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"Unsere anhaltende Stärke spiegelt sich auch in unserer Achtung für die internationale Ordnung wieder"

Rede von US-Präsident Obama an die europäische Jugend (im Wortlaut)


Im Folgenden dokumentieren wir die unwesentlich gekürzte Rede von US-Präsident Barack Obama, mit der er sich am 26. März 2014 im Brüsseler Palais des Beaux Arts an die europäische Jugend wandte. Die Übersetzung besorgte der Amerika Dienst. Zwischenüberschriften wurden von uns eingefügt.


Rede des Präsidenten

[...]

Majestäten, Her Premierminister, liebe Belgierinnen und Belgier, im Namen des amerikanischen Volkes möchte ich Ihnen sagen, dass wir dankbar für Ihre Freundschaft sind. Wir sind enge Verbündete, und ich danke Ihnen sehr für Ihre Gastfreundschaft. zugegebenermaßen ist es auch nicht besonders schwierig, ein Land zu mögen, das für seine Schokolade und sein Bier bekannt ist.

Sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Europäischen Union und der NATO, sehr verehrte Gäste, wir kommen in Zeiten zusammen, in denen Europa, die Vereinigten Staaten und die internationale Ordnung, an der wir seit Generationen arbeiten, auf die Probe gestellt werden.

Die Ideale der europäischen Aufklärung ...

Im Verlauf der Menschheitsgeschichte haben Gesellschaften immer wieder mit den grundlegenden Fragen gerungen, wie sie ihr Zusammenleben organisieren sollen, in welchem Verhältnis der Einzelne und der Staat stehen sollten, und wie man die unvermeidlichen Konflikte zwischen Staaten am besten löst. Hier in Europa erkämpfte man sich dann im Laufe von Jahrhunderten – durch Krieg und Aufklärung, Unterdrückung und Revolution – eine Reihe von Idealen: Die Auffassung, dass jeder das Recht hat, sein Leben ausgehend von seinem Gewissen und seinem freien Willen selbst zu bestimmen. Die Auffassung, dass Macht sich von der Zustimmung der Regierten ableitet, und dass Gesetze und Institutionen dem Zweck dienen, dieses Verständnis zu schützen. Diese Ideen inspirierten dann die Bewohner einer Kolonie jenseits des Atlantiks und sie verankerten sie in den Gründungsdokumenten, die bis heute in den Vereinigten Staaten maßgeblich sind, einschließlich der einfachen Wahrheit, dass alle Männer – und Frauen – gleich geschaffen sind.

Aber diese Ideale wurden auch auf die Probe gestellt – hier in Europa und auf der ganzen Welt. Diese Ideale wurden oft von einem älteren, traditionelleren Verständnis von Macht bedroht. Diese andere Sichtweise geht davon aus, dass gewöhnliche Männer und Frauen nicht in der Lage sind, ihre Geschicke selbst zu lenken, und dass Ordnung und Fortschritt nur möglich sind, wenn der Einzelne seine Rechte einem allmächtigem Herrscher unterordnet. Häufig beruht diese Sicht auf der Auffassung, dass einige Menschen anderen aufgrund ihrer Abstammung, ihres Glaubens oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit grundsätzlich überlegen sind, und dass Identität durch die Abgrenzung von anderen entsteht, oder dass nationale Größe nicht das Produkt dessen ist, wofür ein Volk steht, sondern dessen, was es ablehnt.

... und die Realität der zwei Weltkriege

Im Grunde genommen kann man an der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts das Zusammenprallen dieser beiden Sichtweisen beobachten – innerhalb von Staaten und zwischen ihnen. Die Fähigkeit der Menschen zur friedlichen Konfliktlösung konnte mit der industriellen und technologischen Entwicklung nicht Schritt halten, und so rutschten sogar die zivilisiertesten Gesellschaften in die Barbarei ab.

