Charlie - Patrioten - Ukraine:
Anti-Terroristische Einheit - auf dem Weg in eine neue Volksgemeinschaft?
Von Kai Ehlers
Anschlag auf "Charlie Hebdo" in Paris, "Islamischer Staat", Patrioten
Europas gegen die Islamisierung des Abendlandes" (Pegida) - diese Themen
überbieten zur Zeit alles andere. Sogar Russland, Ukraine, Sanktionen sind
vorübergehend aus den Schlagzeilen verschwunden - allerdings nur, um durch
die Hintertür, jetzt bereichert um die Variante der Terrorabwehr, wieder zu
erscheinen.
Aber der Reihe nach, wie es sich aus dem unvoreingenommen Gespräch ergibt,
in dem versucht werden soll, die Geschehnisse zu sortieren:
Was ist an dem Anschlag auf "Charlie Hebdo", wie brutal, wie erschreckend
und wie sehr zu verurteilen er zweifellos ist, so neu, dass die halbe
westliche Welt ihre höchsten politischen Repräsentanten als einfache
Demonstranten nach Paris schickt, um sie dort "Je suis Charlie" skandieren
zu lassen? Hatten wir nicht schon weit schlimmere Anschläge in der
Vergangenheit? Haben wir nicht auch gegenwärtig Massaker von weit größerem
Ausmaß? Den täglichen Terror im Irak, in Pakistan, im uigurischen China, in
Gaza/Israel. Die Überfälle von Boko Haram, die Brutalitäten des "Islamischen
Staates".
Und was ist daran so neu, dass junge Deutsche oder auch andere westliche
Jugendliche sich für den bewaffneten Kampf im Ausland anwerben lassen?
Hatten wir solche Reisekader zur Unterstützung bewaffneter Aufstände,
einschließlich hiesigen Terrors, nicht schon in früheren Tagen? In anderen
Zusammenhängen? Hatten wir! Hatten wir in unterschiedlichen Arten, haben wir
zuletzt jetzt auch in solchen, die sich in den ukrainischen Bürgerkrieg
einbringen - auf beiden Seiten.
Was schließlich ist so überraschend und so aufregend an den "Patrioten
Europas gegen die Islamisierung des Abendlandes" (Pegida), deren neunzehn
Programmpunkte, auch die auf sechs reduzierten sich nur mit Mühe von den
Programmen der CSU, der CDU und der Großen Koalition unterscheiden lassen?
Sind nicht mindestens 13 - 15% Rechte statistischer Bodensatz der deutschen
Demokratie seit 1945?
Wo sind die Berichte über die Gefährlichkeit der Montags-Mahnwachen der
neuen Friedensbewegung geblieben? Verschwindet deren kritisches Potential im
patriotischen Sog der "Pegida"? Wird der verbreitete Unmut über das
Russland-Bashing von rechts okkupiert?
Ist es nicht bemerkenswert, dass vom blutigen Bürgerkrieg im Osten der
Ukraine, obwohl der gerade wieder eskaliert, noch weniger die Rede ist als
bisher?
Und wieso, schließlich, tritt die deutsche Bundesregierung, nachdem sie mit
ihrem Aufruf zur anti-terroristischen Mahnwache in Berlin schon selbst
unter die Demonstranten gegangen war, die sie üblicherweise als "Straße"
diffamiert, nach dem Verbot der "Pegida-" und der Anti-"Pegida"
Demonstrationen in Dresden aktiv für die Erhaltung der
Demonstrationsfreiheit in Deutschland ein? Seit wann sind Forderungen nach
Demonstrationsfreiheit - und auch nach Freiheit der Presse -
Staatsangelegenheit? In Deutschland oder auch anderswo?
