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Drohungen und Lockungen

Die Diskussion im Vereinigten Königreich über einen Ausstieg aus der EU alarmiert die deutsche Wirtschaft. Mit Zuckerbrot und Peitsche soll Großbritannien im Bündnis gehalten werden

Von Jörg Kronauer *

Ich mache mir große Sorgen«, sagte Marcel Fratzscher vor wenigen Tagen in einem Interview mit dem Finanzmagazin Cash. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin hatte einen möglichen »Brexit« im Blick. Also den nicht auszuschließenden Fall, dass die Bevölkerung Großbritanniens, wenn sie im nächsten oder im übernächsten Jahr per Referendum über die EU-Mitgliedschaft ihres Landes entscheiden darf, für einen Austritt aus dem Staatenbund votieren wird. DIW-Chef Fratzscher, der – so will es sein Job – konsequent die Interessen der deutschen Wirtschaft im Blick hat, plädierte dafür, einen »Brexit« unbedingt zu vermeiden. »Ich glaube, für uns ist es noch wichtiger, Großbritannien in der Europäischen Union zu halten als Griechenland«, erklärte er im Gespräch mit Cash. »Nichts gegen Griechenland« – natürlich nicht, auch dort verdienen deutsche Firmen gutes Geld –, doch aufgrund seiner »wirtschaftlichen und finanziellen Bedeutung ist Großbritannien natürlich vielfach wichtiger«. Leider aber stehe »die Diskussion, wie ein Brexit vermieden werden kann«, noch »relativ weit unten auf der politischen Agenda in Europa«. Und das kann sich rächen, meinte Fratzscher: »Ich würde mir wünschen, dass es sehr viel schneller, sehr viel höher auf die Agenda kommt, weil ich glaube, für Europa und gerade für Deutschland wäre ein Austritt Großbritanniens ein harter Schlag.«

Ein »Brexit« wäre in der Tat mit ganz erheblichen Komplikationen für die deutsche Wirtschaft verbunden. Das liegt zunächst einmal daran, dass der britische Außenhandel umfassend neu geregelt werden müsste, sollte das Vereinigte Königreich mit der EU auch den gemeinsamen Binnenmarkt verlassen. Was dabei für die deutsche Wirtschaft auf dem Spiel steht, lässt sich unter anderem an ihrer Exportstatistik ablesen: Die Ausfuhren nach Großbritannien stiegen in den vergangenen fünf Jahren von einem Volumen von knapp 60 Milliarden Euro (2010) auf rund 84 Milliarden Euro (2014). Sie liegen damit deutlich vor dem Export in die Volksrepublik China. Zugleich erzielt die Bundesrepublik ihr zweitgrößtes Außenhandelsplus nach demjenigen gegenüber den Vereinigten Staaten im Geschäft mit dem Vereinigten Königreich. Es wuchs von 21 Milliarden Euro (2010) in kurzer Zeit um annähernd 100 Prozent auf beinahe 42 Milliarden Euro (2014). Leidet bei einem »Brexit« der Außenhandel mit Großbritannien, einem der aktuell stärksten Antreiber des deutschen Exports und dem drittgrößten Abnehmer deutscher Waren nach Frankreich und den USA, dann drohen schmerzhafte Verluste. In Zeiten, in denen so mancher Euro-Staat in der Krise steckt und der Handel mit Russland massiv einbricht, kann selbst Deutschland das nicht ignorieren.

Darüber hinaus beträfe ein »Brexit« natürlich auch die zahlreichen deutschen Unternehmen, die im Vereinigten Königreich produzieren oder dort anderweitig Geschäfte machen. In keinem Land Europas haben BRD-Firmen so viel investiert wie dort. Laut Statistik der Bundesbank lag der Bestand an unmittelbaren und mittelbaren deutschen Direktinvestitionen dort Ende 2012 bei ungefähr 120 Milliarden Euro, also bei rund einem Zehntel der gesamten Auslandsinvestitionen. Über 2.500 Firmen mit Sitz in der BRD unterhalten Niederlassungen im Vereinigten Königreich, darunter alles, was Rang und Namen hat: von Siemens über die Deutsche Post bis zu Volkswagen und BMW. Bei denjenigen, die in Großbritannien produzieren, beispielsweise BMW, entstünden durch neue Handelshemmnisse Reibungsverluste in den Lieferketten sowie beim Absatz auf dem Kontinent. Allen anderen drohten Einbußen, sollte die britische Wirtschaft, wie es viele vermuten, durch einen »Brexit« ins Stottern geraten.