Heute Vormittag auf dem Soldatenfriedhof in Flandern wurde ich daran erinnert, wie eine ganze Generation in den Schützengräben und dem Gas des ersten Weltkriegs in einem Krieg zwischen Völkern in den Tod geschickt wurde. Nur zwei Jahrzehnte später hat extremistischer Nationalismus erneut einen Krieg auf diesem Kontinent ausgelöst – Volksgruppen wurden versklavt, große Städte wurden in Schutt und Asche gelegt und Millionen von Menschen wurden getötet, unter ihnen die Opfer des Holocaust.

Nach dem zweiten Weltkrieg haben sich die Vereinigten Staaten und Europa als Reaktion auf diesen tragischen Abschnitt der Geschichte zusammengetan, um den dunklen Kräften der Vergangenheit eine Absage zu erteilen und eine neue Friedensarchitektur zu schaffen. Arbeiter und Ingenieure haben den Marshallplan ins Leben gerufen. Die NATO, ein Bündnis, das zum stärksten der Geschichte werden sollte, wachte über ihre Mitglieder. Auf der andere Seite des Atlantiks begrüßten wir eine gemeinsame Vision für Europa – eine Vision basierend auf repräsentativer Demokratie, den Rechten des Einzelnen und der Überzeugung, dass Länder den Interessen ihrer Bürger durch Handel und offene Märkte, ein soziales Netz und die Achtung Andersgläubiger und Fremder gerecht werden können.

Jahrzehntelang stand dieser Entwurf in scharfem Kontrast zum Leben auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs. Jahrzehntelang lieferte man sich einen Wettstreit, und schließlich wurde dieser Kampf gewonnen – nicht durch Panzer oder Raketen, sondern von unseren Idealen, die die Herzen der Ungarn anrührten, die eine Revolution starteten, von polnischen Werftarbeitern, die die Solidarnosz gründeten, von Tschechen, die der Sanften Revolution ohne einen einzigen Schuss zum Sieg verhalfen und von Ostberlinern, die an den Wachen vorbeidrängten und die Mauer endlich niederrissen.

Das, was in den Schützengräben von Flandern, den Trümmern von Berlin oder in der Gefängniszelle eines Dissidenten unmöglich schien, ist heute für uns selbstverständlich. Deutschland ist wiedervereint. Die Staaten Mittel- und Osteuropas sind in die Familie der Demokratien aufgenommen worden. Heute treffen wir uns in einem Land, das einst das Schlachtfeld Europas war; wir treffen uns am Sitz einer Union, die ehemalige Erzfeinde in Frieden und im Geiste der Kooperation zusammenbringt. Die Menschen in Europa – hunderte Millionen Bürgerinnen und Bürger aus Ost, West, Nord und Süd – leben heute in mehr Sicherheit und Wohlstand, weil wir uns zusammen für unsere gemeinsamen Ideale eingesetzt haben.

Diese Geschichte des menschlichen Fortschritts ist ganz und gar nicht auf Europa beschränkt. Die Ideale, die so charakteristisch für unser Bündnis sind, inspirierten in der Tat Bewegungen überall auf der Welt und – in einer Ironie der Geschichte – unter den Völkern, denen ihre vollständige Rechte häufig von westlichen Mächten verwehrt worden waren. Nach dem zweiten Weltkrieg haben Menschen in Afrika und Indien das Joch des Kolonialismus abgeworfen, um ihre Unabhängigkeit zu erstreiten. In den Vereinigten Staaten protestierten Bürger friedlich gegen die Rassentrennung in Bussen und erduldeten sogar Prügel, um der Rassentrennung ein Ende zu setzen und ihre Bürgerrechte zu erringen. Als der Eiserne Vorhang in Europa fiel, tat sich auch die eiserne Faust der Apartheid auf und Nelson Mandela verließ stolz und aufrechten Hauptes das Gefängnis, um Präsident einer multiethnischen Demokratie zu werden. Die Staaten Lateinamerikas erteilten den Diktaturen eine Absage und gründeten neue Demokratien, und asiatische Staaten bewiesen, dass Entwicklung und Demokratie Hand in Hand gehen können.

