Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

UN-Generalsekretär bietet Vermittlung in der Ukraine an

Tote bei Kämpfen um Slawjansk / Hunderte Rebellen halten Stellungen *

UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon hat angeboten, zwischen den Konfliktparteien in der Ukraine zu vermitteln. Zugleich rief er am Montag bei einem Besuch in Abu Dhabi alle Seiten auf, die Krise »mit friedlichen Mitteln« beizulegen. »Ich bin bereit, dabei meine eigene Rolle zu spielen, wenn das notwendig ist«, sagte er. Er habe mit allen betroffenen Parteien gesprochen, den führenden Politikern in der Ukraine, in Russland, in der EU sowie in den USA.

Unterdessen sind die Kämpfe in der Ostukraine wieder aufgeflammt. Im Kampf um Slawjansk meldeten beide Seiten Tote, ein weiterer Hubschrauber der Armee wurde abgeschossen. Laut ukrainischem Innenminister halten 800 Rebellen ihre Stellungen.

Übergangspräsident Alexander Turtschinow erklärte in Kiew mit Blick auf die Ostukraine, es werde »Krieg gegen uns geführt«. Weiter meinte er: »Sagen wir doch mal ehrlich: Die Bürger dieser Regionen unterstützen die Separatisten, sie unterstützen die Terroristen, was die Durchführung der Anti-Terror-Operation erheblich erschwert.« Hinzu komme, dass die Polizei mit den prorussischen Kräften sympathisiere. »Das ist ein kolossales Problem«, sagte Turtschinow. Der Politiker warf dem im Februar gestürzten Präsidenten Viktor Janukowitsch vor, die »Provokationen« zu finanzieren. Janukowitsch hält sich in Russland auf.

In Estland haben derweil etwa 6000 Soldaten eine dreiwöchige Militärübung begonnen, darunter 550 Einsatzkräfte aus mehreren anderen NATO-Ländern. Neben Soldaten aus den USA und Großbritannien sind auch Einheiten aus Lettland, Litauen, Polen, Belgien und Frankreich an dem Manöver beteiligt.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 6. Mai 2014


Ruf aus der Duma: Tribunal für Kiew

Russische Abgeordnete fordern Aburteilung der ukrainischen Übergangsregierung

Von Irina Wolkowa, Moskau **

Ein internationales Tribunal wie für Slobodan Milosevic und Co. nach den jugoslawischen Sezessionskriegen forderten Duma-Abgeordnete am Montag für die ukrainische Übergangsregierung.

Der Vorschlag für ein Tribunal, das die ukrainische Übergangsregierung anklagen soll, kam von Irina Jarowaja, der Chefin des Sicherheitsausschusses der russischen Duma. Sie gehört zur Führung der Regierungspartei »Einiges Russland« und sorgte schon als Koautorin von Gesetzen, mit denen das Demonstrationsrecht verschärft und die Adoption russischer Waisen durch US-amerikanische Pflegeeltern untersagt wurde, international für Schlagzeilen. Die neue Macht in Kiew, so Jarowaja, die selbst aus dem ukrainischen Donezk stammt, erteile Befehle zur Vernichtung des eigenen Volkes; nach den Gräueltaten in Odessa müsse sie abgeurteilt werden. Am Freitag hatten Militante des ultranationalen Rechten Sektors in der südukrainischen Hafenstadt zunächst ein Zeltlager in Brand gesetzt, wo prorussische Aktivisten Unterschriften für ein Referendum über die Zukunft ihrer Region sammelten. Als diese sich in das Haus der Gewerkschaften flüchteten, bewarfen die Extremisten das Gebäude, dessen Ausgänge sie zuvor versperrt hatten, mit Brandsätzen.

