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Präsident Putin: Snowden im Transit

Russland sieht kein zutreffendes Auslieferungsabkommen

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Alle Welt rätselte über den Aufenthalt von Edward Snowden, der die Abhörpraxis von USA- und britischen Gemeindiensten öffentlich machte, Russlands Präsident wusste mehr.

Der frühere US-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden hält sich laut Präsident Wladimir Putin im Transitbereich des Moskauer Flughafens Scheremetjewo auf. Es gebe kein Auslieferungsabkommen zwischen Russland und den USA, das auf den Fall zutreffe, sagte er Dienstagabend.

Die USA verlangen von Russland offiziell die Auslieferung des 30-Jährigen. Der US-amerikanische Außenminister John Kerry hatte Russland und China am Montag mit Konsequenzen gedroht, sollte sich herausstellen, dass sie bei der Flucht des »Landesverräters« mitgewirkt haben. Zeitgleich ging in Moskau ein offizielles Auslieferungsbegehren der USA ein.

Russlands Außenminister Sergej Lawrow hatte am gleichen Tage vor Journalisten erklärt, Snowden habe die russische Grenze nie überquert. Der Minister meinte damit offenbar, dass Snowden nach seiner Ankunft in Scheremetjewo den Transitbereich des Flughafens, der als exterritoriales Gebiet gilt, nicht verlassen habe.

Lawrow warnte davor, Russland einen Verstoß gegen US-Gesetze zur Last zu legen und die Vorwürfe mit Drohungen zu begleiten. Ein solches Vorgehen sei haltlos und unakzeptabel. »Wir haben weder mit Herrn Snowden noch mit dessen Verhältnis zur US-Justiz oder mit dessen Bewegungen durch die Welt etwas zu tun«, hatte Lawrow versichert.

Um Snowdens Aufenthalt hatte es tagsüber viel Wirbel gegeben. Auf der Passagierliste der Aeroflot-Linienmaschine Moskau-Havanna stand sein Name nicht, wie eine Sprecherin des Moskauer Internationalen Flughafens Scheremetjewo informierte. Snowden, der in Ecuador um Asyl gebeten hat, könnte dorthin nicht von Moskau aus direkt, sondern nur über Kuba fliegen. Russische Medien hatte Snowden sogar noch immer in Hongkong vermutet.

Spekulationen, Snowden habe in Belarus politisches Asyl beantragt, dementierte am gleichen Tage das Außenministerium in Minsk.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 26. Juni 2013


Hetzjagd auf Snowden

Hype um die »Flucht« des Whistleblowers verdrängt den eigentlichen Skandal: Die großangelegte Internetspionage der USA und Großbritanniens

Von Christian Selz **


Wo ist Snowden?«: Die Frage ist von Welt bis Zeit online omnipräsent im digitalen und gedruckten Blätterwald. Von einem Spionagethriller weiß die Deutsche Presse-Agentur (dpa) zu berichten. Die Odyssee des 30jährigen US-Amerikaners Edward Snowden wird zur »Flucht«. Ein medialer Hype bricht aus um einen Mann, der sich anscheinend verstecken muß – so, als sei er der Übeltäter. Doch was aussieht wie eine James-Bond-Episode in Echtzeit, verdeckt das eigentliche Problem.

Der Sicherheitsberater Edward Snowden hat die Welt über die großangelegten Spionageprogramme der Vereinigten Staaten und Großbritanniens informiert. Er hat das milliardenfache Ignorieren der Privatsphäre Unschuldiger durch einen staatlichen Geheimniskrämer-Apparat offengelegt, der sich öffentlicher Kontrolle ansonsten längst entzogen hat. Snowden zeigt auf, daß Großbritannien systematisch hochrangige Delegationen scheinbar befreundeter Staaten wie Südafrika ausspioniert hat, und daß US-amerikanische Geheimdienste sich in chinesische Forschungsnetzwerke gehackt haben. Deswegen will die entblößte Regierung seines Heimatlandes ihn verhaften, deswegen wird er verfolgt wie ein Gangster. Daß Edward Snowden kein Krimineller ist, läßt sich dagegen schon juristisch relativ leicht herausarbeiten. Gegen ihn liegt kein internationaler Haftbefehl bei Interpol vor, weil sein »Verbrechen« – nämlich staatliche Tyrannei öffentlich zu machen – für die Weltgemeinschaft gar keines ist. Das gilt auch dann, wenn Snowden, wie von Hongkonger Medien berichtet, schon mit der Absicht, die Überwachungsmaßnahmen offenzulegen, seinen Job angetreten hat.

