Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Kiew rechnet mit Opfern

Ukraine: Machthaber kündigen Belagerung von Slowjansk an. Anschläge auf Flughafen Kramatorsk und Kontrollpunkt bei Odessa

Von Reinhard Lauterbach *

Die Truppen der ukrainischen Machthaber wollen die von Aufständischen besetzte Stadt Slowjansk offenbar belagern, um ihre Übergabe zu erzwingen. Der Leiter der Verwaltung des demokratisch nicht legitimierten »Präsidenten« Olexander Turtschinow, Serhij Paschinski, sagte in Kiew, die eigenen Kräfte würden die Stadt einschließen und jede Verstärkung von außen unterbinden. Paschinski nannte die Aufständischen »Terroristen« und warf ihnen vor, sich in zivilen Objekten zu verschanzen. Kurz zuvor hatte der Kommandeur der bei Slowjansk eingesetzten Truppen, General Wassil Krutow, beklagt, daß der Einsatz wegen fehlender Unterstützung durch die Einwohner und die örtliche Polizei nicht vorankomme.

Letzte Meldungen

Volkswehr von Lugansk stellt Regierung in Kiew Ultimatum

Die Volksmilizen im ostukrainischen Lugansk haben die Führung in Kiew ultimativ aufgefordert, ihre Forderungen bis Dienstag zu erfüllen. Anderenfalls werde die „Armee des Südostens“ „zu aktiven Handlungen übergehen“.

„Unsere Forderungen sind einfach: die Amnestierung aller politischen Häftlinge, ein Referendum, die Annullierung der Erhöhung der Preise und Tarife und die russische Sprache“, heißt es in dem Ultimatum, das auf der Webseite der Stadt veröffentlicht wurde. „Wenn alle unseren Forderungen, die mit den Genfer-Vereinbarungen untermauert sind, bis 14:00 Uhr (13:00 Uhr MESZ) des Dienstag, 29. April, nicht erfüllt sein werden, werden wir alle Machtorgane in Kiew als volksfeindlich und als verbrecherisch betrachten und zu aktiven Handlungen übergehen.“

Die Volksmilizen in Lugansk, die sich als „Vereinigte Armee des Südostens“ bezeichnen, kontrollieren seit drei Wochen das städtische Gebäude des Geheimdienstes SBU.


Slawjansk: Volkswehr nimmt drei SBU-Offiziere fest

Die Bürgerwehr der ostukrainischen Proteststadt Slawjansk hat drei Offiziere des Kiewer Geheimdienstes SBU festgenommen. Diese waren nach eigenen Aussagen auf einer Geheimmission unterwegs, um einen der regionalen Aktivistenführer zu kidnappen.

Der Kommandant der Bürgerwehr von Slawjansk, Igor Strelkow, berief am Sonntag eine Sonderpressekonferenz ein, um die Festgenommenen, bei denen es sich laut ihren sichergestellten Dienstausweisen um einen Major, einen Kapitän und einen Oberstleutnant des SBU handelt, Journalisten vorzustellen. „Sie Volkswehrkräfte haben sie auf dem Weg von Kramatorsk nach Gorlowka festgehalten“, teilte Strelkow mit. Er bezeichnete die Festgenommenen, bei denen unter anderem Glock-Pistolen beschlagnahmt worden waren, als „Kriegsgefangene“. „Wir werden Kiew vorschlagen, sie gegen unsere verhafteten Anhänger zu tauschen.“

Einer der festgenommenen SBU-Offiziere, Oberstleutnant Rostoslaw Kijaschko, teilte Journalisten mit, dass seine Gruppe aus insgesamt sieben Mann bestanden und den Befehl gehabt habe, in Gorlowka einen gewissen Igor Besler zu entführen. Die ukrainischen Behörden halten Besler für einen russischen Armeeoffizier und einen der Führungsköpfe der Volksmilizen in Gorlowka. Die Nachrichtenagentur UNIAN meldete in der vergangenen Woche jedoch, dass sich bei Besler um einen ukrainischen Friedhofsdieb handle.

Beide Meldungen aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 27.04.2014; http://de.ria.ru



Paschinski verschärfte auch die Rhetorik gegenüber Rußland. Keine »humanitären Ausreden« über den Schutz von Zivilisten würden akzeptiert; jeder russische Soldat, der die Grenze zur Ukraine überschreite, werde »vernichtet«. Damit nahm er praktisch vorweg, daß es Anlaß für solche »Ausreden« geben könne. Zugleich übte sich ein Sprecher des Kiewer Außenministeriums im »Ihr aber auch«. Rußland habe kein Recht, sich über Angriffe auf die Zivilbevölkerung zu beschweren, da es selbst im Kampf gegen Terroristen Zivilisten töte. Am Donnerstag hatte ein Abgeordneter des russischen Föderationsrates gefordert, gemäß Artikel 51 der UN-Charta Friedenstruppen in die Ostukraine zu schicken. Kiewtreue Medien in der Ukraine behaupten, Teile der russischen Truppen im Grenzgebiet seien bereits mit Blauhelmen ausgestattet und ihre Fahrzeuge weiß umlackiert worden.

