatern in der Ostukraine, widerspricht aber ebenfalls die Behauptung der Regierung über den Einsatz russischer Armee-Einheiten. Sicher ist aber, dass die militärischen Erfolge der sog. Separatisten ohne Unterstützung aus Russland kaum möglich wären. Ein weiterer Faktor ist allerdings auch der desolate Zustand der ukrainischen Armee und die geringe Motivation der zwangsverpflichteten Soldaten. An entscheidenden Fronten werden daher auch auf ukrainischer Seite Milizen eingesetzt, das sind von diversen Oligarchen finanzierte Privatarmeen (inkl. ausländischer Söldner). Besonders berüchtigt ist das rechtsextreme Asow-Bataillon, das offiziell dem Innenministerium unterstellt ist, aber teilweise vom Oligarchen Igor Kolomojski finanziert wird und offen Nazi-Symbole trägt. Soldatenfriedhof in Donezk (Foto: Christian Wehrschütz)

Die ukrainische Regierung stellt den Konflikt im Osten des Landes gerne als „Terrorismusproblem“ dar, wobei Präsident Petro Poroschenko unmittelbar nach seiner Wahl Ende Mai 2014 die militärische Niederwerfung und Ausmerzung der Terroristen innerhalb weniger Wochen angekündigt hatte. Zugleich schloss er jeden Dialog mit ihnen aus. Der Versuch der ukrainischen Regierung, die Bevölkerung im Osten durch Einstellung der Versorgung sowie der Gehalts- und Rentenzahlungen quasi „auszuhungern“, hat in Wirklichkeit nur die Spaltung des Landes vertieft, den Hass auf Kiew im Osten verstärkt und außerdem dem russischen Nachbarn die Möglichkeit geboten, durch Hilfslieferungen als „Retter in der Not“ zu erscheinen.

Auf diese Weise – und sicher auch durch die russische Unterstützung der „Separatisten“ – ist im Osten der Ukraine eine Situation entstanden, die für die Zentralregierung militärisch nicht mehr zu gewinnen ist, auch wenn die Regierung Jazenjuk in ihrem Programm die Verfünffachung der Militärausgaben vorsieht (obwohl der Staat schon jetzt pleite ist). Offenbar hatte die ukrainische Führung, die im Oktober durch Verfassungsänderung die Blockfreiheit abschaffte und sich offiziell zum NATO-Beitritt bekennt, lange Zeit auf eine massivere Unterstützung durch das westliche Militärbündnis gesetzt, zumal vor allem aus Washington immer wieder Signale in diese Richtung kamen.

Keine militärische Lösung

Die Entwicklung der letzten Monate hat jedenfalls deutlich gemacht, dass es keine militärische Lösung für die Ukraine gibt und deshalb ein sofortiger Waffenstillstand sowie ein wirklicher Dialog (sowohl innerukrainisch als auch zwischen Kiew, Moskau und Brüssel) alternativlos ist. Aus diesem Grunde ist es auch zum 2. Gipfeltreffen in Minsk gekommen, bei dem sich die Staatspräsidenten der Ukraine, Russlands, Frankreichs sowie die deutsche Bundeskanzlerin nicht nur auf ein Waffenstillstandsabkommen, sondern auch auf Grundzüge eines „Friedensfahrplans“ für die Ost-Ukraine geeinigt haben. Punkt 11 der 13 Punkte umfassenden Übereinkunft lautet etwa: „Bis Ende 2015 muss eine neue ukrainische Verfassung in Kraft treten, die eine Dezentralisierung des Landes ermöglicht und mit Vertretern der abtrünnigen Regionen abgestimmt ist. Ein Gesetz zum künftigen Sonderstatus von Donezk und Lugansk muss ebenfalls bis Jahresende verabschiedet werden.“ In Punkt 12 werden freie Wahlen unter OSZE-Aufsicht in den Regionen Donezk und Lugansk angekündigt (ohne Datum, aber noch in diesem Jahr). Bis es allerdings zu diesen Punkten 11 und 12 kommt, müssen erst die Punkte 1 bis 10 „abgearbeitet“ werden, bei denen es sowohl um militärische als auch um humanitäre Fragen sowie um die Wiederherstellung der Sozial- und Wirtschaftsbeziehungen im Konfliktgebiet geht.

Einen interessanten Lösungsansatz hat die sog. „Ukraine-Initiative“ erarbeitet, die vom ukrainischen Oligarchen Victor Pintschuk gegründet wurde und der prominente Wirtschaftsführer aus der Ukraine, Russland (darunter mehrere Vorstandsvorsitzende großer Banken, aber auch z. B. der liberale Ex-Politiker Anatolij Tschubais), den USA und der EU angehören. Mitte September 2014 hat sich diese Initiative auf Einladung des Davoser Weltwirtschaftsforums in Genf getroffen und sich auf einige zentrale Punkte eines Friedensplanes geeinigt. Dazu gehören
  • die Dezentralisierung der politischen Macht, indem Rechte von der Zentralregierung abgegeben und Minderheiten- und Sprachenrechte garantiert werden;
  • Die Garantierung der Sicherheit und Souveränität der Ukraine durch die internationale Gemeinschaft sowie die Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung bei Beachtung einer Politik der militärischen Bündnisfreiheit für die Ukraine, vergleichbar zum Status anderer europäischer Länder wie Finnland, Schweden oder Schweiz;
  • Ausarbeitung eines ökonomischen Wiederaufbauplanes, der sich mit den durch den Konflikt verursachten Verwüstungen, der Notwendigkeit humanitärer Hilfe sowie der Wiederherstellung der notwendigen Infrastruktur befasst;
  • Koordinierung und Errichtung besonderer Assoziierungs- und Handelsvereinbarungen der Ukraine sowohl mit der Europäischen Union als auch mit der Russischen Föderation und später möglicherweise mit der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft, um die Wirtschaft der Ukraine zu stabilisieren.
Wenn die Ukraine als gemeinsamer, souveräner Staat erhalten bleiben soll – und das will nicht nur die „Ukraine-Initiative“, sondern dazu haben sich auch in Minsk alle Seiten bekannt –, dann müssen dringend glaubwürdige Maßnahmen getroffen werden, das auseinandergebrochene Land wieder zusammenzuführen. Leider hat die ukrainische Regierung diesbezüglich schon mehr als ein ganzes Jahr verloren. Die wichtigste Maßnahme dazu ist der Dialog, der niemanden ausschließen darf. Um zu einer politischen Lösung zu kommen, die auch Bestand hat, muss zwar der Einfluss der radikal-nationalistischen Kräfte auf beiden Seiten zurückgedrängt, aber trotzdem müssen sie in den Friedensprozess einbezogen werden. Die künftige Struktur der Ukraine wie auch die politische Kräfteverteilung müssen letztlich das Ergebnis eines demokratischen Prozesses sein. Mit Panzern und Raketen oder mit zusätzlichen Waffenlieferungen kann die Einheit des Landes jedenfalls nicht wiederhergestellt werden.

* Aus: KRITISCHES CHRISTENTUM, Heft 386/387 (März/ April 2015), S. 8-13. A-1040 Wien, Mühlgasse 25/5. akc@aon.at


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