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Niederlande leiten Ermittlung im Fall MH17

Flugschreiber an Experten übergeben / Putin sichert Unterstützung zu / Poroschenko lässt mobil machen

Von Detlef D. Pries *

Die von allen Seiten geforderte internationale Untersuchung zur Absturzursache von Flug MH17 in der Ostukraine läuft an. Die Niederlande haben deren Leitung übernommen.

Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte teilte am Dienstag in Den Haag mit, Experten seines Landes sollten so schnell wie möglich die Absturzstelle untersuchen. Sie übernähmen die Leitung der Ermittlungen auf Ersuchen der ukrainischen Regierung.

Am Dienstagvormittag war der Zug mit den sterblichen Überresten von vermutlich 282 der insgesamt 298 Opfer der Katastrophe in Charkow eingetroffen, das unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht. Von dort sollen sie ab Mittwoch zur Identifizierung nach Eindhoven geflogen werden. Nach Angaben Ruttes befinden sich die Leichen »in besserem Zustand als erwartet«. Er widersprach damit indirekt Aussagen über einen pietätlosen Umgang der ostukrainischen Separatisten mit den Opfern.

Die Aufständischen übergaben auch Flugschreiber und Stimmenrekorder des Passagierjets an malaysische Fachleute. Die Auswertung der »Blackboxes«, die von den Malaysiern als intakt und nur geringfügig beschädigt beschrieben wurden, soll in Großbritannien vorgenommen werden.

Russlands Präsident Wladimir Putin versicherte bei einer Sitzung seines Nationalen Sicherheitsrats, Moskau werde alles in seiner Macht Stehende für »eine vollständige, umfassende, gründliche und transparente Untersuchung« des Falls tun. Genau das hatte der UN-Sicherheitsrat am Montag in einer einstimmig verabschiedeten Resolution von »allen Staaten und Akteuren der Region« verlangt.

Schon vor der »umfassenden« Untersuchung aber fordern EU-Außenminister »schärfere Maßnahmen« gegen Russland, dem sie die Hauptschuld am vermuteten Abschuss der Boeing 777 zuschreiben. Die in Brüssel versammelten Chefdiplomaten wollten am Dienstag zwar noch keine neuen Sanktionen beschließen. Wie die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton vor Beginn des Treffens wissen ließ, wollte man den EU-Botschaftern aber Anweisungen für die weitere Ausarbeitung solcher Sanktionen geben. Im Gespräch ist vor allem ein Waffenembargo. Polens Präsident Bronislaw Komorowski besprach mit US-Präsident Barack Obama per Telefon auch eine Stärkung der NATO-Ostflanke »nach der russischen Aggression in der Ukraine«.

Einstimmig verlängerte die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) das am 20. September auslaufende Mandat ihrer derzeit 227 Beobachter in der Ukraine um ein halbes Jahr.

Rund um die Absturzstelle von MH17 im Osten der Ukraine tobt unterdessen weiter der Bürgerkrieg. Kiew meldete am Dienstag die Eroberung der Stadt Sewerodonezk, 70 Kilometer nordwestlich der Gebietshauptstadt Lugansk. Präsident Petro Poroschenko ordnete eine weitere Teilmobilmachung an. Unterdessen beschloss die Werchowna Rada ein Gesetz, das dem Parlamentspräsidenten erlaubt, die Fraktion der KP der Ukraine aufzulösen.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch 23. Juli 2014


Politischer Sprengstoff

Rußland präsentiert Fakten zum Absturz der malaysischen Passagiermaschine und deckt zahlreiche Lügen Kiews und der westlichen Propaganda auf

Von Rainer Rupp **


Am Montag nachmittag unterbrach der englischsprachige Kanal des Nachrichtensenders Russia Today (RT) sein Programm. Er übertrug eine Präsentation des russischen Verteidigungsministeriums, in der vor allem über die Ergebnisse der Luftüberwachung jenes Gebiets in der Ostukraine informiert wurde, in dem die malaysische Passagiermaschine am 17. Juli abstürzte. Außerdem wurden Daten der elektronischen Aufklärung ukrainischer Radaraktivitäten an diesem Tag vorgestellt sowie Resultate der Satellitenüberwachung, die die Bewegung ukrainischer Buk-Luftabwehrraketensysteme im Donbass verfolgten. Obwohl die visuellen Hilfsmittel im Vergleich zu westlichen schlecht konzipiert waren und die Übersetzung ins Englische schrecklich ausfiel, enthielt die Lageeinweisung von Generalleutnant Andrei Kartapolow weltpolitischen Sprengstoff. Für Laien war das wahrscheinlich nicht sofort zu erkennen. Das könnte erklären, daß die stets der Wahrheit verpflichteten westlichen Medien die russische Initiative entweder weitgehend ignorierten oder als hilflosen »Versuch« belächelten, sich reinzuwaschen.