Im Donbass selbst gab es am Freitag zunächst keine größeren Kampfhandlungen. Am Vormittag ereignete sich allerdings eine Explosion auf dem vor einigen Tagen von Kiewer Truppen eroberten Flugplatz von Kramatorsk. Das Kiewer Verteidigungsministerium teilte mit, ein Scharfschütze habe gezielt in den Kerosintank eines dort startbereit stehenden Hubschraubers geschossen und diesen in Brand gesetzt. Kramatorsk ist der Hauptstützpunkt der Kiewer Luftwaffe im Kampf um das Donbass. Am frühen Morgen war es bereits an einem Kontrollpunkt der regimetreuen Kräfte am Rande von Odessa zu einem Zwischenfall gekommen. Vermutlich durch den Wurf einer Handgranate wurden sieben Maidan-Aktivisten, die den Kontrollpunkt besetzt hielten, verletzt.

Das russische Landwirtschaftsministerium warf der Ukraine inzwischen vor, der Krim das Trinkwasser abzuschneiden, obwohl diese angeboten habe, die Lieferung im voraus zu bezahlen. Schon in den letzten Wochen hätten die Kiewer Machthaber die Einleitung von Wasser in den Nord-Krim-Kanal drastisch gesenkt. Statt der üblichen 90 Kubikmeter pro Sekunde – etwa einem Drittel der Kapazität des Kanals – sei nur noch das technische Minimum von sieben Kubikmetern eingespeist worden. Über den in sowjetischer Zeit gebauten Kanal erhält die Krim zwischen März und November etwa 80 Prozent ihres Trinkwasserbedarfs aus dem Unterlauf des Dnipro. Wenn sich die Meldung über die Wasserdrosselung bewahrheitet, droht der Landwirtschaft vor allem im flachen Nordteil der Halbinsel eine schwere Mißernte. Die britische BBC berichtete am Freitag, das Kiewer Regime habe schon in der vergangenen Woche beschlossen, der in die Russische Föderation gewechselten Region das Wasser abzudrehen.

* Aus: junge Welt, Samstag 26. April 2014


Russlands Verteidigungsminister ans Telefon

Kiew kesselt ostukrainisches Slawjansk ein / Russland und Westen mit starken Worten und Dialogwillen

Von Klaus Joachim Herrmann **


Nach dem tödlichen »Anti-Terror-Einsatzes« der ukrainischen Regierung im Donbass gab es am Freitag starke Worte und etwas Hoffnung auf Dialog.

Mit »Verwunderung« quittierte Russlands Verteidigungsministerium Berichte, dass Pentagon-Chef Chuck Hagel seinen Amtskollegen Sergej Schoigu am Vortag telefonisch nicht erreichen konnte. Es gab kein Signal, verbreitete RIA/Novosti. Das Ministerium sei bereit, mit dem Pentagon »objektiv und konstruktiv« über die Normalisierung in der Ukraine zu sprechen.

Keine Rede sei allerdings von einer Entsendung eines internationalen Friedenskontingents, wies Präsidentenberater Juri Uschakow einen Vorschlag russischer Politiker zurück. Sie hatten vorgeschlagen, eine Friedenstruppe aus den Teilnehmerländern der Genfer Vereinbarung zu formieren. Die Vorsitzende des Föderationsrates, Valentina Matwijenko, wandte sich strikt gegen eine Entsendung russischer Truppen in die Ostukraine.

Wahrscheinlicher wäre, dass Russland eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats anstrebt, wenn erneut gewaltsam gegen die »Protestbewegung« vorgegangen werde, wie Russlands UN-Botschafter Witali Tschurkin ankündigte.

US-Präsident Barack Obama, Bundeskanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Staatschef François Hollande und die Regierungschefs von Großbritannien und Italien, David Cameron und Matteo Renzi, sprachen über eine mögliche »Verhängung neuer Sanktionen der internationalen Gemeinschaft gegen Russland«, wie der Elysée-Palast in Paris mitteilte.

ÛS-Außenminister John Kerry warf Russland »Sabotage« vor. Sein russischer Amtskollege Sergej Lawrow klagte, die »Macht der US-Propaganda« ziele darauf ab, Russland und die Proteste »in den Schmutz zu ziehen«.

Staatspräsidenten und Vertreter von vier Ex-Sowjetrepubliken und sechs EU-Staaten boten laut dem tschechischen Präsidenten Milos Zeman nach einem Gipfel der Länder in Prag ihre Vermittlung an. Die Ukraine und Russland müssten aber zustimmen.

Der Kiewer Regierungschef Jazenjuk warf Russlands Präsidenten Wladimir Putin vor, mit einem Großmanöver sowie eingeschleusten »Terroristen« eine »militärische Aggression« auszuüben. »Russland will den dritten Weltkrieg anzetteln«, sagte er.