Die jungen Menschen im Publikum [...] wurden an Orten und zu einer Zeit geboren, in der es weniger Konflikte sowie mehr Wohlstand und Freiheit gibt als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in der Menschheitsgeschichte. Der Grund hierfür war aber nicht, dass die dunkelsten Impulse der Menschen plötzlich nicht mehr existierten. Auch hier in Europa, auf dem Balkan, trugen sich ethnische Säuberungen zu, die unser Gewissen erschüttert haben.

Die Probleme der Integration und der Globalisierung, die jüngst durch die schwerste Wirtschaftskrise unserer Generation noch verschärft wurden, setzten das europäische Projekt unter Druck und führten zu einer politischen Strömung, die allzu häufig Einwanderer, Homosexuelle oder Personen zu einer Zielscheibe macht, die irgendwie anders zu sein schienen.

Der technologische Fortschritt hat riesige Chancen für Handel, Innovation und kulturellen Austausch eröffnet, hat es Terroristen aber auch ermöglicht, in einem erschreckenden Ausmaß zu töten. Auf der ganzen Welt fordern religiös motivierte Gewalt und ethnische Konflikte immer noch das Leben Tausender Menschen. Erneut werden wir von einigen mit der Ansicht konfrontiert, dass größere Staaten kleinere drangsalieren können, um ihren Willen durchzusetzen – die aufgewärmte Maxime, dass das Recht des Stärkeren sich doch irgendwie durchsetzt.

"Die russische Führung stellt Wahrheiten infrage"

Ich stehe hier heute vor Ihnen, um zu betonen, dass wir den in Europa und auf der ganzen Welt verbreiteten Fortschritt nie als selbstverständlich ansehen dürfen, denn der Wettstreit der Ideen wird auch in Ihrer Generation fortgesetzt. Genau darum geht es momentan in der Ukraine. Die russische Führung stellt Wahrheiten infrage, die noch vor einigen Wochen als selbstverständlich galten – dass im 21. Jahrhundert die Grenzen Europas nicht mit Waffengewalt verschoben werden können, dass das Völkerrecht entscheidend ist, und dass Menschen und Staaten selbst über ihre Zukunft bestimmen können.

Seien wir ehrlich: Wenn wir unsere Interessen eng definieren würden, wenn wir kühles Kalkül walten lassen würden, dann könnten wir zu dem Schluss kommen, besser wegzusehen. Unsere Volkswirtschaft ist mit der der Ukraine nicht eng verflochten. Unsere Völker und unsere Heimatländer sind von der Invasion auf der Krim nicht unmittelbar bedroht. Unsere eigenen Grenzen sind durch die russische Annexion nicht gefährdet. Aber mit diesem schulterzuckenden Wegschauen würden wir die Lektionen ignorieren, die man an den Friedhöfen dieses Kontinents ablesen kann. Die alte Sicht könnte so in diesem noch jungen Jahrhundert wieder Fuß fassen. Diese Botschaft würde nicht nur in Europa, sondern auch in Asien, Amerika, Afrika und dem Nahen Osten vernommen werden.

Die Folgen des sorglosen Nichtstuns sind nichts Abstraktes. Wir sollten uns die Folgen für das Leben realer Menschen – Männern und Frauen wie uns – einmal ausmalen. Schauen wir auf die jungen Menschen in der Ukraine, die entschlossen waren, ihre Zukunft den Händen einer völlig korrupten Regierung zu entreißen – die Portraits der von Scharfschützen Erschossenen, die Besucher, die ihnen auf dem Maidan gedenken. Eine Studentin schlang sich eine ukrainische Fahne um und bekundete ihre Hoffnung, dass sich „jedes Land an die Gesetze halten sollte”. Eine Doktorandin sagte über ihre Mitdemonstranten: „Ich möchte, dass die Menschen hier in Würde leben können“. Stellen Sie sich vor, Sie sind die junge Frau, die gesagt hat: „Es gibt Dinge, die Angst, Polizeiknüppel und Tränengas nicht zerstören können“.

