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Zahlt der Westen Kiews Gasschulden?

Eine schnelle Beilegung des ukrainisch-russischen Streits um offene Rechnungen scheint inzwischen möglich

Von Rainer Rupp *

Bewegung im ukrainisch-russischen Streit um alte Gasrechnungen: Es gebe eine »gute Chance«, bereits zum 1. Juni zu einer Einigung zu kommen, erklärte am Montag EU-Energiekommissar Günther Oettinger in Berlin. Zuvor hatte er sich mit den zuständigen russischen und ukrainischen Ministern, Alexander Nowak und Juri Prodan, getroffen. Laut Oettinger würden die EU und der Internationale Währungsfonds (IWF) der Ukraine helfen, im Rahmen der »Hilfspakete« die Gasschulden zu zahlen. Allerdings werde die EU keine Garantie für die Verbindlichkeiten Kiews übernehmen. Von den in Aussicht gestellten 17 Milliarden US-Dollar (12,46 Milliarden Euro) des IWF hat dieser bereits drei Milliarden überwiesen.

Laut EU-Plan soll die Ukraine bis Donnerstag zwei Milliarden Dollar nach Rußland transferieren. Weitere 500 Millionen wären demnach bis zum 7. Juni fällig. »Ich glaube, daß eine Einigung auf Grund des guten Willens aller Beteiligten möglich ist«, sagte Oettinger. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) betonte zugleich, wie »wichtig« es sei, daß die Energiegespräche vorankommen.

Das große Interesse Berlins und Brüssels an einer Verständigung zwischen den Kontrahenten basiert auf der Tatsache, daß ein großer Teil der russischen Lieferungen nach Westen durch die Ukraine fließt. Das Land selbst bezieht die Hälfte seines Gasbedarfs aus Rußland, die EU gut ein Drittel. Bei einem früheren Lieferstopp wegen nichterfolgter Zahlungen, ließ Kiew das für EU-Europa bestimmte Gas aus den Pipelines abzweigen. Daraufhin hatte Moskau alle Lieferungen über ukrainisches Territorium gestoppt. Im Falle eines erneuten Stopps befürchten die EU-Verantwortlichen eine Wiederholung des Diebstahls.

Aktuell geht es um Altschulden. Seit November letzten Jahres hat Kiew nicht mehr gezahlt. Und es wird um die Preise für künftige Lieferungen gerungen. Ohne Begleichung wenigstens eines Teils der Altschulden hat Rußland angekündigt, ab 1. Juni kein Gas mehr an die Ukraine zu liefern. Vieles spricht dafür, daß Moskau die laut EU-Vorschlag von Kiew bis zum 7. Juni zu überweisenden 2,5 Milliarden Dollar als Abschlagszahlung auf die geforderten 3,5 Milliarden US-Dollar akzeptiert. Die Gesamtforderung erkennt die Ukraine nicht an, weil der Lieferant Gasprom ab April 2014 die mit der alten Regierung vereinbarten Preise als Reaktion auf den Putsch drastisch erhöht hatte.

Moskau verlangt ab April den um 80 Prozent höheren, auch vom Westen bezahlten Marktpreis. Den will Kiew wieder gesenkt haben. Daß dies nicht ausgeschlossen ist, signalisierte Gasprom-Chef Alexej Miller am Rande der internationalen Wirtschaftskonferenz in St. Peterburg. Das sei durchaus verhandelbar, ließ es wissen.

* Aus: junge Welt, Mittwoch 28. Mai 2014


Keine Engpässe?

Beruhigungspille: Wirtschaftsforscher sehen Europas Erdgasversorgung trotz Ukraine-Krise gesichert – kurzfristig. Abhängigkeit von russischen Lieferungen bleibt

Von Jana Frielinghaus **


Das Resultat der Untersuchung, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) am Dienstag in Berlin vorstellte, war offenbar vom Aufttraggeber – der Grünen-Fraktion im Europaparlament – zuvor festgelegt worden. Anders läßt sich die enorme Diskrepanz zwischen vorgestellten Details und Überschrift der Pressemitteilung nicht erklären. Die lautet: »Erdgasversorgung in Europa trotz Ukraine-Krise gesichert«.

