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Kein Geld mehr für das tägliche Brot

In den USA sind immer mehr Menschen auf Lebensmittelhilfe angewiesen

Von John Dyer, Boston *

Lebensmittelbanken haben in den USA früher vor allem Randständige versorgt. Heute sind immer mehr ehemalige Angehörige der Mittelschicht auf sie angewiesen. Inzwischen hungert jeder sechste Amerikaner. Doch den Hilfsorganisationen gehen die Spenden aus.

Väter sind ihre traurigsten Kunden, sagt Jean McMurray. Bisher seien vor allem Mütter mit Kindern gekommen, sagt die Chefin der Lebensmittelbank Worcester, einem Vorort von Boston im US-Bundesstaat Massachusetts. Aber nun kämen auch immer mehr Männer mit Kindern. »Ein Herr hat seine Frau verloren, die im Kindbett starb«, erzählt McMurray. »Das Kind hat überlebt. Der Vater nahm unbezahlten Urlaub, damit er bei seinem Kind sein kann.«

Ein Extremfall. Aber McMurray bekommt auch sonst immer mehr Kunden. Ihre Lebensmittelbank versorgt pro Jahr rund 83 000 Menschen mit Lebensmitteln. Die meisten von ihnen kommen mehrmals. Das ist ein Anstieg von 30 Prozent gegenüber 2008 – und mehr als jeder zehnte Einwohner. In den 59 Gemeinden im Bezirk Worcester leben 780 000 Menschen. »Die Rezession ist zu Ende, die Wirtschaft erholt sich langsam – aber eben nicht so schnell.« Viele Leute hätten nie gedacht, dass sie so lange ohne Arbeit bleiben könnten.

McMurray hat Glück. Ihre Lebensmittelbank erhält mehr Spenden in bar oder in Lebensmitteln als früher. Andere ähnliche Einrichtungen haben Mühe, genügend Hilfe zu bekommen.

Zum Beispiel die Lebensmittelbank in Baldwin City im Bundesstaat Kansas. »Der Bedarf ist riesig«, sagt Kelly Bethel-Smith, eine der Freiwilligen, welche die 150 Kunden pro Woche betreuen. Das trifft auch Kinder. »Normalerweise können sie in der Schule essen. Aber nicht in den Sommerferien.«

Zum Beispiel auch die Heilsarmee in North Carolina. Sie sprach kürzlich von einem »Mangel an Lebensmittelhilfe«. Die Heilsarmee erhält in normalen Zeiten die Hälfte ihres Lebensmittelbedarfs als Spenden, die andere Hälfte kauft sie zu. In der letzten Zeit musste sie immer mehr selbst kaufen – und die anderen Ausgaben im Gegenzug senken. »Das ist traurig«, sagt Lorie Hunter, Offizierin der Heilsarmee. »Wir müssen deshalb auch die Hilfe für die einzelnen Familien senken.« Die Hilfe würde nun nicht mehr für eine ganze Woche reichen.

Der Ansturm auf die Lebensmittelbanken macht deutlich, wie sehr sich die USA verändert haben. Früher waren Lebensmittelbanken die Orte, an denen diejenigen etwas zu essen fanden, die aus der Gesellschaft gefallen waren. Heute werden sie als ein wichtiger sozialer Dienst wahrgenommen – allerdings als ein Dienst, der mit zu wenig Mitteln ausgestattet ist. Armut ist nicht mehr auf die Randständigen beschränkt. Laut Feeding America hungert heute jeder sechste Amerikaner. Die Hilfsorganisation mit Sitz in Chicago koordiniert die Arbeit von Lebensmittelbanken in den ganzen USA. Dabei brauchte es nicht viel – 20 Dollar können für die Versorgung während einer Woche ausreichen.

Viele einstige Mitglieder der Mittelschicht sind heute auf Lebensmittelhilfen angewiesen. Zum Beispiel Eric. »Am Anfang wollte ich das nicht«, sagt der Mann aus dem Bezirk Orange in Kalifornien, der seinen Nachnamen nicht angeben will. Doch dann mussten er und seine Frau doch Hilfe in Anspruch nehmen. Sie hatten ihren Lebensunterhalt im Kreditgeschäft verdient. In der Finanzkrise fiel ihr Geschäft auseinander. Eric sieht das Positive in seiner Situation. »Die Kinder lernen so, dass Makkaroni und Käse auch schmecken. Es muss nicht immer ein Steak sein.«

Auch Charles Dailey hat seinen Optimismus nicht verloren. »Wenn die Lage schlecht ist, geschieht irgendetwas, und dann wird es wieder besser«, sagt der 60-jährige einstige Landschaftsgärtner. Derzeit ist er auf Lebensmittelhilfe angewiesen. Er hofft, dass es nicht dabei bleibt.

* Aus: Neues Deutschland, 27. August 2011


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