Wir sind diesen Menschen nie begegnet, aber wir kennen sie. Ihre Stimmen sind der Widerhall von Rufen nach Würde, die Generationen über auf europäischen Straßen und Plätzen zu hören waren. Ihre Stimmen sind der Widerhall der Stimmen von Menschen weltweit, die in dieser Minute für ihre Würde kämpfen. Diese Ukrainer erteilten einer Regierung die Absage, die die eigenen Bürger bestohlen hat, statt ihnen zu dienen, und sie streben nach den gleichen Idealen, die unser heutiges Zusammensein möglich gemacht haben.

Niemand von uns kann mit Sicherheit sagen, was die nächsten Tage in der Ukraine bringen werden, aber ich bin zuversichtlich, dass diese Stimmen – diese Stimmen für Würde und Chancen und Rechte jedes Einzelnen und Rechtsstaatlichkeit – letztendlich die Oberhand gewinnen werden. Ich glaube, dass langfristig die Zukunft uns freien Staaten und Menschen gehört. Ich glaube das nicht, weil ich naiv bin, und ich glaube das nicht, weil unsere Armeen und Volkswirtschaften groß sind, sondern ich glaube das, weil die Ideale, die wir bekunden, wahr sind; diese Ideale sind universal.

Demokratie, freie Märkte und Wohlstand

Ja, wir glauben an die Demokratie – mit freien und fairen Wahlen, mit einer unabhängigen Justiz und Oppositionsparteien, Zivilgesellschaften und unzensierter Berichterstattung, sodass jeder Einzelne selbst entscheiden kann. Ja, wir glauben an offene Volkswirtschaften auf der Grundlage freier Märkte und Innovation, das Engagement Einzelner, an Unternehmertum und an Handel und Investitionen, die zu mehr Wohlstand führen. Und ja, wir glauben an Würde – daran, dass jeder Mensch gleich geschaffen ist, egal wer man ist, wie man aussieht, wen man liebt oder woher man kommt. Daran glauben wir. Das ist unsere Stärke.

Unsere anhaltende Stärke spiegelt sich auch in unserer Achtung für die internationale Ordnung wieder, die sowohl die Rechte von Staaten als auch von Einzelnen schützt – die Vereinten Nationen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, das Völkerrecht und die Werkzeuge für die Durchsetzung dieser Rechte. Aber wir wissen auch, dass diese Rechte sich nicht von alleine Geltung verschaffen; sie sind auf Menschen und Staaten guten Willens angewiesen, die sie kontinuierlich bekräftigen. Deshalb muss der Verletzung des Völkerrechts durch Russland – seinem Angriff auf die Souveränität der Ukraine und ihre territoriale Unversehrtheit – mit Verurteilung begegnet werden. Nicht, weil wir Russland kleinhalten wollen, sondern weil die Prinzipien, die Europa und der Welt so viel bedeutet haben, hochgehalten werden müssen.

"Wir haben uns gemeinsam hinter das ukrainische Volk gestellt"

In den letzten Tagen haben die Vereinigten Staaten, Europa und unsere Partner auf der Welt gemeinsam diese Ideale verteidigt, und wir haben uns gemeinsam hinter das ukrainische Volk gestellt. Gemeinsam haben wir die russische Invasion der Ukraine verurteilt und die Legitimität des Krim-Referendums bestritten. Gemeinsam haben wir Russland politisch isoliert, seine G8-Mitgliedschaft suspendiert und unsere bilateralen Beziehungen herabgestuft. Gemeinsam lassen wir durch Sanktionen Kosten entstehen, die in Russland und bei den für diese Handlungen Verantwortlichen Spuren hinterlassen. Wenn die russische Führung diese Politik fortsetzt, werden wir zusammen dafür sorgen, dass die Isolation noch größer wird. Es gäbe mehr Sanktionen. Die Kosten für die russische Volkswirtschaft und Russlands Platz in der Welt würden weiter steigen.