Auf der Pressekonferenz drückte sich Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am DIW, dagegen sehr vorsichtig aus: Das Forscherteam habe zwei Szenarien errechnet – A: Folgen des Wegfalls der russischen Gaslieferungen via Ukraine, B: komplette Einstellung – und dabei festgestellt, daß die Versorgung »kurz- bis mittelfristig sicher sein kann«. Die Aussage gilt allerdings eher für Westeuropa. Namentlich Deutschland steht mit einem Anteil von etwa 38 Prozent russischen Importen am hier verbrauchten Erdgas verhältnismäßig gut da. Bei Inkrafttreten von Szenario A wäre zudem über die Nord-Stream-Pipeline auf dem Grund der Ostsee und die durch Belarus und Polen verlaufende Jamal-Leitung die Versorgung hierzulande weiter gesichert.

Finnland, die baltischen Staaten, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Tschechien und die Slowakei sind dagegen zu 90 bis 100 Prozent auf Rußland angewiesen, die Ukraine, Polen, Bulgarien, Serbien, Griechenland und die Türkei zu 50 bis 85 Prozent.

Wie lange die Europäische Union einen Lieferstopp tatsächlich überbrücken kann, hängt jenseits dieser Differenzen davon ab, wie lang und kalt der Winter ist, wieviel Flüssiggas kurzfristig aus Nordafrika und Norwegen schnell herbeigeschafft – und vor allem gelagert werden kann. Für rund 90 Tage würden die Reserven in Deutschland reichen, räumte Kemfert ein. Die Speicherkapazitäten in der EU steigen laut DIW stetig. Allerdings hält der russische Konzern Gasprom große Anteile an den meisten Erdgaslagern. In der Bundesrepublik gibt es davon derzeit zwei größere. Das im niedersächsischen Rehden befindet sich inzwischen zu 100 Prozent in der Hand von Gasprom Deutschland, der Speicher »Katharina« in Peißen bei Bernburg in Sachsen-Anhalt zur Hälfte. Für letzteren wurde erst vor zweieinhalb Jahren der erste Spatenstich getan. Bis 2024 sollen hier zwölf unterirdische Hohlräume in Salzstöcken in 500 bis 700 Metern Tiefe zu Gasspeichern ausgebaut werden.

Kemfert forderte, die EU müsse den Kreis ihrer Partner im Gasgeschäft weiter vergrößern, die Infrastruktur besser nutzen, die Energieeffizienz erhöhen und den Ausbau der Nutzung von Wind, Sonne, Wasser als Energieträger konsequent vorantreiben, um sich mittelfristig »noch besser« gegen Lieferausfälle zu wappnen.

Hauptsächlich in der Ukraine selbst würde ein Ausfall der russischen Lieferungen, der angesichts dramatischer Zahlungsrückstände unmittelbar bevorstehen dürfte, für eine extreme Steigerung der Preise sorgen. Laut DIW würden sie sich bei Szenario A wie auch B mehr als verdreifachen. Auch sonst dürfte die Bindung der Ukraine an die EU mittels des am 21. März eilig unterzeichneten Assoziierungsabkommens für die europäischen Steuerzahler teuer werden. Das machten die Ausführungen von DIW-Forschungsdirektor Christian von Hirschhausen deutlich. Die Volkswirtschaft des Landes sei die energieintensivste Europas, die Effizienz beim Verbrauch habe sich seit 1994 kaum verbessert. Das Bruttoinlandsprodukt werde dieses Jahr voraussichtlich um weitere fünf Prozent gegenüber 2013 einbrechen, prognostizierte der Experte.

Am Ende stellte Reinhard Bütikofer, der für Bündnis 90/Die Grünen nach der Wahl am Sonntag weiter im EU-Parlament sitzen wird, klar, daß »in den nächsten fünf Jahren eine vollständige Unabhängigkeit von Rußland weder möglich noch gewollt« sei. Sie müsse aber zügig ausgebaut werden. Dies ergebe sich schon aus der europäischen Energiestrategie, mit der schrittweise eine Unabhängigkeit von fossilen Brennstoffen erreicht werden solle. Auch Kemfert betonte, Rußland sei und bleibe ein wichtiger Erdgaslieferant.

** Aus: junge Welt, Mittwoch 28. Mai 2014


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