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Britanniens langer Abstieg vom Olymp

Großbritannien sucht nach dem Niedergang des Empire noch immer nach einer neuen Rolle für sich in der Welt

Von Reiner Oschmann *

Am 27. Juli beginnen in Großbritannien die Olympischen Sommerspiele 2012. Nach 1908 und 1948 ist London zum dritten Mal Gastgeber.

1908, 1948 und 2012 – als erste Stadt richtet London das dritte Mal Olympia aus. Großbritannien fiel in diesen 100 Jahren von der Weltmacht Nummer 1 aus allen Wolken. Das Empire ging verloren, eine neue Rolle hat das Land noch nicht gefunden. Es verhält sich immer noch ein bisschen wie Superman. Dabei sind viele Entwicklungen in Spannung verflochten. Die Olympiaringe sind insofern auch Sinnbild für einen verdrängten, langen Abstieg vom Olymp ...

Ring eins: Weltherrscher wird Gernegroß

Als der verrückte Olympia-Marathon 1908 in London für den Italiener Dorando Pietri tragisch endet, steht Britannien machtpolitisch ganz oben. Das Land, in dem Königin Victoria erst sieben Jahre tot und die offizielle Labour Party noch keine zwei Jahre am Leben ist, ist das mächtigste der Erde. Das Pfund hat Goldstandard. Der britische Handel beherrscht den Weltmarkt. Vor allem jedoch beutet Großbritannien das größte Kolonialreich der Erde aus.

Doch so wie Marathonläufer Pietri einem Südafrikaner die Führung entreißt, im Stadion eine halbe Runde vorm Ziel zusammenbricht und sich berappelt, bis er von Ärzten und Kampfrichtern regelwidrig ins Ziel bugsiert und ihm der Olympiasieg aberkannt wird, zeigt auch Britannien in der Hochzeit des Empire Niedergangssymptome: Die USA und Deutschland übertreffen das Land bei Roheisen und Stahl, Britanniens Vorherrschaft auf den Ozeanen geht 1922 zu Ende. Sein Kolonialmonopol aber weitet es aus: Das Kolonialreich, 1860 ein Gebiet von sechs Millionen und kurz vor Olympia 1908 von 30 Millionen Quadratkilometern, erreicht 1938 den territorialen Zenit. Große Teile der Erdkarte sind britisch Zinnober. Welch Symbolik! Während das Mutterland Kolonialrosinen genießt, regiert es in den Kolonien jovial und brutal. Hunger, Gewalt und Sklaverei – das Empire ist ein Schattenreich, »where the sun never sets and the blood never dries«, wo die Sonne nie untergeht, das Blut nie trocknet.

Die Anmaßung vergiftet die Heimat. Die Überdehnung zehrt. Befreiungsbewegungen sind Kampfansagen an London, denen es auf Dauer weder Macht noch Moral entgegenzusetzen hat. Es muss den Wind of Change anerkennen.

Das geschieht vor 50 Jahren, als der zweite Weltkrieg und die zweiten Spiele in London 1948 vorüber sind. Britannien ist allenthalben geschwächt, rangiert hinter den USA und der Sowjetunion, gebärdet sich aber immer noch als Gernegroß. Die Zündung der ersten britischen Atombombe 1952, der ständige Sitz im UN-Sicherheitsrat, der Status als Sieger- und NATO-Macht, all das erzeugt Widersprüche, die London bis heute nicht auflöst. US-Außenminister Acheson meint 1962, Großbritannien habe »ein Empire verloren, aber noch keine neue Rolle gefunden«.

Sir Henry Tigard, Berater von Labour-Premier Attlee, urteilt schärfer: »Wir sind eine große Nation, aber wenn wir uns weiter wie eine Weltmacht verhalten, werden wir bald aufhören, eine große Nation zu sein.« Heute amtieren in London invasionsbereite Regierungen. Ob in Afghanistan, Irak oder Libyen, es ist mit von der Partie, wenn der Westen Einfluss mit Soldaten und Bomben sichert und Beobachter »ein Wiederaufleben des europäischen Imperialismus« erkennen.

