Niederlagen des IS
Großstadt Hasak befreit und Verbindung nach Aleppo blockiert. Iran wirbt um Bündnis der syrischen Kurden mit Damaskus
Von Nick Brauns *
Im Norden Syriens konnten die mehrheitlich kurdischen Volks- und Frauenverteidigungskräfte YPG und YPJ in dieser Woche wichtige Erfolge im Kampf gegen die Dschihadistenmiliz »Islamischer Staat« (IS) erringen. Mit der Befreiung der 45 Kilometer südlich der Stadt Kobani am Ostufer des Euphrat gelegenen Stadt Sarrin gelang es den YPG und verbündeten Einheiten der »Freien Syrischen Armee«, unterstützt von Luftangriffen der US-geführten Anti-IS-Koalition zu Wochenbeginn, den letzten Militärstützpunkt des IS in der Region und die Verbindungsroute nach Aleppo zu erobern. Damit sei den Dschihadisten die Luft zum Atmen abgeschnitten, zeigte sich YPJ-Kommandantin Diljin Kobani am Dienstag gegenüber der Nachrichtenagentur Firat zuversichtlich, und dass sich der IS nicht mehr länger in den kurdischen Landesteilen halten können. Die YPG würden aber als Verteidigungskraft Syriens ihre Operationen bis zur Befreiung des Landes vom IS fortsetzten, kündigte YPG-Kommandant Merxas Botan an.
Auch aus der Großstadt Al-Hasaka im Nordosten Syriens konnte der IS durch YPG, assyrische und arabische Milizen und syrische Regierungstruppen vertrieben werden. Das meldeten am Mittwoch übereinstimmend die der syrischen Opposition nahestehende Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London und die YPG. Auch syrische Regierungsstellen hatten in den vergangenen Tagen entsprechende Erfolge aus Al-Hasaka verkündet. Die Regierungstruppen hatten sich vor rund einem Monat nach einem IS-Angriff auf die arabischen Stadtviertel in die Innenstadt zurückziehen müssen. Daraufhin gelang es den YPG, ausgehend von den von ihnen kontrollierten kurdischen Stadtteilen, das Gebiet rund um die Stadt einzunehmen, so dass die IS-Kämpfer schließlich zwischen YPG und Regierungssoldaten eingekesselt waren. Die YPG haben öffentlich jegliche Zusammenarbeit mit den Regierungstruppen zurückgewiesen. Dagegen erklärte ein Vertreter der syrischen Armee in der vergangenen Woche gegenüber der Agentur AFP, es habe eine Koordination gegeben. »Die Kurden wären ohne die Waffen, die wir ihnen gaben, nicht in der Lage gewesen, den IS einzukreisen«, so der Offizier.
Um eine solche Kooperation der YPG mit syrischen Regierungstruppen wirbt offenbar die iranische Regierung als Hauptunterstützer von Syriens Präsident Baschar Al-Assad. Das berichtet die mit Risikoberatung für die Wirtschaft tätige »Orient Advisory Group« (OAG) mit Sitz in Washington und Dubai in ihrem Rundbrief Middle-East-Briefing in dieser Woche. Vermittler seien Funktionäre der traditionell über gute Kontakte nach Teheran verfügenden Patriotischen Union Kurdistans (PUK) des irakischen Präsidenten Fuad Masum. Im Unterschied zur türkeinahen Politik der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) des Präsidenten der irakisch-kurdischen Autonomieregion Massud Barzani steht die PUK den Selbstverwaltungskantonen von Rojava wohlwollend gegenüber und leistet diesen wohl auch materielle Hilfe. Im Gegenzug für eine Kooperation mit syrischen Regierungskräften würde Damaskus die YPG ihren Möglichkeiten entsprechend unterstützten, lautete das nach unbestätigten OAG-Informationen bereits Ende Juni während eines Treffens im nordirakischen Suleimanija von der PUK übermittelte Angebot. Die syrische und die iranische Regierung sowie die PUK würden zudem eine autonome kurdische Region in einem zukünftigen Syrien anerkennen. Angesichts der äußerst begrenzten militärischen Kapazitäten der syrischen Armee im Norden des Landes wäre das die wohl wichtigere Zusage. Dafür, dass die Achse Teheran-Damaskus tatsächlich auf die YPG zugeht, sprechen auch die jüngsten Äußerungen des Generalsekretärs der an der Seite der syrischen Armee kämpfenden libanesischen Hisbollah, Hassan Nasrallah. »In der Absicht, den IS vor Schaden zu bewahren, hat die Türkei die Freiheitskämpfer sowohl der PKK als auch der DHKP-C angegriffen«, wird Nasrallah vom irakisch-kurdischen Nachrichtenportal Rudaw zitiert. Am Dienstag verurteilte der irakische Ministerpräsident Haider Al-Abadi über Twitter die Luftangriffe der Türkei auf die PKK als »eine gefährliche Eskalation und Verletzung der irakischen Souveränität«.