In der Zwischenzeit werden die Vereinigten Staaten und unsere Verbündeten die ukrainische Regierung in ihrem demokratischen Kurs unterstützen. Gemeinsam werden wir ein großes Hilfspaket zur Verfügung stellen, das dazu beitragen kann, die ukrainische Volkswirtschaft zu stabilisieren und die Grundversorgung der Menschen sicherzustellen. Klar ist: Weder die Vereinigten Staaten noch Europa haben ein Interesse daran, die Ukraine zu kontrollieren. Wir haben keine Soldaten dorthin entsandt. Wir möchten, dass das ukrainische Volk selbst bestimmen kann, ebenso wie andere freie Völker weltweit auch.

Wir sollten uns auch darüber im Klaren sein, dass wir in keinen neuen Kalten Krieg eintreten. Denn schließlich ist Russland, anders als die Sowjetunion, nicht der Anführer eines Blocks von Staaten oder einer globalen Ideologie. Die Vereinigten Staaten und die NATO streben keinen Konflikt mit Russland an. Tatsache ist, dass die NATO seit mehr als 60 Jahren zusammenkommt, nicht, um Anspruch auf andere Gebiete zu erheben, sondern um die Freiheit von Staaten zu verteidigen. Wir werden – immer – unserer Verpflichtung aus Artikel 5 nachkommen, die Souveränität und territorialen Integrität unserer Bündnispartner zu verteidigen. Dieses Versprechen werden wir unerschütterlich erfüllen; die Mitgliedsstaaten der NATO werden nie alleine dastehen.

Heute patrouillieren Flugzeuge der NATO im Luftraum über den baltischen Staaten, und wir haben unsere Präsenz in Polen verstärkt. Wir sind bereit noch mehr zu tun. In Zukunft muss jeder NATO-Mitgliedstaat seinen Teil der Verantwortung übernehmen, indem er den politischen Willen zeigt, in unsere kollektive Verteidigung zu investieren und die Fähigkeiten zu entwickeln, sich für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit einzusetzen.

Die Ukraine ist bekanntlich nicht Mitglied der NATO; zum Teil aufgrund der Geschichte und der daraus resultierenden engen und komplexen Beziehungen zu Russland. Auch wird Russland sich nicht durch militärische Gewalt von der Krim lösen oder von weiterer Eskalation abschrecken lassen. Wenn wir weiter geschlossen handeln, werden die Bürgerinnen und Bürger Russlands allerdings im Laufe der Zeit feststellen, dass sie Sicherheit, Wohlstand und den Status, den sie anstreben, nicht durch den Einsatz von Gewalt erreichen können. Wir werden deshalb während dieser Krise erheblichen Druck auf Russland ausüben, aber gleichzeitig die Tür für die Diplomatie offen lassen. Meines Erachtens wird sich ein stabiler Frieden sowohl für die Ukraine als auch für Russland über Deeskalation einstellen, über einen direkten Dialog zwischen Russland, der ukrainischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft, über Beobachter, die gewährleisten, dass die Rechte aller Ukrainer gewahrt werden, über einen Prozess der Verfassungsreform innerhalb der Ukraine und über freie und faire Wahlen im Frühling.

Bisher hat sich Russland mit der Annexion der Krim und der massiven Aufstockung der Truppen an der Grenze zur Ukraine diplomatischen Angeboten verweigert. Russland hat diese Schritte als Maßnahmen zur Verhinderung von Problemen an den eigenen Grenzen und zum Schutz russischstämmiger Bürger in der Ukraine gerechtfertigt. Natürlich gab und gibt es keine Beweise für systemische Gewalt gegen russischstämmige Bürger der Ukraine. Zudem sehen sich viele Länder auf der ganzen Welt bezüglich ihrer Grenzen und ethnischen Minderheiten im Ausland, Souveränität und Selbstbestimmung mit ähnlichen Fragen konfrontiert. Diese Spannungen haben an anderen Orten zu Debatten und demokratischen Referenden, Konflikten und unbehaglicher Koexistenz geführt. Dies sind schwierige Themen, und eben weil sie so schwierig sind, müssen wir uns ihrer mit verfassungsmäßigen Mitteln und mithilfe des Völkerrechts annehmen, damit Mehrheiten nicht einfach Minderheiten unterdrücken kann und große nicht einfach kleine Länder drangsalieren können.