Ring zwei: Werkstatt der Welt und industriefreie Zone

Als die Spiele das zweite Mal nach London kommen, ist die Vorkriegsherrlichkeit rationierter Düsternis gewichen. Olympia 1948 erlebt das Land als eine Siegermacht im Verlierermodus. Die entwickelte Konsumgüterindustrie der Vorkriegszeit mit einer nur von den USA übertroffenen Autoproduktion, die Blütezeit des eigenen Heims, mit elektrifizierten Pendlerzügen und bezahltem Urlaub ist schöne Erinnerung, so wie der Goldstandard des Pfunds, der 1931 aufgegeben werden muss.

Vor allem Industrie und Wirtschaft in der Wiege der industriellen Revolution sind auf schiefer Bahn. Der Niedergang ist Nebenwirkung des Kolonialismus und ökonomisches Pendant zum Zerfall des Weltreichs. Es ist die Zeit, da sich das Empire aufgelöst, im Commonwealth einen Trost gefunden und England einen Namen als »Kranker Mann Europas« erworben hat. 1977 führt Britannien erstmals mehr Pkw ein, als es selbst herstellt. Ein Jahr darauf übersteigt die Arbeitslosenzahl, erstmals seit der Weltwirtschaftskrise, die Zwei-Millionen-, wenig später unter Margaret Thatcher die Drei-Millionen-Marke. Gleichfalls Anfang der 80er Jahre importiert Großbritannien erstmals seit der industriellen Revolution mehr Fertigerzeugnisse, als es exportiert. Das ab 1975 geförderte Nordseeöl ist hochwillkommen, aber keine Trendbremse. Die Reichtumskluft vergrößert sich schneller als in jedem anderen entwickelten Land, und die Industrie wird nirgendwo so drastisch abgebaut wie hier. Bei Frau Thatchers Antritt 1979 erwirtschaftet die manufacturing industry fast 30 Prozent des Nationaleinkommens, bietet sieben Millionen Menschen Arbeit. Beim Abgang von Labour-Premier Brown 2010 liegen die Werte bei elf Prozent und 2,5 Millionen. Der Kasinokapitalismus der City of London ist kein nachhaltiger Ersatz.

Das Land gilt als neuntgrößte Industrienation. Viele Marken »Made in Britain« sind weg oder in ausländischer Hand. Die Ausnahmen werden weniger und weniger. Eine von ihnen ist die Nobelautomarke Rolls-Royce. In der Volksrepublik (!) China fährt sie momentan ihre tollsten Erfolge ein. Die Nachfrage ist so enorm, dass China die USA als größten Rolls-Royce-Markt ablöst. Andere britische Weltmarken finden sich in der chemischen, der Pharma- und der Rüstungsindustrie. Doch als die Queen im Juni ihr Thronjubiläum begeht, rechnet der »Guardian« vor: »Das Königreich steht heute für drei Prozent der weltweit exportierten Waren, nachdem es zur Jahrtausendwende 4,4 Prozent waren. Es ist Nettoimporteur von Industriegütern, Lebensmitteln und Energie, und 2040, vielleicht eher, wird das United Kingdom aus der Liste der zehn größten Volkswirtschaften verschwunden sein.«

Ring drei: Von Rule Britannia zu Cool Britannia

Wenn Olympia steigt, räumen Firmen ihren Beschäftigten erstmals längere Lunchpausen und flexiblere Arbeitszeiten ein. Politik und Marketing hoffen, 2012 zum »Jahr der Briten« zu machen und die Botschaft glücklicher Ehe von Moderne und Tradition zu platzieren. Schon vor 20 Jahren haben Planer das versucht und Rule Britannia zu Cool Britannia, das empire-nachtrauernde Britannien zu einem pulsierenden Great Britain hochhübschen wollen.