Siemens, DB, Commerzbank und Co.

Dabei geht es nicht um Peanuts. Für Bosch beispielsweise ist das Vereinigte Königreich, in dem der deutsche Konzern an die 5.000 Mitarbeiter beschäftigt, der zweitgrößte europäische Markt – direkt nach der Bundesrepublik. RWE und E.on gehören zu den sechs wichtigsten Energieversorgern Großbritanniens, den »Big Six«; RWE produziert allein gut zehn Prozent des im gesamten Land verbrauchten Stroms. Siemens macht auf der Insel Milliardenumsätze. Das Unternehmen hat im Geschäftsjahr 2014 unter anderem Pläne für den Bau einer Produktionsstätte für Offshore-Windkraftanlagen in Hull bekanntgegeben – das Investitionsvolumen beläuft sich auf gut 390 Millionen Euro. Weiterhin ist es von »Transport for London«, der Gesellschaft, die den gewaltigen öffentlichen Nahverkehr in der Hauptstadt koordiniert, mit einem 399-Millionen-Auftrag zur Instandhaltung von Verkehrsleittechnik bedacht worden. Das sind nur Beispiele, der Konzern ist weitaus umfassender aktiv. Die Deutsche Bahn AG betreibt über DB Arriva laut Eigenangaben mit rund 25.000 Mitarbeitern Schienen- und Busverkehre im gesamten Land. Allein mit dem S-Bahn-Netz »London Overground«, an dem sie beteiligt ist, befördert sie täglich rund 520.000 Personen, mit ihren Bussen durchschnittlich mehr als 900.000 am Tag. »DB Schenker Rail UK«, die Nachfolgegesellschaft der »English, Welsh & Scottish Railway«, die 2007 von der Deutschen Bahn AG aufgekauft wurde, ist der größte Gütertransporteur für die Schiene in Großbritannien – mit einem Marktanteil von mehr als 50 Prozent. An den Risiken, die ein »Brexit« für die dortige Wirtschaft mit sich bringen könnte, hat die Crème de la crème der deutschen Wirtschaft also bestimmt kein Interesse.

Hinzu kommt die Finanzbranche. Selbstverständlich sind die großen deutschen Geldhäuser, besonders die Commerzbank und die Deutsche Bank, auf dem Finanzplatz London präsent. Für letztere ist die britische Hauptstadt, in der sie eigenen Angaben zufolge mehr als 8.000 Mitarbeiter beschäftigt, sogar der größte Auslandsstandort überhaupt und insbesondere, wie das Manager-Magazin es kürzlich formulierte, »das Herz ihres Investmentbankings«. Die Londoner City hat bereits mehrfach klargestellt, dass sie einen »Brexit« für überaus schädlich hält. Ihre herausragende Stellung beruht schließlich nicht zuletzt darauf, dass sie voll in den EU-Binnenmarkt integriert ist. Entsprechende Nachteile müssten auch die an der Themse ansässigen deutschen Finanzinstitute hinnehmen. Im Mai machten Berichte die Runde, die Deutsche Bank rechne bereits die Folgen eines »Brexit« durch. Spiegel online ließ sich damals von einem ihrer Sprecher bestätigen, man prüfe explizit auch die Möglichkeit, »einen Teil des Großbritannien-Geschäfts (…) in andere Länder zu verlegen oder ganz nach Deutschland zurückzuholen«. Durchaus eigennützig hatte Deutsche-Bank-Kochef Jürgen Fitschen schon im Juni 2013 gewarnt: »Man sollte in London nicht den Fehler machen, aus der EU auszutreten«.

