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Twitter ist schuld

Nach Unruhen in London. Abgeordneter macht soziales Netzwerk mitverantwortlich

Von Christian Bunke, Manchester *

Seit die konservativ-liberale Regierung Großbritanniens mit ihren Kürzungsorgien begann, wurde darüber spekuliert, in welcher Stadt es die ersten Unruhen geben würde. Manchester, Liverpool, Birmingham und London waren die Kandidaten. Mit den Krawallen in Londoner Stadtteil Tottenham vom Wochenende hat die Hauptstadt nun das Rennen gewonnen. Nach dem Tod eines vierfachen Familienvaters durch eine Polizeikugel hatten aufgebrachte Anwohner in dem Stadtteil randaliert. Zahlreiche Personen wurden bei den bis zum Montag andauernden Protesten verletzt.

Die soziale Lage in den Banlieues britischer Großstädte hatte bereits in vergangenen Jahrzehnten immer wieder zu Massenunruhen geführt. Den letzten Aufstand erlebte Tottenham im Oktober 1985. Damals starb die 49jährige Cynthia Jarrett während einer polizeilichen Hausdurchsuchung. Nach einer Kundgebung gegen Polizeigewalt, an der sich 100 Menschen beteiligten, kam es zu tagelangen Ausschreitungen.

Seitdem hat sich die Lage im Viertel nicht verbessert. Die offizielle Erwerbslosigkeit liegt in Tottenham bei 8,8 Prozent und ist damit die höchste Londons. 54 Menschen bewerben sich im Durchschnitt auf einen Job. Die soziale Infrastruktur ist durch die Sozialkürzungen der Regierung direkt betroffen. acht von 13 Jugendclubs wurden in der vergangenen Woche geschlossen.

Für die örtliche Bevölkerung kamen die Unruhen nicht überraschend. Als am vergangenen Donnerstag (4. Aug.) der Tod des 29jährigen Mark Duggan durch eine Polizeikugel bekannt wurde, warnten die örtlichen Gewerkschaften bereits über den »nicht zu unterschätzenden Ernst der Lage«. Am Samstag nachmittag demonstrierten 100 Menschen vor Polizeiwache in Tottenham. Sie verlangten, einen leitenden Beamten zu sehen, um ihn wegen des tödlichen Schusses zur Rede stellen sollte. Als dieses bis 21 Uhr nicht geschah, gab es eine Rangelei zwischen Polizei und Jugendlichen.

Dies war der Beginn der Ausschreitungen, die sich in der Nacht zum Sonntag auch auf andere Londoner Stadtteile ausbreiteten, unter anderem nach Brixton und Walthamstow. Hunderte Jugendliche plünderten die Läden großer Einzelhandelsketten und deckten sich mit elektronischem Gerät und Markenkleidung ein. Bereits am Samstag war die Ladenfläche des Teppichgroßhändlers Lord Harris of Peckham angezündet worden. Der sitzt für die Konservativen im britischen Oberhaus. Auch darüber liegende Wohnungen wurden Opfer der Flammen, die Einwohner sind nun obdachlos.

Die britische Rechtspresse holte nach den Unruhen das Vokabular der 1980er Jahre, der Zeit der Thatcher Regierung, wieder hervor. Rupert Murdochs Sun bezeichnete die aufständischen Jugendlichen als »Feind im Inneren«, den es zu bekämpfen gelte. Teile der konservativen Partei, unter anderem Premierminister David Cameron, fordern die Einstellung des New Yorker Law-and-Order-Polizisten Bill Bratton. Dieser solle nach Vorstellungen von Cameron auch in London eine Null-Toleranz-Politik durchsetzen.

Es gibt auch verstärkte Rufe nach stärkerer staatlicher Kontrolle neuer sozialer Medien. So gab zum Beispiel der konservative Parlamentarier Nick De Bois dem Kurznachrichtendienst Twitter eine Mitschuld am Aufstand. Durch diesen hätten sich Gangs koordinieren können, so De Bois.

100 Menschen wurden bislang verhaftet. Diese Zahl wird sicherlich ansteigen. Das Zeitalter der politischen Sommerpause ist vorbei. Innenministerin Theresa May brach am Montag wegen der Unruhen ihren Urlaub ab. Tottenham wird im zunehmend krisengeschüttelten Großbritannien nicht der einzige Riot dieses Jahrzehnts bleiben.

* Aus: junge Welt, 9. August 2011


Neue Nacht der Krawalle in London

Ausschreitungen in mehreren Stadtteilen **

Bei schweren Unruhen in der zweiten Nacht in Folge sind in London mehr als hundert Personen festgenommen worden. Die Ausschreitungen, die nach dem Tod eines Mannes durch eine Polizeikugel in Tottenham ihren Ausgang genommen hatten, weiteten sich in der Nacht zum Montag (8. Aug.) auf andere Stadtteile aus.

Randalierer waren nach Polizeiangaben in der Nacht zum Montag in den südlichen Bezirken Brixton, Enfield und Walthamstow sowie in Islington im Norden der britischen Hauptstadt und auf der Einkaufsmeile Oxford Street mitten im Stadtzentrum unterwegs. Die Sicherheitskräfte hatten zwar an verschiedene Brennpunkte Verstärkung beordert. Dennoch kam es vielerorts zu Plünderungen. Neun Polizisten wurden bei den Krawallen verletzt.

In Brixton plünderten Hunderte Menschen einen Elektromarkt. Ein weiteres Geschäft wurde in Brand gesetzt, an zahlreichen anderen wurden die Fensterscheiben eingeschlagen. Auch in Enfield gab es Plünderungen. Zudem sollen dort zwei Fahrzeuge ausgebrannt sein. In Walthamstow randalierten mehr als 30 zumeist vermummte Jugendliche und demolierten mehrere Shops. Für weitere Schäden sorgten jugendliche Randalierer an der Oxford Street.

** Aus: Neues Deutschland, 9. August 2011


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