»Rule, Britannia!« ist ein fast 300-jähriges patriotisches Lied. In der Selbstwahrnehmung jedoch ist es Britanniens inoffizielle Hymne. Ein Inbrunstsong, den Besucher bei Londons Promenadenkonzerten oder Fußballfans zum Anfeuern der Nationalelf singen. Dem größten Windbeutel-Premier jüngerer Zeit, Tony Blair, kommt der Begriff »Cool Britannia« als Geschenk Gottes, um Aufbruch und Lässigkeit in Verbindung mit New Labour zu verheißen. Bald zeigt sich, dass das Beste an Cool Britannia das Wortspiel mit der Liedvorlage ist. Blairs Jovialität tarnt die Verlogenheit seiner Politik – nirgends sichtbarer als in der Haltung im Irak-Krieg 2003. Neben George W. Bush gibt es keinen Politiker des Westens, der eifernder einen Feldzug inszeniert, der auf Vorwand und Völkerrechtsbruch beruht. Die Lügen kosten ihn Amt und Glaubwürdigkeit – und Cool Britannia jede Strahlkraft.

Der neue Premier Cameron betont Kulturerbe statt Coolness, macht eine Rolle rückwärts zum Folklorewert von »Rule, Britannia!«. Auch wenn die nicht von Grundschwächen heilt, im Tourismus zahlt sie sich aus. Besonders beim Thema Königshaus. Die Royal Wedding 2011 von Thronfolger II William und das Diamond Jubilee von Elizabeth II. im Juni bestätigen: Die Royals sind eine stabile Ersatzwährung für verflossene Größe und verlorenen Glanz. Trotz Demokratiefremdheit der Erbmonarchie sind Sympathie und Zuneigung vieler Untertanen für ihre Landesmutter unübersehbar.

Ein Schlüsselergebnis des Empirefalls liegt darin, dass Einwanderung eine oft kreative Globalisierung der heutigen britischen Bevölkerung erzeugt. Der Ex-Vorsitzende der Fabian Society, Sunder Katwala (Eltern: Indien und Irland), macht bewusst: Viele der Königstreuesten sind Immigrantennachfahren aus dem Empire.

Ring vier: Kriegsopfer, Kriegstreiber, Kriegshelden

Dreimal Olympia in gut 100 Jahren – Britannien und Krieg gehören darin oft zusammen. Briten sind Opfer, Kriegstreiber, Helden. Der Erste Weltkrieg erlegt harte Opfer auf. Allein vom Expeditionsheer nach Flandern kommt eine Dreiviertelmillion nicht heim. 1918, als Frauen erstmals Wahlrecht erhalten, sofern sie über 30 sind und eigenen Hausstand besitzen, verzeichnet das Heer rund eine Million Tote. Fast jeder dritte Brite, der bei Kriegsbeginn zwischen 13 und 24 war, ist tot.

Im Zweiten Weltkrieg steht das Land anfangs allein gegen die Nazis und – Stichwort Dünkirchen – kurz vor der Katastrophe. Britannien erlebt 1940/41 mit der Luftschlacht über der Insel (»Blitz«) die erste fremde Aggression seit dem Einfall der Normannen im 11. Jahrhundert. Für seine Bevölkerung begründet es spätestens da den Ruf als Nation, die auch in höchster Not kühlen Kopf bewahrt. Groß-London verliert in World War II fast 30 000 Einwohner an den Krieg, doch die Briten machen weiter Alltag – business as usual.

Kurz vor Silvester 1940 eine der schlimmsten Nächte von »Blitz«. Das Zentrum wird von Feuerbomben getroffen; acht historische Kirchen und das Rathaus in der City in Flammen. Der Befehlshaber des britischen Bomberkommandos, Arthur Harris, der bald Flächenbombardements gegen deutsche Städte anordnen wird, schreibt: »Als wir uns von der Szenerie abwandten, sagte ich laut: Nun gut, sie haben Wind gesät«.