Präzedenzfall Kosovo?

Zur Verteidigung ihres Vorgehens hat die russische Führung außerdem Kosovo als Präzedenzfall angeführt, sozusagen als Beispiel für die Einmischung des Westens in die Angelegenheiten eines kleineren Landes, ebenso wie jetzt. Die NATO hat sich allerdings erst eingemischt, nachdem die Menschen in Kosovo jahrelang systematisch brutal misshandelt und getötet worden waren. Kosovo hat Serbien auch erst nach einem Referendum verlassen, das nicht außerhalb der Grenzen des Völkerrechts und in sorgfältiger Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen sowie den Nachbarn Kosovos organisiert worden war. Die Ereignisse auf der Krim sind damit nicht annähernd vergleichbar.

Als Beispiel für die Scheinheiligkeit des Westens hat Russland außerdem auf die Entscheidung der Vereinigten Staaten verwiesen, in Irak zu intervenieren. Es ist richtig, dass der Irakkrieg lebhaft diskutiert wurde, und zwar nicht nur weltweit, sondern auch in den Vereinigten Staaten. Ich habe mich an diesen Diskussionen beteiligt und mich gegen unsere militärische Intervention dort ausgesprochen. Aber auch im Irak haben die Vereinigten Staaten versucht, im Rahmen des internationalen Systems zu arbeiten. Wir haben weder Anspruch auf das Staatsgebiet des Irak erhoben noch das Land annektiert. Wir haben uns seine Ressourcen nicht eingeheimst, um uns daran zu bereichern. Stattdessen haben wir unseren Krieg beendet und Irak seinen Bürgern und einem vollständig souveränen Staat überlassen, der selbst über seine Zukunft entscheiden konnte.

Natürlich sind weder die Vereinigten Staaten noch Europa vollkommen, wenn es um die Einhaltung der eigenen Ideale geht, noch beanspruchen wir der einzige Schiedsrichter über Recht und Unrecht auf der Welt zu sein. Wir sind schließlich auch nur Menschen, und wir sind mit schwierigen Entscheidungen über die Ausübung unserer Macht konfrontiert. Aber uns unterscheidet, dass wir Kritik ebenso begrüßen wie die Verantwortung, die eine weltweite Führungsrolle mit sich bringt.

Wir blicken nach Osten und Süden und sehen Länder, die bereit sind, eine größere Rolle auf der Weltbühne zu übernehmen, und wir halten das für etwas Gutes. Es spiegelt eben die Vielfalt wider, die uns als Nation stärker macht, und die Kräfte der Integration und Kooperation, die Europa seit Jahrzehnten fördert. In einer Welt, in der Herausforderungen zunehmend globaler Natur sind, haben wir alle ein Interesse daran, dass Länder ihrer Verantwortung gerecht werden, ihren Teil der Last zu tragen und internationale Normen zu wahren.

Faschisten in der Ukraine?

Unsere Herangehensweise steht also in deutlichem Kontrast zu den Argumenten, die Russland in diesen Tagen vorbringt. Es ist absurd anzudeuten – wie es aus Russland gebetsmühlenartig tönt –, dass sich die Vereinigten Staaten auf irgendeine Weise mit Faschisten in der Ukraine verschwörten oder die russischen Bürger nicht respektierten. Mein Großvater hat in der Armee Pattons gedient, ebenso wie viele Ihrer Väter und Großväter gegen den Faschismus gekämpft haben. Wir Amerikaner erinnern uns sehr gut an die Opfer, die das russische Volk während des Zweiten Weltkriegs gebracht hat, und wir haben diese Opfer gewürdigt.