Aber man mußte kein Experte sein, um zu erkennen, daß die Russen harte und jederzeit überprüfbare Fakten auf den Tisch legten. Das hat der Westen zur Untermauerung seiner wilden Beschuldigungen gegenüber Rußland und den sogenannten Prorussen nicht getan, obwohl zumindest die USA dazu in der Lage wären. So wiesen die russischen Militärs z.B. darauf hin, daß sich ein neuer US-Spionagesatellit ausgerechnet zum Zeitpunkt des Absturzes über diesem Gebiet befunden hatte. Sie forderten Washington auf, die dabei gemachten Bilder der Weltöffentlichkeit zu präsentieren.

Im einzelnen konnten die Russen die Machthaber in Kiew mehrfach der Lüge überführen. Diese hatten behauptet, keines ihrer Kampfflugzeug habe sich in der Nähe der Absturzstelle befunden. Hier nun wurde nachgewiesen, daß ein üblicherweise mit R-60-Luft-Luft-Raketen bewaffneter Jäger vom Typ SU-25 auf die Flughöhe der Boeing 777 geklettert war, um sich ihr kurz vor ihrem Absturz auf 3500 Meter zu nähern und in diesem Abstand bis zum Absturz verblieb. Unerklärt bleibt vorläufig auch die Tatsache, daß die ukrainischen Buk-Radarstationen ausgerechnet an diesem Tag auf Hochtouren liefen, während sie davor und danach mit ein viertel Last oder nur halber arbeiteten.

Moskau konnte mit Hilfe von detaillierten Satellitenaufnahmen den Kiewern eine weitere faustdicke Lüge nachweisen: Am Tag des Absturzes war ein Buk-Luftabwehrsystem direkt an der Front, etwa 50 Kilometer südlich der Hauptstadt des Gebietes, Donezk, im freien Feld, d.h. offensichtlich in Kampfstellung, eingesetzt. Es befand sich in Reichweite zu Flug MH 17 und zur Absturzstelle. Die Moskauer Militärs fragen: Warum gab es diese Buk-Vorwärtsverlegung, obwohl die Volksmiliz nicht über eigene Flugzeuge verfügt? Warum wurde die malaysische Maschine von der ukrainischen Luftverkehrskontrolle in Kiew ausgerechnet am Tag des Absturzes von ihrer normalen Route 40 Kilometer weiter nördlich auf die todbringende Bahn gelenkt? Warum beschlagnahmten Sturmtruppen des Kiewer »Sicherheitsministeriums« die Tonbänder mit den Gesprächsprotokollen zwischen MH 17 und der Luftverkehrskontrolle in Kiew ohne Angabe von Gründen noch am 17. Juli?

Trotz der Entlarvung der Faschisten im »Sicherheitsministerium« und ihrer westlichen Adepten bleiben viele Fragen. Denn bei der Übertragung auf RT wurde auch deutlich: Die russischen Militärs legten in der Hauptsache die Ergebnisse der zivilen Luftüberwachung vor, um dem Westen keinen Einblick in die Fähigkeiten ihrer militärischen Systeme zu gewähren. Aber sie haben mit ihrer Präsentation deutliche Signale gesetzt. Von Experten war zu erfahren, daß Moskau dank der militärischen Aufklärung noch über weitaus genauere Informationen verfügt. Die könnte es bei Bedarf in vertraulichen bilateralen Treffen, z.B. mit Malaysia, auf den Tisch legen. Das ist offensichtlich mit China bereits geschehen, und die chinesischen Fachleute sollen dem Vernehmen nach von dem Vorgelegten überzeugt worden sein. Das würde erklären, warum sich das in solchen Fällen stets sehr vorsichtige und zurückhaltende offizielle Peking am Montag hinter Moskau stellte und gegen die US-Anschuldigungen verteidigte.