Liberaler Koalitionspartner

Auch aus übergeordneten Gründen gilt die EU-Mitgliedschaft des Inselstaates in deutschen Wirtschaftskreisen als wünschenswert und wichtig. »Ohne das Vereinigte Königreich würde der europäische Binnenmarkt deutlich an Gewicht verlieren«, stellte der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) Ende Mai in einer Pressemitteilung fest. Das sei nicht nur ungünstig, weil man nur mit einem möglichst großen Markt Investitionen aus anderen Wirtschaftsblöcken anziehen könne, sondern auch, weil es die deutsch-europäische Wirtschaftsmacht prinzipiell schwäche. »Nur gemeinsam werden wir Europäer in der Welt noch erfolgreich sein können – oder getrennt in der Bedeutungslosigkeit versinken«, ließ sich BDI-Hauptgeschäftsführer Markus Kerber zitieren: »Denn 2050 wird aller Voraussicht nach kein europäisches Land allein mehr zu den neun größten Volkswirtschaften weltweit zählen«. Um das nötige Gewicht auf die Waage zu bringen, müsse man unbedingt zusammenhalten: »Ein Brexit führt uns alle in die Sackgasse. Der BDI fordert von der neuen britischen Regierung, klar für den Verbleib in der EU einzustehen«.

Last but not least hört man aus Wirtschaftskreisen immer wieder den Hinweis, ein Ausscheiden Großbritanniens aus der EU sei auch für die Kräfteverhältnisse innerhalb des Staatenbundes recht folgenreich – und nicht im deutschen Interesse. Denn mit London würde die EU »eine wichtige Stimme für eine liberale Wirtschaftspolitik verlieren«, warnte im Mai Nikolaus von Bomhard, der Vorstandsvorsitzende der Rückversicherungsgesellschaft Munich Re. »Die Briten sind für uns entscheidend«, bestätigte ebenfalls Ende Mai BDI-Hauptgeschäftsführer Kerber anlässlich des Besuchs des britischen Premierministers David Cameron in Berlin – nämlich dann, wenn es nötig sei, »für strukturelle Reformen zugunsten der europäischen Wettbewerbsfähigkeit einzustehen«. Tatsächlich ist häufig von einer Kräfteverschiebung in der EU in Richtung Süden die Rede, sollte Großbritannien das Bündnis verlassen; Staaten wie Frankreich oder Italien, mit denen die Bundesregierung mit ihrer Austeritätspolitik – zuletzt gegenüber Griechenland – immer wieder kollidiert, gewännen in wirtschaftlichen Fragen womöglich größeres Gewicht.

Aber hat sich London nicht ohnehin häufig genug für seine eigenen Interessen stark gemacht und damit andere, auch deutsche gehemmt? Das hat es – doch aus Berliner Perspektive eben gerade nicht auf ökonomischem Gebiet. »Deutschland hat oft Koalitionen mit dem Vereinigten Königreich gebildet, um bestimmte Angelegenheiten voranzubringen, zum Beispiel Themen, bei denen es um Handel oder den EU-Haushalt geht«, hielt die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) im September 2014 in einer detaillierten Analyse fest: »Das Vereinigte Königreich nicht in der EU zu haben könnte Deutschland eines wichtigen Verbündeten bei diesen Themen berauben.«

Eklatante Rückschläge drohen Berlin und Brüssel jenseits all dessen besonders auf dem Feld der globalen Machtpolitik. »Das Vereinigte Königreich ist ein bedeutender Akteur in der Welt, mit einem Sitz im UN-Sicherheitsrat«, heißt es in der zitierten DGAP-Analyse. »Es ist auch ein großer Mitgliedsstaat, dem rund zwölf Prozent der EU-Bevölkerung angehören« und der »ein hohes Bruttoinlandsprodukt erwirtschaftet (rund 14,5 Prozent des gesamten BIP der EU)«. »Alles in allem« würden »das Gewicht und die Bedeutung der EU als internationaler Akteur« im Falle eines »Brexit« unweigerlich »reduziert«, resümierte die DGAP. Dasselbe stellte die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in einer Studie vom Februar 2014 fest – und fügte hinzu, das Land besitze auch wegen »seiner engen Beziehungen zu den USA« und »seiner Verbindung mit dem Commonwealth« eine besondere Bedeutung für die EU. Die SWP konstatierte: »Ein Austritt würde die internationale Handlungsfähigkeit und das Ansehen der Europäischen Union nachhaltig schwächen.«

