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Erdogans neuer IS

Ahrar Al-Sham: Ankara und Washington sind im Begriff, eine neue Terrortruppe zur Durchsetzung ihrer Interessen zu etablieren

Von Sevim Dagdelen *

In den letzten Monaten konnte der sogenannte Islamische Staat (IS) zwei Aufgaben, derentwegen er bisher vom türkischen AKP-Regime unterstützt worden war, immer weniger erfüllen: einerseits den Kampf zum Sturz des syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad, zum anderen die Zerschlagung der kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen im Norden Syriens. Schon seit Ende 2014 hatte die türkische Regierung daher auch zunehmend auf die Islamische Front gesetzt, die neben kleineren Einheiten der Muslimbrüder auch die Al-Qaida-Truppe Nusra-Front und als zweitstärkste Kraft Ahrar Al-Sham (übersetzt: Freie Männer Syriens) umfasst. Diese eroberten bereits im Frühjahr 2015 die syrische Provinz Idlib und drängten die syrischen Regierungstruppen immer weiter in Richtung der Großstadt Hama zurück.

Auf ihrem Sondertreffen am 28. Juli erklärten die NATO-Botschafter hingegen ihre »starke Solidarität« mit Ankara. Im Abschlussdokument findet sich zwar der Hinweis, dass Terrorismus »eine weltweite Bedrohung ist, die keine Grenzen, Nationalitäten oder Religion kennt« und von der internationalen Gemeinschaft gemeinsam bekämpft werden müsse. Zudem werden explizit der Anschlag von Suruc als auch andere gegen Polizei und Militäroffiziere gerichtete Attentate erwähnt. Insgesamt kann die Erklärung vor dem Hintergrund der zuvor bekanntgewordenen Pläne für eine Pufferzone im Norden Syriens jedoch nur als Einverständnis mit dem türkischen Vorgehen in Syrien, aber auch dem Irak gewertet werden.

Von den Plänen für die türkische Pufferzone in Syrien berichtet das Informationsportal Al-Monitor, dass diese einen Keil zwischen die kurdischen Selbstverwaltungskantone Afrin im Westen und Kobane weiter östlich treiben soll. Mit einer Länge von 100 und einer Tiefe von 40 Kilometern wäre sie fast zweimal so groß wie das Saarland. Die Kontrolle solle über türkische Artillerie- und Luftangriffe erreicht werden, hieß es weiter.

Ein Einmarsch türkischer Truppen sei indes nur vorgesehen, wenn die kurdische YPG sich von Kobane über den Euphrat gen Westen ausbreite und versuchen sollte, eine Verbindung nach Afrin herzustellen. Wenn keine eigenen Einheiten geschickt werden sollten, muss das Erdogan-Regime auf Al-Qaida und insbesondere die mit dem Terrornetzwerk verbündeten Ahrar-Al-Sham-Einheiten als Bodentruppen gegen die kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen zurückgreifen. Die kurdische Nachrichtenagentur Firat News berichtete bereits von Angriffen der Al-Nusra-Front auf den kurdischen Kanton Afrin. Allerdings ist die propagandistische Vermittelbarkeit von Al-Qaida gerade im Westen weiterhin höchst problematisch, da es sich um eine von Osama bin Laden eingeführte Terrormarke handelt und sich die Menschen in diesem Zusammenhang umgehend an Praktiken des Massenmords und der Massaker an Andersdenkenden erinnern.

Um hier gegenzusteuern, wird insbesondere die Terrortruppe Ahrar Al-Sham von der Türkei unterstützt. Zudem wurde im Vorfeld der Deklaration eine regelrechte PR-Kampagne in den USA, aber auch in Europa gestartet, um dem westlichen Publikum die Ahrar Al-Sham für eine »Adoption« schmackhaft zu machen. So erschien am 10. Juli dieses Jahres ein Kommentar des außenpolitischen Verantwortlichen der Ahrar Al-Sham, Labib Al-Nahhas, in der Washington Post, der unter der Überschrift »Die tödlichen Konsequenzen der Falschbenennung syrischer Revolutionäre« das Ziel verfolgt, den USA die Terrortruppe als gemäßigte Opposition anzudienen, da auch deren Mission zur Ausbildung »moderater Rebellen« nicht richtig vorankommt. Ahrar Al-Sham seien eine sunnitisch-islamische Gruppe, die von Syrern geführt und fälschlicherweise beschuldigt würde, organisatorische Verbindungen zur Al-Qaida zu haben, so Al-Nahhas. Vor dem Hintergrund der gemeinsamen Kampfeinheit mit der Al-Qaida in Syrien entbehrt diese Aussage natürlich nicht einer gewissen Komik. Umso erstaunlicher aber ist, dass eine regierungsnahe Zeitung in den USA, die sich im Besitz des US-Oligarchen Jeff Bezos (Amazon) befindet, ausgerechnet einem Vertreter einer Truppe ein Forum gibt, die noch im Herbst 2014 – neben Al-Qaida und dem IS – von den USA selbst in Syrien bombardiert worden war.