Merkwürdige Mutationen lassen sich da an der Kultur der deutschen
Montagsmahnwachen und ihrer Medienrezeption beobachten: Aus dem
aufbegehrenden Ruf "Wir sind das Volk" wurde "Ich bin Charlie"; aus dem
immer wieder beschworenen revolutionären Impuls der DDR-Friedensbewegung
also unversehens ein staatstragender Ruf zur Verteidigung der bestehenden
Ordnung. Da liegt "Pegida" ganz auf staatstragender Linie: Patrioten Europas
gegen den Terrorismus. Nur folgerichtig fordert der ukrainische Präsident
Poroschenko in seiner neuen Offensive gegen die Republiken im Osten des
Landes die mit ihrer Krise kämpfenden Europäer unter dem Slogan "Ich bin ein
Ukrainer" zur Wahrung der Einheit Europas gegen die von seiner Regierung zu
Terroristen erklärten Rebellen auf. In seinem Aufruf zur gemeinsamen
Verteidigung der europäischen Werte gegen den Terror wird er nicht nur von
der deutschen Kanzlerin, sondern auch vom Europäischen Parlament unterstützt
- obwohl diese Werte sich schon längst in einen blutigen Krieg gegen die
Zivilbevölkerung im Osten der Ukraine verwandelt haben und obwohl der an
diese Ukraine-Politik geknüpfte Sanktionskrieg schon lange auch Europa in
die Krise treibt.
Wer dies klar durchdenkt, begreift: die anti-terroristische Massenbewegung,
die unter dem Bekenntnis "Ich bin Charlie", "Ich bin ein Ukrainer",
genereller gesagt, "Ich bin ein mögliches Opfer des Terrorismus" in Europa
zurzeit mobilisiert wird, läuft im Ergebnis auf ein gigantisches
Ablenkungsmanöver hinaus.
Aber bitte kein Missverständnis: Nicht dass der islamistische Terror nur ein
von den Medien aufgeblasenes Gespenst sei, nicht dass die Attentäter von
Paris, des "Islamischen Staates", von Boko Haram oder andere von westlichen
Geheimdiensten gesteuert würden, nicht dass die "Patrioten Europas gegen die
Islamisierung des Abendlandes" eine geheimdienstliche Gründung seien, wie
manche superkritische Zeitgenossen schon wieder mit Blick auf 09/11 in den
USA vermuten. - Nein, dies alles entwickelt sich direkt aus den bestehenden
Verhältnissen. Die Frage stellt sich allein, wie kommen diese Verhältnisse
zustande und wer geht damit wie um.
Das kann hier selbstverständlich nicht in aller Breite aufgerollt werden.
Eine unfreiwillige Offenbarung zu dieser Frage, die zu bedenken Sinn macht,
lieferte jedoch unlängst Kanzlerin Angela Merkel, als sie in einem eigens zu
diesen Fragen geführten Interview in der FAZ von dem Interviewer gefragt
wurde, woher ihrer Meinung nach der Hass komme, der sich in den
terroristischen Anschlägen wie auch in den Demonstrationen der letzten
Zeit äußere:
"Die Welt ist voller Konflikte", antwortete sie, "und wir erleben in den
letzten Jahren, dass die Globalisierung, von der wir in so vieler Hinsicht
profitieren, diese Konflikte näher an uns heranrückt. Es ist wichtiger denn
je, Entwicklungshilfe zu betreiben, und zum Beispiel gerade auch in Afrika
die Fluchtursachen zu bekämpfen".
Wer nun geglaubt hatte, sie werde etwas darüber sagen w i e "die
Globalisierung, von der wir in so vieler Hinsicht profitieren, diese
Konflikte näher an uns heranrückt", sah sich getäuscht. Stattdessen waren
Kanzlerin und Interviewer wenige Sätze weiter schon wieder bei den
"russischen Aggressionen", die ihrer Darstellung nach den Weltfrieden
gefährden. Damit war der Ring von Russlands "Aggression" zur terroristischen
Bedrohung geschlossen. Für die Frage, wovon in der Welt und auch in
Deutschland oder auch anderen Ländern Europas und auch im weiteren
atlantischen Bündnis so viele Menschen in den Protest, vom Protest in die
Revolte oder auch in den Terror getrieben werden, ist bei dieser Art von
politischer Hermetik kein Platz mehr.