Militärischer Faktor

Besondere Sorgen machen sich deutsche Außenpolitiker dabei seit jeher um die militärische Stärke der EU. »Neben Frankreich ist das Vereinigte Königreich die einzige größere Militärmacht der EU; es steuert 25 Prozent zu den EU-Verteidigungsausgaben und 40 Prozent zu den EU-Ausgaben für Rüstungsforschung und -entwicklung bei«, hielt der European Council on Foreign Relations (ECFR), ein EU-weit operierender Thinktank mit Büros in sieben europäischen Hauptstädten, der 2007 unter Beteiligung von Joseph Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) gegründet wurde, im März 2015 fest. »Ein britischer Austritt würde also den Verlust eines der ambitioniertesten (…) militärischen Player der EU bedeuten«, hatte die DGAP bereits im September 2014 konstatiert. »Wenn die EU fortfährt, ihre eigene Außen- und Sicherheitspolitik zu gestalten«, dann werde Deutschland immer stärker unter Druck geraten, »viel mehr zu tun, um zu kompensieren, dass Großbritannien diese Strukturen verlässt«, sagte die DGAP damals voraus. Dabei hatten deutsche Militärpolitiker mit dem Vereinigten Königreich und seinen Streitkräften eigentlich noch ganz anderes im Sinn. Das ließ sich exemplarisch einem Papier entnehmen, das die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung im Juni 2007 unter dem Titel »Auf dem Weg zu einer europäischen Armee« veröffentlicht hatte. Darin hieß es, es müsse nicht nur umgehend ein »Fahrplan« für »die weitere Entwicklung der militärischen Dimension der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« erstellt und »die Schaffung einer europäischen Armee« in die Wege geleitet werden. Es müsse darüber hinaus auch »die Rolle der Nuklearstreitkräfte Frankreichs und Großbritanniens in einer integrierten europäischen Armee (…) diskutiert werden«. Über gemeinsame EU-Streitkräfte in Zukunft Zugriff auf die britischen Atomwaffen zu bekommen, dieses – zugegebenermaßen nicht übermäßig realistische – Vorhaben würde mit einem etwaigen »Brexit« definitiv scheitern.

Unter Experten gilt selbst ein Szenario als nicht ausgeschlossen, das dem deutschen Machtstreben noch viel größere Schwierigkeiten machen würde. Zwar spielten staatliche Stellen in der Öffentlichkeit immer wieder herunter, »wie sehr ein britischer Ausstieg aus der EU deren Rest schädigen würde«, heißt es in der erwähnten ECFR-Analyse. »Doch Interviews mit amtierenden und ehemaligen Außenministern, EU-Kommissaren und anderen Staatsmännern und -frauen in der EU« offenbarten »eine verbreitete Furcht« nicht zuletzt davor, dass »der Präzedenzfall, dass irgendein Land die EU verlässt, Schaden anrichten« und »möglicherweise sogar zu einer Auflösung der EU führen« könne. »Es gibt eine Debatte darüber, ob der Euro einen Grexit (also den Austritt Griechenlands; jW) überleben kann«, heißt es in dem ECFR-Papier, »doch das Chaos, das von einem Brexit ausgelöst würde, besäße ganz andere Ausmaße«. So würden wohl »viele der Argumente«, die Euro-Skeptiker in Großbritannien vorbrächten, »in anderen Nicht-Euro-Zonen-Staaten wie Schweden Resonanz finden, aber auch in Euro-Zonen-Ländern wie den Niederlanden, ganz zu schweigen von Euro-skeptischeren Ländern wie Ungarn und der Tschechischen Republik.« Die Furcht vor einer Verstärkung der zentrifugalen Tendenzen in der EU durch einen »Brexit« ist in der Tat überraschend verbreitet. Es drohe »ein gefährlicher Präzedenzfall zu entstehen, der weitere Austritte nach sich ziehen oder zumindest dazu beitragen könnte, dass sich die EU-Debatten in manchen Ländern verschärfen«, hatte schon im Februar 2014 die SWP in einer Studie gewarnt.

