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Schotten im Stress

Im Königreich bleiben oder unabhängig werden? – Spurensuche im Norden der Insel

Von Reiner Oschmann, Edinburgh *

In zwei Monaten stimmt Schottland darüber ab, ob es sich von Großbritannien loslöst. Egal wie das Referendum ausgeht, die Separationsbewegung wird fortbestehen.

Ich sitze in Schottland und blicke nach England. Das ist in Coldstream, gleich an der Hauptstraße über dem Fluss Tweed, eine leichte Sache. Keine Grenzhinweise, erst recht keine Schlagbäume oder Schlimmeres. Paul Watson, 20: »Die Autobrücke dort bildet die Grenze, alles auf dieser Seite ist Schottland, alles auf der anderen England.« Paul wohnt über dem Tweed in der englischen Gemeinde Cornhill, ist aber oft zum Einkaufen in Coldstream.

Ihn frage ich als ersten nach dem, was Großbritannien mehr und mehr umtreibt und am 18. September in Schottland im Referendum als einzige Frage steht: »Soll Schottland ein unabhängiger Staat sein?« Wahlberechtigt sind alle Schotten ab – erstmals und nur für diese Abstimmung – 16 Jahren, aber auch eine halbe Million Engländer, die im Norden leben.

Schottland

Schottland besteht aus dem nördlichen Teil der größten europäischen Insel Großbritannien sowie mehreren Inselgruppen. Die Hauptstadt ist seit 1437 Edinburgh. Bis 1707 war Schottland ein eigenständiges Königreich. Dann wurde es mit dem Königreich England – mit dem es bereits seit 1603 in Personalunion regiert worden ist – vereinigt.

Heute leben in Schottland so viele Menschen wie nie zuvor, insgesamt 5,3 Millionen. Am 18. September wahlberechtigt sind rund 4,1 Millionen Menschen. nd



Die Bedingungen wurden 2012 zwischen der konservativ-liberalen Regierung des Königreichs und der Regionalregierung unter dem Ersten Minister Alex Salmond ausgehandelt. Er ist Vorsitzender der Scottish National Party (SNP) und seit 2011, mit absoluter Mehrheit im Parlament von Edinburgh, Schottlands Regierungschef. London sowie Konservative, Labour Party und Liberaldemokraten im Norden sind gegen die Unabhängigkeit, das Kabinett in Edinburgh befürwortet und betreibt sie. Ebenso wie Schottlands Grüne, sozialistische Gruppierungen und andere Initiativen betrachtet die SNP, deren starker und trickreicher Chef Salmond sich als »sozialistischer Führer einer sozialdemokratischen Partei« beschreibt, das Referendum als einmalige Chance. Paul Watson sieht das anders. »Ich rechne zwar damit, dass Ja gewinnt, aber ich freue mich nicht darauf. Dann verschwinden noch mehr Jobs entlang der Grenze.«

Die Unabhängigkeitsgegner haben in Umfragen stets vorn gelegen. Doch der Vorsprung war mehr und mehr geschrumpft. In den Junitagen meiner Spontantests von Volkes Stimme auf Schottlands Straßen weitete sich der Abstand wieder zugunsten der Bewahrer des Königreichs, aber Wetten scheuen die meisten. Laura Bilton, 31, ist an diesem Samstag von Edinburgh nach Coldstream gefahren. Sie verteilt für eine neue Bäckerei zarte, butterreiche Shortbreads an Passanten. Laura, kenianische Mutter und schottischer Vater, hat sich noch nicht festgelegt, neigt aber »sehr zum Ja. Als alleinerziehende Mutter fühle ich mich bei einer schottischen Regierung sicherer, die schon bisher sozialer ist als die Tories in London. Zudem glaube ich, dass die Unabhängigkeit mir mehr Schutz vor ausländerfeindlichen Nationalisten wie der UKIP bietet. Doch auch wenn die Yes-Kampagne jetzt keine Mehrheit findet, dann kommt das eben später – der Wunsch nach Selbstständigkeit verschwindet nicht.«

Laura ist kaum weg, als drei ältere Herren den Stress ihrer Nation vor Augen führen. Bob hat sich in Schale geworfen und wird kurz darauf, bei der Parade zum Armed Services Day, dem Tag der britischen Streitkräfte, mit Dudelsack ein Lament zum Gedenken an die bei Auslandseinsätzen gefallenen Soldaten spielen. »Ich bin gegen die sogenannte Unabhängigkeit. Was sollte aus den Regimentern werden, die immer zusammen gekämpft haben?« John, an Bobs Seite, wird mit Ja stimmen, »weil London all die Jahre selbstsüchtig die Gelder aus dem Öl vor unserer Küste eingestrichen hat«. Auch Jim, zu Bobs Rechter und früher in der Army, wolle Ja ankreuzen.