Dabei muss man nicht lange suchen: Es ist die kapitalistische
Produktionsweise mit der ihr gesetzmäßig innewohnenden Rationalisierungs-
und zugleich Expansionsdynamik, die bei wachsender Produktivität und
Konzentration der Reichtümer in immer weniger Händen weltweit immer mehr
Menschen als "Überflüssige" an den Rand drängt. Zusammen mit der zugleich
immer noch rasant steigenden Weltbevölkerung ergibt sich daraus ein über die
Welt verteiltes wachsendes Potential von Menschen, die sich als Mensch nicht
mehr verwirklichen können - nicht physisch, nicht sozial, nicht
geistig-seelisch.
Und es ist ganz einfach: je weiter und je schneller sich dieser Prozess nach
den gegenwärtig herrschenden Gesetzen der Globalisierung fortsetzt, desto
schneller treibt dieses Entwicklung radikalen Lösungen zu, vor allem aus dem
Süden des Globus, wo nicht nur das Bevölkerungswachstum schneller
voranschreitet, sondern auch die durch die globalisierende
Industrialisierung verursachte Prekarisierung der aus ihren traditionellen
Lebenszusammenhängen gerissenen Bevölkerungen. Und je mehr 'wir davon
profitieren', wie Angela Merkel es nennt, und je mehr Deutschland sich mit
Militäreinsätzen an der Niederschlagung auftretender Konflikte beteiligt,
desto klarer kommt der Terror auch auf Deutschland zu. Das ist eine klar
durchschaubare Kette von Ursache und Wirkung.
Und was nun? Wie Angela Merkels Zitat zu entnehmen ist, weiß man in den
politischen Etagen Bescheid. Dafür spricht ja auch, dass Zbigniew Brzezinski
angesichts dieser Entwicklung schon Anfang der 90er des vorigen Jahrhunderts
das Unwort des "tittytainment" stiftete, was ein Stillen der "Überflüssigen"
durch die moderne Variante von 'Brot und Spiele' meint. Für den Fall, dass
das nicht gelingt, wurden und werden parallel dazu in CIA-nahen Think-Tanks
Strategien entwickelt, wie man die "Überflüssigen" dazu bringen kann sich
gegenseitig zu "dezimieren". Papst Franziskus machte sich gleich bei
Amtsantritt damit bekannt, dass er die Welt davor warnte weiterhin
"Überflüssige" zu produzieren und wie Müll beiseite zu schieben.
Hier wäre anzusetzen - eine Art Generalprävention gegen imperiale Expansion
Deutschlands, der EU und letztlich weltweit in der Form einer gerechteren
Weltwirtschaft. Etwas theoretischer gesprochen hieße das, die Privatisierung
der globalen Reichtümer durch eine Minderheit entwickelter Staaten und in
ihnen durch eine Minderheit besitzender Schichten in eine bedarfsorientierte
Wirtschaft zu überführen. Das müsste in Deutschland geschehen wie auch
deutsches Exportmodell werden anstelle des Exports von "freier
Marktwirtschaft". Aber von einer solchen Perspektive hört man bei Angela
Merkel selbstverständlich nichts. Stattdessen die Schlagworte
"Entwicklungshilfe" und "Fluchtursachen bekämpfen". Diese Schlagworte
bleiben jedoch solange hohl, wie die örtlichen und regionalen Wirtschaften
nur als Absatzmarkt und Arbeitskräftereservoir der "entwickelten
Industriestaaten" verstanden werden.
Konstatieren wir also ohne Illusionen: Solange sich an dieser Art der
Globalisierung nichts grundsätzliche ändert, wird die Zahl der
"Überflüssigen" und ihre Radikalität zunehmen - weltweit und auch vor Ort.