Über 40 Menschen verbrannten oder starben beim Sprung aus den Fenstern. Russische Medien, die eigene Korrespondenten am Ort haben, berichteten, die Polizei habe tatenlos zugesehen. Zuvor hatte schon das Außenamt in Moskau die aus russischer Sicht »selbsternannten« Machthaber in Kiew scharf für die »Säuberungsaktionen ukrainischer Strafkommandos« gegen »waffenlose Bürger« kritisiert. Massive Schelte gab es auch für den Europarat, dessen Außenminister seit Montag in Straßburg tagen. Der Europarat und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), heißt es in einer Erklärung, die unmittelbar vor dem Abflug von Russlands Außenminister Sergej Lawrow zum Tagungsort veröffentlicht wurde, seien verpflichtet, Kiew zur »bedingungslosen Erfüllung der in Genf erzielten Vereinbarungen zur Deeskalation und Vorbereitung einer neuen Verfassung der Ukraine aufzurufen«. Von beiden Institutionen fordert Moskau außerdem eine »objektive Stellungnahme« zu der Tragödie in Odessa und ein »Ende der Informationsblockade«. Unrühmlich aufgefallen war vor allem der Nachrichtenkanals Euronews, der auch in Russland empfangen werden kann. In dessen Bericht war lediglich von einem Brand die Rede. Hergang und Akteure wurden nicht erwähnt.

Für den Kreml ist Odessa ein weiterer Beweis, dass die Wiedervereinigung der Krim mit Russland richtig war. Das entschlossene Handeln von Präsident Wladimir Putin und das eindeutige Votum der Bürger, sagte der Präsidentensprecher, habe der Halbinsel ein Blutbad erspart.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 6. Mai 2014


Moskau: Krise bedroht Frieden in Europa

Weißbuch zur Lage in der Ukraine vorgelegt ***

Nach einem Bericht des russischen Außenministeriums werden in der Ukraine durch »Ultranationalisten, Extremisten und Neonazis« massiv Menschenrechte verletzt, wodurch der Frieden in ganz Europa bedroht sei.

Das am Montag in Moskau vorgestellte sogenannte Weißbuch über die Krise in der Ukraine listet zahlreiche Fälle bis hin zu Folter auf, von denen insbesondere die russischsprachige Bevölkerung betroffen sei. Die Menschenrechtsverletzungen hätten einen »massiven Charakter«, heißt es in einem Vorwort des Moskauer Außenministeriums.

Die ukrainische Gesellschaft und die internationale Gemeinschaft werden in dem Bericht zum Einschreiten aufgerufen, andernfalls drohten »zerstörerische Konsequenzen für den Frieden, die Stabilität und die demokratische Entwicklung in Europa«. Ultranationalisten und Neonazis hätten die Protestbewegung »monopolisiert«. Die Vorwürfe werden mit Fotos von den Massenunruhen ergänzt, die im November zunächst in Kiew begonnen hatten.

Der ukrainische Regierungschef Arseni Jazenjuk wird Dienstag kommender Woche die EU-Kommission besuchen. Eine Sprecherin der Behörde teilte am Montag in Brüssel mit, bei Gesprächen mit der Führung der EU werde es vor allem um Hilfen für die Ukraine gehen. Diese Hilfen sollten die Regierung in Kiew kurz- und langfristig »in die Lage versetzen, die nötigen Reformen zu verwirklichen, die für das Land nötig sind«. Die EU hat bereits Finanzhilfen in Höhe von rund elf Milliarden Euro angekündigt und auf Zölle für Waren aus der Ukraine weitestgehend verzichtet.

Angesichts der anhaltenden Gewalt in der Ostukraine hat Frankreichs Staatschef François Hollande auf die Abhaltung der für Ende Mai geplanten landesweiten Präsidentschaftswahl gepocht. Nichts dürfe die Wahl am 25. Mai »behindern«, sagte Hollande am Montag in Paris.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 6. Mai 2014


Vertrieben

Von Klaus Joachim Herrmann ****

Wieder einmal forderte der inzwischen 70-jährige Mustafa Dschemilew die Obrigkeit heraus. Der Rauswurf aus der Krim mit einem Einreiseverbot bis 2019 hinderte ihn am Wochenende nicht am Treffen mit Landsleuten. Die kamen zu Tausenden an den Kontrollpunkt zur Ukraine Armjansk, ließen sich auch von Warnschüssen nicht stoppen.