Warnung vor Isolation

Was tun? Immer wieder malen deutsche Thinktanks die Folgen eines »Brexit« für das Vereinigte Königreich in den dunkelsten Farben – und wirken damit letztlich auf das britische Establishment ein, sich für den Verbleib in der EU stark zu machen. Trete Großbritannien aus, dann müsse es sich aus ökonomischen Gründen wahrscheinlich der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA anschließen, mutmaßte schon im März 2013 die SWP. Dazu müsse es sämtliche wesentlichen EU-Regularien beibehalten sowie neue akzeptieren, ohne über sie mitbestimmen zu können: »Das Land würde vom Policymaker zum Policytaker werden«. Damit »dürfte sich das schon jetzt stark ausgeprägte Gefühl eher noch verstärken, nationalstaatliche Souveränität eingebüßt zu haben und fremdbestimmt zu werden«, orakelte die SWP. Zwei Jahre später, im März 2015, nahm die Bertelsmann-Stifung sich des sensiblen Themas »Ökonomische Auswirkungen eines Brexit« auf das Vereinigte Königreich an. Je nach konkreter Entwicklung werde das britische Bruttoinlandsprodukt bei einem »Brexit« im Jahr 2030 um 0,6 bis 3,0 Prozent unter demjenigen liegen, das im Falle eines Verbleibs in der EU zu erwarten sei, prophezeite der einflussreiche Thinktank und erklärte, unter bestimmten Bedingungen könne es gar um 14 Prozent hinter den Möglichkeiten zurückbleiben. Diese Berechnung kam nicht nur in außenpolitisch interessierten Kreisen in London, sondern auch in den britischen Massenmedien an: »Brexit wird Vereinigtes Königreich am härtesten treffen«, las man Ende April 2015 im konservativen Telegraph.

Praktische Vorschläge, wie dem Austritt vorzubeugen sei, hat im März der ECFR gemacht. Wie der Thinktank schreibt, sollten sich beispielsweise alle EU-Mitgliedsstaaten gemeinsam mit dem Vereinigten Königreich um eine Reform der Union bemühen. Vorteilhaft sei es zudem, das britische Kabinett nicht ständig auszuschließen, wenn wichtige Entscheidungen anstünden. Da es an Treffen der Euro-Gruppe nicht teilnehmen könne, würde in London die Befürchtung genährt, von zentralen ökonomischen Beschlüssen ferngehalten zu werden. Und Formate wie das »Weimarer Dreieck«, zu dem sich Deutschland, Frankreich und Polen zusammengefunden hätten, um außenpolitische Vorabsprachen zu treffen, weiteten diese Angst aus. »Alles, was es nahelegt, dass das Vereinigte Königreich isoliert und bedrängt ist, unterstützt die Euro-skeptische Botschaft, dass Großbritannien draußen besser dran ist«, warnt der ECFR. Kontraproduktiv seien auch Aussagen, »die unterstellen, dass die britische Öffentlichkeit (…) irrational sei«, erklärt der Thinktank. Es folgen Vorschläge, die Kooperation mit Politikern und Parteien von der Insel zu intensivieren. Schließlich sollten »europäische Regierungen (…) ihre in Großbritannien tätigen nationalen Unternehmen ermutigen«, frühzeitig vor dem möglichen Verlust von Arbeitsplätzen im Fall eines »Brexit« zu warnen, heißt es weiter: »Während die Öffentlichkeit bezüglich der Äußerungen von Politikern zur europäischen Frage skeptisch ist, würde sie wahrscheinlich auf Warnungen ihrer Arbeitgeber vor den wirtschaftlichen Folgen eines Brexit hören«. »Größere Unternehmen«, empfiehlt der ECFR, etwa Ikea, BMW oder die Deutsche Bank, sollten »ihr Personal, ihre lokalen Parlamentsabgeordneten und die lokale Presse über die Gefahren eines EU-Ausstiegs informieren«.

Sogar den Gewerkschaften in anderen Ländern kommt dem ECFR zufolge eine wichtige Aufgabe zu. »Sie sollten die britische Gewerkschaftsbewegung an die soziale europäische Agenda erinnern – und zeigen, wie viele britische Rechte durch ein Ausscheiden aus der EU bedroht werden könnten.« Der Rat des ECFR kommt nicht von ungefähr; schließlich machen sich BDI-Hauptgeschäftsführer Kerber, DIW-Präsident Fratzscher und viele weitere Wirtschaftsmänner echte Sorgen. Wäre ja gelacht, wenn der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) nicht in der Lage wäre, ihnen diese zu nehmen und sich mit all seiner Kraft für die britische EU-Mitgliedschaft einzusetzen. Ende Juni kam denn auch ein möglicher »Brexit« beim 14. Deutsch-Britischen Gewerkschaftsforum in Berlin zur Sprache. Der DGB hält davon überhaupt nichts: Sein Vorsitzender Reiner Hoffmann stellte in der Debatte mit den britischen Kolleginnen und Kollegen fest, man stelle zwar durchaus Bedingungen an die EU – doch seien »die europäischen Gewerkschaften immer für Europa eingetreten«. Und geht es nach dem DGB, dann werden sie das auch in Zukunft tun.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 22. Juli 2015


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