Die Chefs der ukrainischen rechtsextremistischen Swoboda-Partei, Oleg Tjagnibok, und des »Rechten Sektors«, Dmitri Jarosch, forderten die »Liquidierung der bewaffneten Terroristen« und eine massenhafte Bewaffnung »freiwilliger patriotischer Formationen«.

Kiewer Sondereinheiten kesselten Slawjansk ein, informierte der Chef des Antiterrorzentrums, Wassili Krutow. Prorussische Kräfte hätten einen Armeehubschrauber auf dem Militärflugplatz in Kramatorsk zerstört.

Die Zentrale Wahlkommission der Ukraine schlug statt eines Referendums eine »Befragung« über den Staatsaufbau vor.

Die Rating-Agentur Standard & Poor’s (S&P) senkte Russlands Bonitätsnote um eine Stufe auf BBB – eine Stufe über »spekulativ«.

** Aus: neues deutschland, Samstag 26. April 2014


Genfer Partner sollen Frieden bringen

Russische Senatoren nehmen Kurs auf gemeinsame militärische Mission in der Ostukraine

Von Irina Wolkowa, Moskau ***


Telefonisch drohte Bundeskanzlerin Merkel dem russischen Präsidenten wieder einmal mit Sanktionen. Doch Moskau denkt schon über eine internationale Friedensmission in der Ukraine nach.

Mehrere russische Senatoren haben die Entsendung von Friedenstruppen in die Ostukraine vorgeschlagen. Dabei soll es sich um Kontingente handeln, die die Unterzeichner der Genfer Abmachungen von Ende vergangener Woche – Russland, Ukraine. USA und EU – gemeinsam aufstellen. Der Senat will dazu spätestens Anfang der Woche konkrete Beschlüsse fassen, schreibt die regierungsnahe Tageszeitung »Iswestija«.

Damit reagiert Moskau offenbar auch auf einen Appell von Bundesaußenminister Frank Walter Steinmeier, der von der Genfer Runde konkrete Vorschläge zur realen Deeskalation der Spannungen in der Ostukraine forderte. Die »Njesawissimaja Gasjeta« verwies derweil auf tonangebende Kräfte in Deutschland, die eine Einstellung der Kontakte mit Russland forderten. Prominente Russland-Fürsprecher, die einen Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen forderten, würden »beinahe gemobbt«.

Mit der Androhung antirussischer Sanktionen würde die Bundesregierung diese »ungesunde Atmosphäre« fördern, hieß es bei RIA/Novosti. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte genau dies aber offenbar bei einem Telefongespräch mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin gerade getan. Laut deutschen Angaben unterstrich die Kanzlerin die Bereitschaft zu weiteren Sanktionen bei einer Zuspitzung des Konflikts: »Da möge sich keiner täuschen. Diese Bereitschaft besteht weiterhin.«

Auf die Fortsetzung der sogenannten Anti-Terror-Operation der Führung in Kiew gegen die prorussischen Separatisten, bei der es bereits Tote und Verletzte gab, hatte Moskau sofort mit zuvor nicht angekündigten Manövern an der Grenze zur Südostukraine reagiert. Die russische Luftwaffe unternahm Trainingsflüge in unmittelbarer Grenznähe, so Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu. Er kritisierte in diesem Zusammenhang heftig die NATO-Manöver, die in Kürze in Polen und den baltischen Ex-Sowjetrepubliken beginnen sollen. Sie würden »kaum zur Normalisierung der Lage um die Ukraine beitragen«.

Auch Russlands Außenminister Sergei Lawrow warnte erneut vor der weiteren Eskalation der Gewalt. Das, was derzeit im Südosten der Ukraine passiere, sei Ergebnis der »verantwortungslosen Politik Kiews, die sich auf ultranationalistische und extremistische, hauptsächlich Neonazi-Gruppierungen stützt«, sagte der Diplomat am Donnerstag auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem libanesischen Amtskollegen Gebran Bassil.

Ein gerüttelt Maß Schuld treffe auch die westlichen Paten der neuen Führung in Kiew, führte der Chef des Außenamtes am Smolensker Platz aus. Die USA und Europa würden eine Regierung in Schutz nehmen, die durch einen Staatsstreich an die Macht kam und dadurch ein von europäischen Außenministern vermitteltes Abkommen zum Krisenmanagement torpediert hätte. Gemeint war die Absetzung des aus russischer Sicht demokratisch legitimierten Präsidenten Viktor Janukowitsch.

Zu befürchten sei, dass der Westen an einer Interimsregierung der nationalen Eintracht in der Ukraine, die zusammen mit den Regionen eine neue Verfassung erarbeitet, nicht interessiert sei. Erst nach deren Inkraftsetzung würden Wahlen Sinn machen.

*** Aus: neues deutschland, Samstag 26. April 2014


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