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Millionen Briten im Streik gegen Rentenklau

30 Gewerkschaften am Aktionstag beteiligt *

Von Christian Bunke, Manchester *

Am Mittwoch (30. Nov.) ging die Auseinandersetzung zwischen der britischen Koalitionsregierung und den Gewerkschaften in die nächste Runde. Rund 30 Gewerkschaften beteiligten sich an einem Streiktag, der den gesamten öffentlichen Sektor lahmlegte. Es war der bislang größte Streiktag der britischen Gewerkschaftsgeschichte, mit fast drei Millionen Beteiligten. Unter anderem wurden der öffentliche Personenverkehr in Nordirland, staatliche Behörden, Schulen und Krankenhäuser bestreikt. Entzündet hatte sich der Streik an geplanten Verschlechterungen der Renten im öffentlichen Sektor. Hier will die Regierung längere Lebensarbeitszeiten, höhere Einzahlungen der Beschäftigten in die Rentensysteme und niedrigere Renten nach Abschluss des Berufslebens durchsetzen.

Zudem sorgt der Verwendungszweck der von den Beschäftigten verlangten Mehreinzahlungen in die Rentensysteme für Zündstoff. Dieses Geld soll für die Rückzahlung der durch die Bankenrettungspakete entstandenen Staatsschulden eingesetzt werden.

Der Streiktag ist Ausdruck eines sich rapide verschärfenden sozialen Klimas in Großbritannien. Das wirkt sich auch auf den privaten Sektor aus. Am Vorabend des Streiks veröffentlichte die Gewerkschaft das Ergebnis einer Urabstimmung aus der Bauindustrie. 82 Prozent aller direkt beim Baukonzern Balfour Beatty Beschäftigten stimmten für Kampfmaßnahmen. Dieser Betrieb ist eines von sieben Bauunternehmen, die im Baugewerbe Lohnkürzungen um 35 Prozent durchsetzen wollen. Gegen diese Pläne gab es in den vergangenen Wochen immer wieder heftige Proteste, Blockaden und Besetzungen. Nun kann es ab dem 7. Dezember zum ersten offiziellen landesweiten Streik in der Bauindustrie seit den 1970er Jahren kommen.

* Aus: neues deutschland, 1. Dezember 2011


Kontra Camerons Kürzungen

Heute streiken zwei Millionen Briten gegen die Rentenpolitik der Regierung

Von Ian King, London **


Am heutigen Mittwoch (30. Nov.) streiken über zwei Millionen britischer Werktätiger im öffentlichen Dienst und im Gesundheitswesen. Lehrer und Müllleute, Grenzkontrolleure und Krankenpfleger werden nach Urabstimmungen der Arbeit fernbleiben. Die Regierung droht unterdessen mit neuen Antistreikgesetzen.

Anlass des Ausstands ist der Plan von David Camerons rechter Koalition, öffentliche Arbeitnehmer länger arbeiten und höhere Rentenbeiträge einzahlen zu lassen, um zuletzt niedrigere Altersrenten zu bekommen. Die geplanten Kürzungen sind nach Premier Cameron notwendig, um das Haushaltsdefizit zu senken; seiner Ansicht nach sind sie auch gerecht, weil Werktätige in der Privatindustrie meist mit noch schlechteren Renten abgespeist werden. Ein Kompromissangebot der Regierenden stimmte die Gewerkschaftschefs nicht um. Milchmädchenrechnungen aus dem Finanzministerium des Tory-Politikers George Osborne, wonach das Land durch die Arbeitsniederlegungen um eine halbe Milliarde Pfund ärmer werden würde, stießen auf Unglauben. Auch die Regierungsdrohung mit Gesetzesverschärfungen verfing nicht.

Den Hinweis des liberalen Finanzstaatssekretärs Danny Alexander auf noch schwebende Verhandlungen und die mögliche Rücknahme des bisherigen Regierungsangebotes hat Dave Prentis von der anderthalb Millionen Mitglieder starken Gewerkschaft Unison als Fehlinformation widerlegt. Es seien von den Regierenden keine offiziellen Zahlen genannt worden; man könne logischerweise nichts vom Tisch nehmen, wenn der Tisch leer geblieben sei. Sein Kollege Mark Serwotka von der Public and Commercial Services Union, einer Art britischer ÖTV, pflichtete Prentis bei und beschuldigte obendrein die Regierung der Erpressung, weil sie die ohnehin drakonische Gesetzgebung aus der Zeit Margaret Thatchers noch verschärfen will. Sogar Oppositionsführer Ed Miliband, der lange unschlüssig blieb, ob er die Streikenden unterstützen solle, ließ verlauten, der Premier freue sich auf den Ausstand, um die Aufmerksamkeit der Bevölkerung vom Scheitern seiner rabiaten Finanz- und Sozialpolitik abzulenken; die Koalition habe nie ernsthaft verhandelt und den um ihre gerechten Renten Betrogenen kaum eine Alternative zum Streik gelassen.

Dabei gäbe es für die Regierenden sehr wohl eine andere Möglichkeit als Propaganda und Drohungen. In einem Artikel im linksliberalen »Guardian« verwies der gewerkschaftsnahe Volkswirt Richard Murphy auf internationale Forschungen über legale Steuervermeidung und illegale Steuerhinterziehung. Danach wird der britische Fiskus jedes Jahr um rund 70 Milliarden Pfund, also 80 Milliarden Euro, durch Steuertrickser geprellt. Wenn die Tories oder ihre Labour-Vorgänger einen Weg gefunden hätten, die Steuerunwilligen doch zur Kasse zu bitten, wären Camerons Kürzungen von 20 Milliarden Pfund im Jahr unnötig, die Renten könnten unangetastet bleiben und die Streiks abgeblasen werden.

Stattdessen plant die konservativ-liberale Koalition, 12 000 Beamte aus den Finanzämtern zu entlassen und damit die Steuervermeidung noch mehr zu erleichtern.

Und so verzapfen Cameron und Konsorten weiterhin ihre Mischung von Fehlinformationen und Drohungen gegen Gewerkschaftsführer, von denen die meisten ihre Streikabstimmungen mit über 80 Prozent gewonnen haben.

** Aus: neues deutschland, 30. November 2011


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