Kriegslügen ungesühnt
Die USA und Großbritannien haben die Weltöffentlichkeit vor der Irak-Invasion vor sieben Jahren getäuscht. Expremier Blair würde das heute wieder tun
Von Karin Leukefeld *
Hunderte Journalisten aus aller Welt waren in einem großen Saal des
irakischen Informationsministeriums in Bagdad versammelt und verfolgten
vor sieben Jahren, am 5. Februar 2003, an eigens aufgestellten
Bildschirmen den Auftritt des damaligen US-Außenministers Colin Powell
vor dem UN-Sicherheitsrat. Der Chef des State Departements meinte
seinerzeit, die letzten überzeugenden Beweise zu liefern, daß der Irak
die Welt und die UN-Waffeninspekteure täuschte und
Massenvernichtungswaffen nicht nur versteckt hielt, sondern auch weiter
produzierte. Powell präsentierte ein abgehörtes Telefongespräch, in dem
angeblich ein irakischer Offizier einem anderen befahl, etwas
verschwinden zu lassen, bevor die Inspektoren kamen; auf
Satellitenaufnahmen sollten fahrbare biochemische Waffenlabore zu sehen
sein. Nach der US-Invasion und seinem Ausscheiden aus dem Amt bedauerte
Powell immerhin die dreisten Lügengeschichten, die er dem
UN-Sicherheitsrat aufgetischt hatte, um dessen Zustimmung zu Irak-Krieg
zu erwirken. Doch bis heute mußte sich keiner der damaligen
Verantwortlichen für die Schäden im Irak, für die Millionen Flüchtlinge,
Verkrüppelten, Kranken und Toten vor einem Kriegsgericht verantworten.
In Großbritannien werden derzeit die Umstände untersucht, die das Land
in den Krieg gegen den Irak geführt hatten. Die »Chilcot-Untersuchung«
soll sich mit der Rolle der damaligen Regierung befassen, insbesondere
der von Premierminister Anthony Blair. Im Vordergrund stehen dabei
allerdings nicht der geschädigte Irak und seine Einwohner, es geht
vielmehr darum, ob die Briten vor und während des Kriegseinsatzes im
Irak belogen wurden. Der Abschlußbericht wird für Juni 2010 erwartet.
Blair erklärte dieser Tage vor dem Chilcot-Ausschuß im Brustton der
Überzeugung, er habe »wirklich geglaubt«, daß der Irak
Massenvernichtungswaffen produziert. Auch wenn das Geheimdienstdossier,
in dem zu lesen war, daß diese Waffen innerhalb von 45 Minuten London
erreichen könnten, etwas übertrieben gewesen sein könnte, sei er bis
heute der Überzeugung, daß es richtig war, Saddam Hussein zu verjagen.
Er sei »ein Monster« gewesen, der nicht nur die Region, sondern »die
ganze Welt« bedroht habe, sagte Blair. Er sei der festen Überzeugung,
daß »die Welt heute sicherer ist«; ob mit oder ohne
Massenvernichtungswaffen, »ich würde es wieder tun«, so Blair.
Ganz anders als Blair äußerte sich am Dienstag die frühere Ministerin
für Internationale Entwicklung, Claire Short vor dem
Untersuchungsausschuß. Sie war im Mai 2003 aus Protest gegen das
Vorgehen im Irak von ihrem Posten zurückgetreten. Blair »und seine
Kumpel« hätten beschlossen, daß der Krieg sein müsse, und alles sei »auf
gut Glück« gemacht worden, sagte sie. Das Kabinett habe damals keine
Entscheidungen getroffen, sondern »alles abgenickt«. Auf
Generalstaatsanwalt Lord Goldsmith sei Druck ausgeübt worden, den
Einmarsch ins Zweistromland trotz fehlender UN-Resolution als rechtmäßig
abzusegnen, so Short. Im Januar 2003 habe Goldsmith den Krieg noch als
illegal bezeichnet, nach organisierten Gesprächen mit US-Abgeordneten
und dem britischen UN-Botschafter Sir Jeremy Greenstock aber sei er
»umgefallen«. Am 17. März 2003, drei Tage vor Beginn der Invasion, habe
Goldsmith juristisch grünes Licht gegeben. Die Behauptungen Blairs, nach
den Anschlägen in New York und Washington am 11. September 2001 seien
der Irak und Saddam Hussein gefährlicher geworden, bezeichnet Claire
Short als »historisch falsch«. Es habe keinerlei Beweis für größere
Gefahren gegeben, die Amerikaner seien über angebliche Beziehungen von
Saddam Hussein zu Al-Qaida getäuscht worden. »Jeder weiß, daß das nicht
stimmt. Er hatte absolut keine Beziehungen, keine Sympathie. Bis zur
Invasion gab es Al Qaida nicht mal in der Nähe des Irak.« Jetzt ist die
irakische Bevölkerung deren Terror ausgesetzt, zuletzt am Montag. Beim
Anschlag einer Selbstmörderin in Bagdad wurden 40 Menschen getötet, mehr
als 100 verletzt.
* Aus: junge Welt, 3. Februar 2010
Chilcot-Ausschuß: Kriegskritiker bleiben draußen
Beobachter der sogenannten Chilcot-Anhörung, der dritten Untersuchung in
Großbritannien über den Irak-Krieg, sind sich uneinig, ob etwas anderes
herauskommen kann, als ein Freispruch der Regierung. Die meisten
Sitzungen sind zwar öffentlich und werden live von der BBC übertragen,
zudem werden viele unterschiedliche Zeugen gehört und Informationen
zusammengetragen. Der Vorsitzende Sir John Chilcot hat zugesagt, nichts
zu verdecken und jeden zu kritisieren, dem es gebührt. Doch Kritiker
weisen darauf hin, daß dem Ausschuß kein Gegner des Irak-Krieges oder
andere regierungskritische Sektoren der britischen Gesellschaft
angehörten, nicht einmal Vertreter des Militärs seien einbezogen worden.
Alle fünf Mitglieder gehören vielmehr dem politischen Establishment an.
Als zentralen Fehler der Untersuchung bezeichnet Lindsey German von der
»Stop the war coalition« die Tatsache, daß es sich nicht um eine
strafrechtliche Untersuchung, sondern lediglich um eine »öffentliche
Anhörung« handelt. Der Meinung ist auch der irakische Anwalt Sabah
Al-Mukhtar von der Arabischen Anwaltsvereinigung, der zudem einen
Zusammenhang zwischen der Anhörung und den nächsten Wahlen in
Großbritannien herstellt.
Auf die Frage, wie viele Tote die Irak-Invasion gekostet habe, hatte der
damalige US-General Tommy Franks geantwortet: »Wir zählen keine Leichen«
(We don't do Body Count). Seit dem Beginn des Krieges am 20. März 2003
werten Friedensaktivisten und Wissenschaftler systematisch Medien- und
Augenzeugenberichte, Berichte von Militärs, Politikern und
Hilfsorganisationen aus und veröffentlichen ihre Ergebnisse auf der
Internetseite www.iraqbodycount.org. Die Zahl der zivilen Toten liegt
demnach bis heute zwischen 95158 und 103189. Das ist äußerst konservativ
geschätzt, sind doch »nur« diejenigen erfaßt, die in Nachrichten erwähnt
werden. Andere Schätzungen gehen von mittlerweile mehr als 1,5 Millionen
Toten infolge von Krieg, Sanktionen und Besatzung aus.
(kl)
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