** Aus: junge Welt, Mittwoch 23. Juli 2014


Moskau beklagt »beispiellose Hetze«

Putin will »versuchen«, Einfluss auf Milizen in der Ostukraine geltend zu machen / Nationaler Sicherheitsrat tagte

Von Irina Wolkowa, Moskau ***


Moskau wird versuchen, seinen Einfluss auf die Milizen in der Ostukraine geltend zu machen, um eine »umfassende Aufklärung« des Absturzes der malaysischen Boeing zu gewährleisten.

Erstmals in der Geschichte Russlands hatte der Pressedienst des Kremls eine Tagung des Nationalen Sicherheitsrates vorab angekündigt. Bisher erfuhr die Öffentlichkeit – wenn überhaupt – nur im Nachhinein von den Beschlüssen, die der Rat in einem abhörsicheren Trakt des Kremls fasste. Diesmal war sogar die Tagesordnung vorher bekannt: »Maßnahmen zur Gewährleistung der Souveränität und territorialen Integrität« Russlands.

Man habe Russland gebeten, seinen Einfluss auf die Milizen in der Ostukraine gelten zu machen, sagte Präsident Putin zu Beginn der Tagung Dienstagnachmittag, »natürlich werden wir alles tun, was in unseren Kräften steht«. Handlungsbedarf wird von externen Bedrohungen diktiert. Und die bestehen derzeit aus Sicht Moskaus vor allem in einer »beispiellosen Hetzkampagne gegen Russland«, wie die Onlineausgabe der regierungsnahen Tagezeitung »Iswestija« unter Berufung auf einen Teilnehmer der Tagung schrieb. Mit Ruhm bedeckt hätten sich dabei vor allem Blogger und soziale Netzwerker. Der Rat habe daher vor allem Möglichkeiten einer systematischen Propaganda-Gegenoffensive erörtert – ein Verfahren, das »bisher nicht zu unseren Stärken zählt«. Eile sei geboten: Der Kongress der USA wolle die finanzielle Unterstützung russischer Regimegegner, darunter eventuell sogar Extremisten im Nordkaukasus, erheblich aufstocken, um »negative Prozesse in Russland in Gang zu setzen«.

Dass tatsächlich akuter Handlungsbedarf besteht, machte der Umgang mit dem Absturz der malaysischen Boeing über der Ostukraine erneut klar. Russland, stellte Alexander Konawalow vom Institut für strategische Bewertungen fest, sei derzeit einem beispiellosen Druck ausgesetzt. Die Welt sei voreingenommen und unterstütze die Ukraine. Daran habe sich auch nichts geändert, nachdem die »prorussischen« Separatisten die wichtigsten Forderungen der auch von Moskau mitgetragenen UN-Resolution erfüllt haben. Auch die Hinweise auf eine Schuld der Ukraine, die der russische Generalstab am Montag vorgelegt hatte, habe der Westen ignoriert.

Moskau will entsprechendes Material – darunter Screenshots eines grenznahen russischen Radars – der internationalen Untersuchungskommission zur Verfügung stellen und fordert auch Washington dazu auf. Im Unglückszeitraum überflog ein USA-Satellit die Kampfzone.

Konstantin Remtschukow, Chefredakteur der liberalen »Nesawissimaja Gaseta«, sagte in einer Talkshow, Washington müsse allein schon deshalb liefern, um wieder glaubwürdig zu werden. Die Öffentlichkeit habe noch nicht vergessen, mit welchen »Beweisen« George W. Bush 2003 den Irakkrieg zu legitimieren versuchte.

Außerdem, so der Gewährsmann der »Iswestija« weiter, hätte der Rat Migrationsprobleme – Russland fürchtet das Eindringen von Diversanten mit dem Flüchtlingsstrom aus der Ukraine – und die Sicherheit von Gebieten erörtert, die an die Ukraine grenzen und bereits mehrfach beschossen wurden. Es gab dabei auch Opfer unter der Zivilbevölkerung. Ausführlich habe man sich überdies mit Sicherheitsrisiken für die Krim befasst. Der neue ukrainische Verteidigungsminister hatte bei seiner Vereidigung eine »Siegesparade im ukrainischen Sewastopol« angekündigt.

*** Aus: neues deutschland, Mittwoch 23. Juli 2014


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