Harris, bis heute für große Ehrungen übergangen, erinnert aber auch daran, dass er »Veteran zwanzigjähriger kolonialer Bombenflüge in den näher gelegenen Territorien des britischen Empire (ist)«, wie Richard Gott schreibt. »Britische Bombardements aus der Luft wurden erstmals in großem Stil im Empire praktiziert, zunächst 1916 in Darfur (heute Sudan), 1919 in Somaliland, Ägypten und Afghanistan. Irak wurde während der ganzen 20er Jahre bombardiert so wie die Nordwestgrenze Indiens in den 30er Jahren. Bombardements gab es auch nach 1945, während der Kriege in Malaya (heute Teil Malaysias) und Kenia. Andere europäische Staaten pflegten ihre Eingeborenen gleichfalls zu bombardieren, die Franzosen in Syrien und Marokko, die Italiener in Libyen und Äthiopien und die Südafrikaner in Namibia. Ein schlimmes, unauslöschliches Erbe.«

Zwei Fußnoten: Wie schon in früherer Zeit für andere Verfolgte (Karl Marx) öffnet das Land vor dem und im Zweiten Weltkrieg seine Grenzen für »The Hitler Emigrés«. Und ohne die BBC hätte Thomas Mann seine bewegenden 60 Rundfunkansprachen »Deutsche Hörer!« aus dem kalifornischen Exil nicht verbreiten können.

Ring fünf: Das Königreich der Konstanten

Ganz sicher wird manche Begleiterscheinung der neuen Spiele bezeugen, dass das Land in vielem ein Königreich der Konstanten ist. Daraus erwachsen Stärken, Schwächen und ein Gutteil der Faszination der Insel im Ausland. Trotz flammenden Bekenntnisses zur Freiheit war und ist Britannien ein Staat mit starren Klassengegensätzen. Arm und Reich klaffen besonders krass auseinander – und die Armsten sind besonders nah an den Skizzen von Dickens und Engels. Auch 2012.

Andererseits verwundert nicht, dass London die teuerste Wohnung der Welt vorweist: ein Penthouse-Apartment am Hyde Park für 136 Millionen Pfund. Kurz vor den Spielen kommt die Nachricht zu einer anderen Konstante im siebentreichsten Land der Welt: Britannien zählt sieben Millionen Menschen in Arbeit, die trotzdem am Rande des Ruins stehen.

Manch Olympia-Nebenwirkung deutet gleichfalls auf Beharrung. Der Chef des Organisationskomitees, Doppel-Olympiasieger Sebastian Coe, gab sich vor Jahren sicher, »zwei Millionen Briten vom Sofa zu holen und für Sport zu gewinnen«. Doch das wird wohl nichts. Britannien ist heute eines der dicksten Länder Europas, hat den größten Alkoholismus unter Jugendlichen, die höchste Schwangerschaftsrate unter Minderjährigen und einen Spitzenverbrauch an Antidepressiva.

Abschreiben sollte man die Insel dennoch nicht. Nie. Konstanten, von denen London profitieren wird, sind die britische Sportbegeisterung und der durch Kommerz bedrängte, aber wache Sinn für Fair Play, die Außenantennen einer Nation, die früh ihre Badetücher über die Welt geworfen hat, und ihr Faible für galligen Humor. In seiner »Englischen Kulturgeschichte« rechnet Dietrich Schwanitz den Humor zu »den humansten Verständigungsformen der englischen Zivilisation«. Und, möchte man ergänzen, zu seinen widerständigsten: Als Polizisten im Krieg ein Fußballspiel während eines Nazi-Luftangriffs unterbrechen wollten, buhte die Menge sie aus. Die Sirenen gingen im Beifall der Zuschauer unter ...

* Aus: neues deutschland, Samstag, 21. Juli 2012


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