Während die USA als Gegenleistung für das Einschwenken der Türkei in die Anti-IS-Allianz ihre kurdischen Verbündeten in Syrien wieder fallen zu lassen scheinen, eröffnen diese geänderten geopolitischen Bedingungen neue taktische Bündnisoptionen. Ein strategisches Bündnis mit Teheran und Damaskus erscheint angesichts des von der in Rojava führenden Partei der Demokratischen Union (PYD) propagierten »dritten Weges« der multiethnischen und multireligiösen demokratischen Selbstverwaltung allerdings ebenso ausgeschlossen wie eine dauerhafte Allianz mit den USA.
* Aus: junge Welt, Donnerstag, 30. Juli 2015
PKK übt Vergeltung
Türkischer Präsident Erdogan will linke Opposition mundtot machen. Diese beantragt Immunitätsentzug für alle Abgeordneten
Von Nick Brauns **
Wenige Stunden nachdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den Friedensprozess mit den Kurden offiziell für beendet erklärt hatte, flog die türkische Luftwaffe in der Nacht zum Mittwoch erneut Luftangriffe auf Stellungen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Nordirak. Die Angriffe gegen sechs PKK-Camps seien die stärksten seit Beginn der Operationen Ende letzter Woche gewesen, erklärte ein Regierungsvertreter gegenüber der Tageszeitung Hürriyet Daily News. Auch in der an den Irak grenzenden türkischen Provinz Sirnak bombardierten Jagdflugzeuge mutmaßliche PKK-Kämpfer. Während die Guerilla bislang lediglich eine Handvoll Opfer meldete, behauptete die konservative Tageszeitung Haberturk am Mittwoch, es seien bereits 200 PKK-Kämpfer getötet worden. Diese Zahl erscheint nach Erfahrungen von früheren Luftangriffen auf PKK-Stellungen völlig unrealistisch. Denn die Guerillakämpfer werden durch Sympathisanten in Diyarbakir rechtzeitig vom Starten der F-16 informiert, so dass ihnen genug Zeit bleibt, um sich bis zum Eintreffen der Kampfflugzeuge im zerklüfteten Bergland im türkisch-irakisch-iranischen Grenzgebiet in Sicherheit zu bringen.
In Reaktion auf die Luft- und Artillerieangriffe kam es nach Angaben der Nachrichtenagentur Firat in den kurdischen Provinzen Diyarbakir, Hakkari und Van sowie in Izmir an der Ägäisküste zu Attacken mit Schusswaffen und Raketenwerfern auf Polizeistationen, Kasernen und Regierungsgebäude. In Malazgirt in der Provinz Mus erschossen PKK-Kämpfer am Montag den Kommandanten der dortigen Garnison. Es habe sich um eine Vergeltungsaktion für den Tod ihres Kommandanten Önder Aslan bei einem Luftangriff gehandelt, erklärte die Guerilla. Auch in Erzurum und Semdinli wurden zwei Soldaten auf offener Straße erschossen. Energieminister Taner Yildiz meldete am Mittwoch einen Anschlag auf die aus dem Nordirak kommenden Kirkuk-Ceyhan-Ölpipeline bei der Stadt Cizre. Davor hatten mutmaßliche PKK-Kämpfer bereits eine aus dem Iran kommende Gaspipeline in der Provinz Agri gesprengt.
Das türkische Parlament trat am Mittwoch nachmittag zu einer Sondersitzung in der Sommerpause zusammen, um über die Luftangriffe im Irak und in Syrien zu beraten. Zuvor hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan die Aufhebung der Immunität der Abgeordneten der linken, prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) beantragt, um diese aufgrund angeblicher Verbindungen zu »terroristischen Organisationen zur Rechenschaft zu ziehen«. Das einzige »Verbrechen« der HDP bestehe darin, bei den Parlamentswahlen vom 7. Juni 13 Prozent der Stimmen bekommen zu haben, konterte der HDP-Kovorsitzende Selahattin Demirtas diese Anschuldigungen. Am Mittwoch reichte die trotz Verlustes ihrer Mehrheit immer noch alleine regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) bereits einen Antrag auf Immunitätsentzug für Demirtas beim Justizministerium ein. Dieser habe sein Recht auf Meinungsäußerung überschritten, als er der AKP vor den Wahlen Vorbereitungen zur Wahlfälschung unterstellte, lautete der Vorwurf.
Hunderte HDP-Anhänger wurden zudem bei Mitte der Woche fortgesetzten landesweiten Razzien verhaftet – ebenso wie Mitglieder sozialistischer Organisationen. Als Reaktion auf die Versuche, ihre Partei angesichts der von Erdogan geforderten vorgezogenen Neuwahlen zum Schweigen zu bringen, beantragten die Vizefraktionsvorsitzenden der HDP, Pervin Buldan und Idris Baluken, am Mittwoch die Aufhebung der Immunität aller Abgeordneten der türkischen Nationalversammlung. Dann könnten die AKP-Abgeordneten für massive Korruption und Vetternwirtschaft, von der Polizei getötete Demonstranten beim Gezi-Park-Aufstand, Massaker an Kurden und Sozialisten in Roboski und Suruc sowie Waffenlieferungen an den »Islamischen Staat« (IS) zur Rechenschaft gezogen werden, erklärten die HDP-Politiker auf einer Pressekonferenz.
** Aus: junge Welt, Donnerstag, 30. Juli 2015
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