Seit dem Ende des Kalten Kriegs haben wir mit verschiedenen russischen Regierungen zusammengearbeitet und Kontakte in den Bereichen Kultur, Handel und internationale Gemeinschaft aufgebaut, nicht, weil wir Russland damit einen Gefallen tun wollten, sondern weil es in unserem nationalen Interesse war. Gemeinsam haben wir Nuklearmaterial vor Terroristen gesichert. Wir haben Russland in der G8 und der Welthandelsorganisation begrüßt. Wir sind der Meinung, dass die Welt davon profitiert, wenn Russland sich auf der Grundlage gemeinsamer Interessen und gegenseitigen Respekts für Zusammenarbeit entscheidet - in allen Bereichen vom Abbau von Kernwaffen bis zur Beseitigung syrischer Chemiewaffen.

Jede Nation muss ihre eigenen Entscheidungen treffen können

Die Vereinigten Staaten, die Welt und Europa haben demnach ein Interesse an einem starken und verantwortungsvollen und nicht an einem schwachen Russland. Wir möchten, dass die Menschen in Russland – wie alle anderen auch – in Sicherheit, Wohlstand und Würde lebt, stolz auf die eigene Geschichte. Aber das bedeutet nicht, dass sich Russland seinen Nachbarn gegenüber rücksichtslos verhalten kann. Nur weil Russland eine tiefgründende Geschichte mit der Ukraine verbindet, heißt das nicht, dass es die Zukunft der Ukraine diktieren kann. Keine noch so umfangreiche Propaganda kann aus etwas, das die Welt als Unrecht erkennt, Recht machen.

Letztendlich muss jede Gesellschaft ihren eigenen Weg bestimmen. Der Weg der Vereinigten Staaten oder Europas ist nicht der einzige Weg zu Freiheit und Gerechtigkeit. Aber es kann kein Zurück geben wenn es um das Grundprinzip geht, das hier auf dem Spiel steht: die Fähigkeit jeder Nation und jedes Volkes, eigene Entscheidungen zu treffen. Nicht die Vereinigten Staaten haben den Maidan mit Demonstranten gefüllt, sondern die Ukrainer. Es waren keine ausländischen Streitkräfte, die Bürger von Tunis und Tripolis gezwungen haben sich zu erheben, sie haben es aus eigener Initiative heraus getan. Vom burmesischen Abgeordneten, der sich um Reformen bemüht, bis zu den engagierten jungen Menschen, die in Afrika gegen Korruption und Intoleranz kämpfen, gibt es etwas, das wir als menschliche Wesen alle teilen, eine Wahrheit, die im Angesicht von Gewalt und Unterdrückung bestehen bleiben und letztendlich obsiegen wird.

Ich weiß, dass es den jungen Menschen, die heute hier sind, leicht fallen könnte, diese Ereignisse als weit entfernt von ihrem Leben und ihrem Alltag oder persönlicheren Sorgen einzuordnen. Mir ist bewusst, dass man sich sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Europa mehr als genug Sorgen um die Angelegenheiten im eigenen Land machen kann. Es wird immer Stimmen geben, die sagen, dass das, was weiter entfernt auf der Welt geschieht, uns nichts angeht und nicht in unserer Verantwortung liegt. Wir dürfen allerdings nie vergessen, dass wir Erben eines Kampfes für die Freiheit sind. Unsere Demokratie, unsere persönlichen Chancen existieren nur, weil Menschen vor uns weise und mutig genug waren zu erkennen, dass unsere Ideale nur dann von Dauer sein würden, wenn wir unser Interesse am Erfolg anderer Menschen und Nationen erkennen.

Jetzt ist nicht die Zeit sich aufzuspielen. Bei der Situation in der Ukraine gibt es, wie bei Krisen in vielen anderen Teilen der Welt, keine einfachen Antworten, und es gibt auch keine militärische Lösung. In diesem Augenblick müssen wir die Herausforderung an unsere Ideale – und an die internationale Ordnung an sich – mit Stärke und Überzeugung meistern.