Das von US-Außenminister John Kerry mit energischen Drohungen kaum definierter »Konsequenzen« garnierte Auslieferungsgesuch der US-Regierung an Snowdens ersten Zufluchtsort Hongkong konnte daher nur erfolglos bleiben, weil das zugrundeliegende Auslieferungsabkommen politisch Verfolgte ausschließt. Der »amerikanische Dissident« Snowden, wie ihn russische Medien inzwischen nennen, fällt ohne Zweifel in diese Kategorie. Rußland, wo sich Snowden im Transitbereich des Moskauer Flughafens Scheremetjewo aufhält, hat gar kein Auslieferungsabkommen mit den USA. Auch gegen Ecuador, das derzeit einen Asylantrag Snowdens prüft und bereits den Wiki­leaks-Gründer Julian Assange in seiner Londoner Botschaft aufgenommen hat, agieren die Amerikaner nicht mit Argumenten, sondern mit Drohungen. Anonyme Regierungsvertreter weisen ganz subtil auf die im kommenden Monat anstehende Verlängerung von Zollvergünstigungen für Produkte aus dem lateinamerikanischen Land hin.

Die wahren Verbrecher gegen die Freiheit geraten so aus der Schußlinie. »Ich will nicht in einer Gesellschaft leben, die so etwas macht. Eine Gesellschaft, in der alles, was ich mache und sage, aufgenommen wird«, hatte Snowden bei seiner Selbstenttarnung vor zwei Wochen gesagt. »Du mußt überhaupt nichts falsch gemacht haben«, erklärte der Whistleblower damals. »Du mußt nur irgendwie in Verdacht geraten.« Es waren die Sätze, für die Snowden sein bisheriges Leben als gut bezahlter Sicherheitsberater aufgegeben hat. Die derzeit laufende, staatliche Hetzjagd hat ihn bestätigt.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 26. Juni 2013


Deutsche Opferlämmer

Briten spionieren Daten aus

Von Klaus Fischer ***


Große Empörung. Die Briten schnüffeln uns aus. Unmengen von Daten soll einer der zahlreichen Geheimdienste von der Insel aus einer der zentralen Leitungen abgegriffen haben, über die die Telekommunikation zwischen Europa und Nordamerika vermittelt wird, berichtete die Süddeutsche Zeitung am Dienstag. Das Seekabel zwischen den Kontinenten sei vom Government Communications Headquarters (GCHQ) angezapft worden. Die Schnüffler ihrer Majestät hätten dabei »unzählige Daten«, die aus Deutschland kamen bzw. dorthin gesandt worden waren, abgesaugt. Ein Skandal namens »Tempora«, der größer sei, als jene »Prism« genannte umfassende Datenklauaktion des Großen Bruders der USA National Security Agency.

Die Bundesrepublik, viertstärkste Wirtschaftsmacht der Erde, Domina des alten Kontinents und Einpeitscherin der Euro-Einheitsfront, gibt sich kokett als Opfer. Da kommen einem die Tränen – vor Lachen. Wenn die Konzernmedien auf dieser Klaviatur spielen, folgen sie ebenso eigenen Interessen wie die »Freunde« hinter dem Kanal bzw. in Übersee mit ihrer Schnüffelei. Und ganz besonders lustig wird es, wenn berichtet wird, der deutsche Auslandsgeheimdienst hätte von den Attacken der Briten weder etwas bemerkt noch gewußt.

Sicher, der BND und seine Inlandskollegen vom Verfassungsschutz gelten nicht als Top-Adresse für erfolgreiche Internet- bzw. Cyberspionage. Gegen nahezu jeden neuen »Staatstrojaner« kann man hierzulande bereits vor Einsatz durch die Datenforscher kostenlos Abwehrprogramme im Web herunterladen. Das ist prima, aber offiziell nicht gewollt. Denn daß deutsche Dienste – wenn sie können – ebenso frech zugreifen, wird kaum jemand ernsthaft bezweifeln. Und falls sie dann irgend etwas finden, geben sie es ohnehin nicht preis, nicht mal ihren Dienstherren.

Deutschland ist, was die Informationstechnologie und deren rasantes Voranschreiten betrifft, ein besseres Entwicklungsland. Das betrifft ebenso den aktiven und manipulativen Zugriff auf das World Wide Web. Womöglich ist es das, was die hiesigen Eliten und deren Vorbeter in den Medien jetzt so gereizt reagieren läßt. Interessierte mit ausreichend finanzieller Potenz müssen Unternehmensdaten nicht mehr wie in früheren Zeiten aus schwer zugänglichen Panzerschränken schweißen lassen. Heute reicht ein cleveres Hackerprogramm, um ans Eingemachte des Kapitals und seiner Funktionäre zu kommen – und die sind meist besser geschützt als Staat und seine Behörden.

Schutz ist im Grunde unnötig. Experten sagen, die Erfolgsaussichten eines Geheimdienstes, etwas Gescheites zu entdecken, verhalten sich umgekehrt proportional zur Menge der gesammelten Rohinformationen. Im Umkehrschluß heißt das: Geheimnisse sind am besten versteckt, wenn sie offen herumliegen. Also laßt uns Unmengen von Daten produzieren, überschwemmt die Netze und Speicher damit. Sie müssen ja nicht stimmen. Das schafft Jobs – und überfordert die Schnüffler und deren eingesetzte Algorithmen vielleicht endgültig.

*** Aus: junge Welt, Mittwoch, 26. Juni 2013 (Kommentar)


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