Das ist die tiefere Ursache des "Hasses", aus dem Proteste, Revolten und
auch Terror zunehmen werden - nicht dagegen der Islam oder auch sonst
irgendeine Religion. Der Islam ist - in der Konstellation der historisch
gewachsenen Zurückgebliebenheit der muslimischen Welt gegenüber dem
industrialisierten abendländischen Westen - lediglich der Resonanzboden von
Protesten gegen eine als unterdrückerisch empfundene Dominanz des Westens.
Ursache ist die weltweit wachsende spontane Unruhe der Einzelnen und der
Völker selbst, die unter dieser Dominanz nicht mehr leben und sich nicht
entwickeln können - dies aber wollen.
Also noch einmal: Was nun, was tun, wenn die Welt, wenn ich an diesem
Zustand der Welt nicht ersticken soll? Die Antwort ist so einfach - man mag
es kaum glauben: Sie liegt in der Unterscheidung zwischen "Überflüssigen"
und "Überflüssig Gemachten". Wer erkennt, dass die sog. "Überflüssigen"
nicht Ausdruck einer natürlichen, gar unabänderlichen biologischen
Entwicklung sind, sondern Ergebnis bewusster Organisation der Arbeit, der
hat den ersten Schritt gesetzt, um sich aus der Rolle des hilflosen Opfers
dieses Prozesses zu befreien.
Gegen eine solche Befreiung, die von Kritik, zum Protest, zur Revolte und
möglicherweise zur Rebellion gegen die herrschenden Verhältnisse aufsteigen
könnte, ist die anti-terroristische Mobilisierung ein willkommenes Mittel
für die heute Herrschenden die von einer zunehmend unruhig werden
Bevölkerung nicht mehr akzeptierten Verhältnisse aufrechtzuerhalten. Auf
dieser Stufe der Auseinandersetzung muss Terror nicht erst geheimdienstlich
erfunden zu werden, es reicht, den real existierenden Terror, wo er der
eigenen Situation nahe kommt, zu benutzen, um die Gemüter verängstigter
Bürger und Bürgerinnen, die wie Frau Merkel wissen, dass wir in so vieler
Hinsicht von der Globalisierung profitieren, für eine anti-terroristische
Volksgemeinschaft zu mobilisieren. Wenn unsere Gesellschaft sich nicht
besinnt, ist das die Geburtsstunde eines neuen Faschismus.
Wer dies für übertrieben hält, mag sich an dieser Stelle noch einmal
vergegenwärtigen, wie die Regierung der Ukraine, gefördert durch die USA,
die EU, Deutschland und persönlich durch Angela Merkel im Namen der Einheit
Europas unter dem Ruf "Ich bin Ukrainer" für einen blutigen Krieg,
euphemistisch als Anti-Terror-Aktion (ATO) ausgegeben gegen die
ost-ukrainischen Separatisten, konkret gegen die dort lebende Bevölkerung
mobilisiert.
Kurz gesagt: Der viel beschworene "mündige Bürger" und die "mündige
Bürgerin" müssen aufpassen, dass ihre Kritik, ihr Unmut, ihr Protest und
ihre tendenzielle Bereitschaft zu mehr Demokratie unter dem Banner der
Einheit gegen den Terror nicht unter der Hand zu ihrer Entmündigung führt.
Was wir statt verängstigter "Charlies" brauchen, die auf der Freiheit von
Satire bestehen, aber im Übrigen die aus den bestehenden Verhältnisse
resultierende Unfreiheit akzeptieren, weil und solange sie darin
privilegiert sind, sind selbstbewusste Menschen, die eine Gesellschaft
aufbauen, die keinen Terror von Unterdrückten provoziert und die ihre
Regierung dahin bringen, eine solche Politik nach außen zu vertreten.
Kai Ehlers: www.kai-ehlers.de
Zum Thema: Kai Ehlers, Die Kraft der "Überflüssigen", Pahl-Rugenstein, 2013
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