Sie, die jungen Menschen Europas, [...] werden zu der Entscheidung beitragen, in welche Richtung die Geschichte sich wenden wird. Sie sollten keine einzige Sekunde meinen, dass Ihre eigene Freiheit, Ihr eigener Wohlstand und Ihre eigene moralische Vorstellungskraft von den Grenzen ihrer Gemeinde, Ihrer Volkszugehörigkeit oder Ihres Landes festgelegt werden. Sie sind viel mehr als nur das. Sie können uns helfen, die Geschichte in bessere Bahnen zu lenken. Das sagt uns Europa. Darum geht es bei den Erfahrungen, die die Vereinigten Staaten gemacht haben.

Ich sage das als Präsident eines Landes, das auf Europa geblickt hat, als es seine Werte in seinen Gründungsdokumenten verankert hat, und eines Landes, das Blut vergossen hat um zu gewährleisten, dass diese Werte in diesen Ländern überdauern werden. Ich sage das auch als Sohn eines Kenianers, dessen Großvater Koch bei den Briten war, und als jemand, der in Indonesien gelebt hat, als es sich aus dem Kolonialismus befreite. Die Ideale, die uns einen, sind den jungen Menschen in Boston ebenso wichtig wie denen in Brüssel, Jakarta, Nairobi, Krakau oder Kiew.

Der Erfolg unserer Ideale hängt letztendlich von uns ab, und das schließt den Vorbildcharakter unseres eigenen Lebens, unserer eigenen Gesellschaft mit ein. Wir wissen, dass es immer Intoleranz geben wird. Aber anstatt uns vor Zuwanderern zu fürchten, sollten wir sie willkommen heißen. Wir können auf einer Politik bestehen, von der nicht nur einige wenige, sondern viele profitieren; wir können darauf bestehen, dass dieses Zeitalter der Globalisierung und des schwindelerregenden Wandels denjenigen Chancen eröffnet, die am Rande der Gesellschaft stehen, und nicht nur einigen wenigen Privilegierten. Statt unsere schwulen und lesbischen Brüder und Schwestern anzugreifen, können wir unsere Gesetze nutzen, um ihre Rechte zu schützen. Statt uns in Abgrenzung von anderen zu definieren, sollten wir unsere gemeinsamen Wünsche und Ziele bekräftigen. Das wird die Vereinigten Staaten stark machen. Das wird Europa stark machen. Das macht uns zu dem, was wir sind.

Ebenso wie wir unserer Verantwortung als Einzelpersonen gerecht werden, müssen wir auch bereit sein, ihr als Land gerecht zu werden, denn wir leben in einer Welt, in der unsere Ideale immer wieder von Kräften herausgefordert werden, die uns alle in Konflikte und Korruption stürzen könnten. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass andere für uns diese Prüfungen meistern. Viele Generationen vor Ihnen haben sich um die Schaffung der internationalen Ordnung bemüht, und ob hierbei nun weiter Fortschritte oder Rückschritte gemacht werden, wird entscheidend mit von der Politik Ihrer Regierung sowie den Prinzipien der Europäischen Union beeinflusst werden.

Wir alle werden diese Frage beantworten müssen: Was für ein Europa, was für ein Amerika, was für eine Welt werden wir hinterlassen? Und ich glaube, wenn wir an unseren Prinzipien festhalten und bereit sind, unsere Überzeugungen mutig und entschlossen zu verteidigen, dann wird Hoffnung letztlich über Angst siegen, dann wird Freiheit weiter über Tyrannei triumphieren, denn es sind diese Dinge, die das menschliche Herz immer bewegen werden.

Vielen herzlichen Dank.

Originaltext: Remarks by the President in Address to European Youth [externer Link]

Herausgeber: US-Botschaft Berlin, Abteilung für öffentliche Angelegenheiten; http://blogs.usembassy.gov/amerikadienst/



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