Dschemilew wurde der Provokation bezichtigt, und die nunmehr russische Macht der Krim bot ihre Staatsanwältin Natalja Poklonskaja auf, die krimtatarische Volksvertretung Medschlis mit Auflösung zu bedrohen. Sie las die Warnung vor »extremistischen Handlungen« in ihrem Büro den Vertretern der Minderheit vor.

Befürchtungen über das künftige Schicksal der Krimtataren muss Dschemilew bestätigt sehen. Düstere Geschichte kann er anhand des eigenen Schicksals belegen. So wurde er mit seiner Familie und dem ganzen Volk unter Stalins Terrorherrschaft im Mai 1944 von der Halbinsel, in deren Südosten er 1943 geboren worden war, nach Usbekistan deportiert. Insgesamt wurden rund 250 000 Krimtataren nach Sibirien und Zentralasien gezwungen.

Erst 1989 konnte Dschemilew heimkehren, setzte sich für die Rückkehr der Angehörigen seines Volkes ein und wurde 1991 auf der Krim der erste Vorsitzende ihrer höchsten Vertretung. Nach dem Referendum über die Angliederung an Russland wurde er zur unerwünschten Person und wieder verbannt. Viele Krimtataren zählten wie er zu den erbitterten Gegnern eines Anschlusses an Russland und boykottierten das Referendum. Auch dass Dschemilew für die Timoschenko-Partei »Vaterland« bis 2007 im Parlament in Kiew saß, hatte Moskauer Misstrauen geschärft.

Öffentliche Warnungen dieses einflussreichen Krimtataren vor der Gefahr einer neuerlichen Deportation dürften dem Kreml zudem so wenig in den Kram gepasst haben wie der einstigen Sowjetzentrale das Dissidententum Dschemilews als Mitkämpfer Andrej Sacharows. Doch der Glaube an eine lichte Zukunft der Krimtataren wurde von Moskau selbst gründlich erschüttert.

**** Aus: neues deutschland, Dienstag, 6. Mai 2014


Genf 2, 3, 4 ...

Klaus Joachim Herrmann über neue Ukraine-Verhandlungen *****

Der Versuch zu einer zweiten Verhandlungsrunde in Genf ist ehrenwert. Verhandeln wäre allemal besser als schießen. Wo scharf geschossen wird, sterben Menschen. Jeden Tag mehr. So wie am Montag wieder in Slawjansk und anderswo im ukrainischen Donbass.

Also verhandeln?

Die Erfahrungen damit sind schlecht. Schon die von den EU-Staaten Deutschland, Frankreich und Polen garantierte Vereinbarung von Kiew zwischen Präsident und Opposition hat nichts gebracht. Schon gar nicht das, was drin stand. Aber auch nicht einmal das, was sogar nach dem Bruch der Absprachen nötig und möglich war. Eine Regierung der nationalen Übereinkunft zum Beispiel.

Auch Genf 1 zwischen Russland, der Ukraine, den USA und der EU hat fast nichts gebracht, wenn überhaupt. Milizen blieben bewaffnet, Gebäude und Plätze besetzt. Es wurde nur über ein Thema mehr erbittert gezankt.

Die Auseinandersetzung um die Ukraine wird ohnehin mit allzu viel bösen Worten, gemeinen Unterstellungen, Heuchelei, hanebüchenen Lügen, wüsten Anklagen, handfesten Drohungen und mörderischer Gewalt ausgetragen.

Warum kein Genf 2, 3, 4 ..., wenn nur Schweigen einträte? Als erstes das der todbringenden Waffen. Auch das von bornierten Schlägern, profilsüchtigen Anführern, gewissenlosen Scharfmachern, dümmlichen Ratgebern, machtgeilen Politikern, auflagen- und quotensüchtigen Medien. Zu viel Hass ist bereits geschürt, mehr bedarf es nicht.