Die Männer festigen zwei Eindrücke dieser Tage, im Grenzland Schottland/England wie in Edinburgh und Glasgow, Stirling, Perth und den Highlands: Yes- wie No-Anhänger argumentieren sachlich – und bekennen neben festen Überzeugungen eigene Zweifel. Sie zeigen Verständnis für andere Meinungen und eine Streitkultur, die nicht nur räumlich Abstand zu Auseinandersetzungen hat, die uns von beiden Seiten in der Ostukraine entgegenschlagen. Zum anderen entsteht in den Interviews der Eindruck, dass das Referendum knapper ausgeht als vorhergesagt, die Verfechter des Status quo am Ende aber wohl gewinnen dürften.

Donald Moffat, Ratsmitglied der Region Scottish Borders, die an England grenzt, vertritt die SNP. Er trägt seinen Enthusiasmus auf der Zunge und einen »Yes«-Button am Revers. Für ihn ist die Unabhängigkeit seiner Heimat überfällig, »damit Schottland endlich eine Regierung bekommt, für die die Schotten gestimmt haben«. Hier sei fast nie Tory gewählt worden, die Schotten müssten aber immer wieder mit Tory-Regierungen »leben«. Sollte im September eine Mehrheit fehlen, wäre das »eine Katastrophe für Schottland«. Die Unabhängigkeitsbewegung aber würde dadurch »nicht zu beseitigen sein«.

Moffat ist ohnehin siegessicher. Er begründet es mit der Güte der Separationsgründe. Zu ihnen zählt er die Zusicherung seiner Regierung, im Fall der Unabhängigkeit Schottland rasch kernwaffenfrei zu machen (Großbritanniens Atomwaffen sind allein in Schottland stationiert), und mit dem, »was viele nicht wissen, aber Tatsache ist: Schottland steuert mehr zu Wohlstand und Wirtschaftskraft der Union bei als die Union gegenüber Schottland«.

Tatsächlich spielen für viele private Haushaltsrechnungen die Hauptrolle – und nicht, wie manche Medien nahelegen, romantisierende Nostalgie nach schottischer Größe oder Stolz auf (wenige) gewonnene Schlachten gegen die Engländer. Wahr ist, dass Schotten großen Nationalstolz besitzen und ihr Land eine Marke von enormer Anziehungskraft ist. Doch das Referendum werden Alltagsfragen entscheiden, nicht ferne Heroen wie »Braveheart«, der 1305 in London bestialisch hingerichtete Rebell William Wallace, England-Bezwinger Robert the Bruce oder andere. Nicht einmal der Glanz von Schottlands einzigartigem Whisky wird ausschlaggebend sein.

Das wird auch im Nordseestädtchen Berwick-upon Tweed deutlich, Englands nördlichster Stadt, fußläufig zu Schottland und in der Geschichte 13 Mal unter wechselnder Herrschaft. Die Damen in der Touristeninformation – Engländerinnen – hoffen auf Erhalt des Kingdom. Und fragen sich, ob zwei Vorteile für englische Grenzgänger bleiben, wenn nicht: Das Arztrezept, sagen sie, koste in England 8,05 Pfund (10,50 Euro), im nahen Duns in Schottland dagegen nichts. Und: Bisher können Engländer wählen, ob sie einen Krankenhausaufenthalt auf heimischem Boden kostenpflichtig antreten – oder nach Schottland fahren, wo er umsonst zu haben ist.