***** Aus: neues deutschland, Dienstag, 6. Mai 2014 (Kommentar)


Regime will Eskalation

Ukraine: Wieder Tote bei Slowjansk. Putschpräsident Turtschinow redet weitere Massaker herbei. Friedensbewegung ruft zu Aktionen am 8. Mai in Deutschland auf

Von André Scheer ******


Der Krieg des Kiewer Regimes gegen die ostukrainische Bevölkerung hat am Montag bis zu 20 weitere Menschenleben gefordert. Das berichteten Angehörige der Widerstandsbewegung in Slowjansk gegenüber russischen Medien. Die ukrainische Nachrichtenagentur Interfax meldete unter Berufung auf das Kiewer Innenministerium, bei Kämpfen in der Umgebung der Stadt seien mindestens vier Angehörige der Regierungstruppen getötet und 30 verletzt worden. Auch unter der Zivilbevölkerung soll es wieder Tote gegeben haben. So berichtete der Moskauer Fernsehsender RT, eine Frau sei auf dem Balkon ihres Wohnhauses von einer verirrten Kugel getroffen und getötet worden.

Unterdessen reden Kiewer Politiker eine weitere Eskalation der Lage herbei. »Präsident« Olexander Turtschinow warnte am Montag im Fernsehsender Kanal 5 vor »Unruhen und Provokationen« am 9. Mai, dem Jahrestag des Sieges über die Hitlerfaschisten. »Gegen uns wird ein Krieg geführt, und wir müssen darauf vorbereitet sein, diese Aggression zurückzuschlagen«, sagte der im Zuge des Staatsstreichs Ende Februar an die Macht gekommene De-facto-Staatschef.

Schon in der vergangenen Woche hatte er in ähnlicher Weise vor bevorstehenden »Provokationen« unter anderem in Odessa gewarnt. Am Freitag setzten dort dann Hooligans und Neofaschisten des »Rechten Sektors« mit Molotowcocktails das Gewerkschaftshaus in Brand, in das sich Aktivisten der föderalistischen Bewegung geflüchtet hatten. Offiziellen Angaben zufolge wurden bei dem Massaker 46 Menschen getötet und mehr als 200 verletzt. 170 Personen wurden im Zuge der Auseinandersetzungen verhaftet. Bei diesen soll es sich zumeist um Gegner der Putschregierung in Kiew gehandelt haben. Am Sonntag mußte die Polizei von Odessa 67 der Inhaftierten freilassen, nachdem sich rund 1500 Menschen vor dem Hauptquartier der Sicherheitskräfte versammelt hatten.

»Pro-ukrainische Demonstranten« hätten das Gewerkschaftshaus von Odessa in der Nacht zum Montag wieder in ihre Hände gebracht, berichtete derweil die »tagesschau«. Das Gebäude sei »Schauplatz der Tragödie« vom 2. Mai gewesen. Nun hätten Demonstranten »die Flagge der pro-russischen Okkupanten« wieder entfernt. Die Kamera schwenkt auf vermummte, mit Helmen und Schilden ausgerüstete Nationalisten unter ukrainischen Fahnen.

Solche »Berichterstattung« hat nun auch den Bundesausschuß Friedensratschlag bewogen, zu Aktivitäten gegen den Bürgerkrieg in der Ukraine aufzurufen. »Es ist für uns unerträglich, mitansehen zu müssen, wie in diesen Tagen antirussische Stimmung in unserem Land gemacht wird«, heißt es in einem am Montag verbreiteten Appell. »Der Respekt gegenüber den Opfern des Zweiten Weltkrieges und des danach geltenden Grundsatzes ›Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg‹ erfordert die Zurückweisung einer Propaganda, die an alte ›Vorbilder‹ anknüpft.« Mit Mahnwachen soll am 8. Mai, dem Tag der Befreiung vom Faschismus, gegen die westliche Einmischung protestiert werden: »Es waren die EU und die NATO, die mit ihrer Osterweiterung und Einkreisungspolitik Rußlands Sicherheitsinteressen angegriffen haben. Und es war der Sturz der Regierung in Kiew, in dessen Gefolge eine von Rechtsradikalen und neofaschistischen Kräften beeinflußte, extrem antirussische ›Übergangsregierung‹ die Macht ergriff.« Bereits am Sonntag demonstrierten in Berlin rund 800 Menschen gegen den ukrainischen Bürgerkrieg.

****** Aus: junge welt, Dienstag, 6. Mai 2014



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