Angela Brown, 47, Eigentümerin des Cafés »The Coffee Stop« in Berwick, ergänzt: »Rezepte, Augen- und Zahnbehandlungen sind in Schottland kostenfrei, wenn man dort seinen Wohnsitz hat. Studiengebühren entfallen, wenn du drei Jahre dort gelebt hast.« Letzteres weiß die Engländerin aus der eigenen Familie. »Tochter Rhianne lebt deshalb in Edinburgh. Sie begann Veterinärmedizin zu studieren, hat nun unterbrochen, um Geld zu verdienen und die Wohnbedingung für kostenlose Studienfortsetzung zu erfüllen. In England fallen jährlich 18 000 Pfund Gebühren an.«

So hat die Unabhängigkeitsdebatte eine irdische Note, weg von aufgeladener Symbolik. Vieles liegt im Auge des Betrachters – und im Glauben an eigene, nicht immer passfähige Statistiken. Obwohl die SNP und Alex Salmond im Beisein des Chronisten beim Bürgerforum im Grenzlandstädtchen Selkirk betonen, dass auch bei einer Unabhängigkeit »nicht jeder kostenlos drei Hähne für Wasser, Öl und Whisky anzapfen kann«, ist die Sprache der Separationsbefürworter doch die des Heilversprechens. Die Prediger der Bewahrung betonen dagegen die erhaltenswerte Größe des Königreiches und die Gemeinsamkeiten einer kabbeligen, aber erträglichen Ehe. Engländer Kevin Murnan, 68, kleidet es im neuen Parlament von Edinburgh in eine Fürbitte an seine Landsleute im Norden: »Wir lieben eure Kilts, wir lieben euren Akzent, wir lieben euren Whisky und wie ihr die Baumstämme schleudert. Bitte, bitte bleibt bei uns!«

* Aus: neues deutschland, Mittwoch 16. Juli 2014

Wenn das Referendum scheitert …

Weitere Regionalisierung gilt als sicher **

Das »Groß« in Britannien gerettet, alles beim Alten und keine weitere Unabhängigkeitsabstimmung? Was passiert, wenn das Referendum am 18. September keine Mehrheit für Schottlands Unabhängigkeit erbringt?

Nun, Premier Cameron, der Mann, der in London die konservativ-liberale Regierung für das Königreich und dessen Teile England, Schottland, Wales und Nordirland führt, brauchte nicht zu tun, was er beim Sieg der »Yes Scotland«-Kampagne wohl erwägen würde: seinen Rücktritt. Im Gegenzug wäre, früher oder später, ein Amtsverzicht von First Minister Alex Salmond, des Chefs der Regionalregierung nicht überraschend. Keiner hat so wie er, der auch Chef der regierenden Scottish National Party (SNP) ist und Silvester 60 wird, für die Unabhängigkeit geworben. Manche sagen, ohne ihn gäbe es das Referendum gar nicht.

Für den Fall seines Rücktritts gilt als sicher, dass Stellvertreterin Nicola Sturgeon First Minister würde. Die Juristin ist seit 1999, dem Jahr der Wiedereinsetzung des schottischen Regionalparlaments, Abgeordnete für Glasgow. Sie hat sich britannienweit einen Namen als fähige, streitbare und in ihrem Auftreten weniger als ihr heutiger Chef polarisierende Politikerin erworben.

Jenseits der Personalien rechnen Anhänger wie Gegner der Unabhängigkeit auch bei einem Scheitern der Mehrheit für die »Ja«-Kampagne damit, dass London neue Schritte zu weiterführender Regionalisierung gehen dürfte. Seit 1997 besitzt Edinburgh Zuständigkeiten für Gesundheits- und Bildungs-, in Rechts- und Wohnungsfragen sowie begrenzte Steuerhoheiten. Gewissheit und Reichweite weiterer Machtübertragung werden jedoch unterschiedlich bewertet. Während die Unabhängigkeitsgegner von Labour, Liberaldemokraten und Tories, die in der Aktion »Better Together – No thanks« (Besser zusammenbleiben – Nein danke zur Unabhängigkeit) zusammenarbeiten, die Ausstattung mit neuen Kompetenzen in schönsten Farben zeichnen, verweisen die Separationsbefürworter rund um »Yes Scotland« darauf, dass nur die Loslösung neue Machtbefugnisse garantiere. Ross Greer von Schottlands Grünen, einer der Sprecher von »Yes Scotland«, sagte gegenüber »nd« in Glasgow: »Diejenigen, die Nein zur Unabhängigkeit sagen, versprechen jetzt am lautesten eine neue Machtdelegation von London nach Edinburgh. Doch da sie das auch in der Vergangenheit zusicherten, ohne es zu halten, ist dem nicht zu trauen. Das einzige, was maximale Selbstregierung gewährleistet, ist ein Ja im Referendum.« Reiner Oschmann




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