Auch in Europa, diesmal im britischen Telegraph, einer Zeitung die der konservativen Partei nahesteht und die sich redaktionell eng mit ihren oligarchischen Eigentümern, den Barclay-Brüdern, abstimmt, durfte Labib Al-Nahhas am 21. Juli 2015 exklusiv seine Ansichten verbreiten. Er versprach sogar, sich nach einem Sturz Assads für ein politisches System einzusetzen, in dem die Minderheiten geschützt würden. Die Gottesstaatsambitionen von Ahrar Al-Sham wurden hinter der Formulierung verborgen, ein System errichten zu wollen, in dem der Religion eine entscheidende Rolle im Hinblick auf Syriens Zukunft beigemessen werden solle. Der Westen dürfe nicht allein auf Bombardierungen setzen, sondern solle Ahrar Al-Sham vielmehr als legitime Kraft für einen Regime-Change in Syrien anerkennen.

Alles spricht dafür, dass die NATO mit ihrer Akzeptanz der türkischen Kontrollzone in Syrien auch Ahrar Al-Sham als Bodentruppe gegen die Kurden und für einen Sturz Assads zu akzeptieren bereit ist. Dann würde die mit Al-Qaida im gemeinsamen Kommando stehende Terrortruppe Ahrar Al-Sham den IS ablösen oder zumindest in seiner geopolitischen Stoßrichtung ergänzen.

* Aus: junge Welt, Samstag, 1. August 2015

Propaganda für den Terror

Aus der PR-Kampagne für Ahrar Al-Sham **

Labib Al-Nahhas, außenpolitischer Verantwortlicher der Ahrar Al-Sham, schrieb in der Washington Post vom 10. Juli 2015:

»Im Dezember konstatierte Außenminister John F. Kerry, dass ›die Syrer nicht nur zwischen einem Tyrannen und einem Terroristen zu wählen haben sollten‹. Es gebe, so Kerry, eine dritte Option: ›die moderate syrische Opposition, die jeden Tag zugleich Extremisten und (den syrischen Präsidenten Bashar Al-) Assad bekämpft‹. Unglücklicherweise geriet diese anerkennenswerte Sichtweise in Schwierigkeiten, weil die Vereinigten Staaten den Begriff »moderat« in einer so engen und willkürlichen Art und Weise definierten, dass er den Großteil der Mainstreamopposition ausschloss. (…) Wir wurden fälschlicherweise beschuldigt, organisatorische Verbindungen zur Al-Qaida zu haben und die Al-Qaida-Ideologie zu unterstützen. (…) Die Assad zur Last zu legenden Vergehen sollten ausreichen, um ihn als Option auszuschließen. Außerdem hat die Wirklichkeit des Krieges verdeutlicht, dass er am Ende ist. Die einzige verbliebene Frage ist, wer den Gnadenstoß versetzen wird: der Islamische Staat (IS) oder die syrische Opposition. Diese Frage sollte Washington dazu veranlassen einzuräumen, dass die extremistische Ideologie des Islamischen Staates nur durch eine einheimische sunnitische Alternative besiegt werden kann – mit dem Begriff »moderat« definiert nicht durch CIA-Mitarbeiter, sondern durch die Syrer selbst.

Trotz des enttäuschenden Mangels an einem eigenen Engagement der internationalen Gemeinschaft bleiben wir dem Dialog verpflichtet. Die Themen, die diskutiert werden müssen, lauten: wie Assads Herrschaft beendet werden kann, wie der Islamische Staat besiegt werden kann und wie abgesichert werden kann, dass eine stabile und repräsentative Regierung in Damaskus Syrien auf den Weg des Friedens, der Versöhnung und der wirtschaftlichen Erholung bringt und gleichzeitig ein Auseinanderfallen des Staates verhindert. Es ist nicht zu spät für die Vereinigten Staaten, den Kurs zu ändern. Kerrys ›dritte Option‹ existiert – aber nur, wenn Washington bereit ist, seine Augen zu öffnen und zu sehen.«

Labib Al-Nahhas, außenpolitischer Verantwortlicher der Ahrar Al-Sham schrieb im Telegraph vom 21. Juli 2015:

»In den letzten Tagen hat Premierminister David Cameron einen möglichen Wechsel der Regierungspolitik mit Blick auf eine bewaffnete Intervention in Syrien signalisiert. Er sagte, Großbritannien solle »vortreten und mehr tun« im Kampf gegen den IS im Irak und in Syrien. Das ist alles gut und schön. Ahrar Al-Sham hat seit Januar 2014 700 Kämpfer gegen den IS verloren, und wir und unsere Verbündeten halten eine 45 Kilometer lange Frontlinie gegen den IS in Aleppo. Aber Cameron sollte gewahr sein, dass ein weiteres Unterminieren sunnitisch-arabischer Interessen in der Region zugunsten des Iran und seiner Stellvertreter lediglich den IS stärken wird. Wir glauben, dass der IS nicht nur eine sicherheitspolitische und militärische Bedrohung, sondern auch ein soziales und ideologisches Phänomen ist, das auf mehreren Ebenen angegangen werden sollte und eine nationale sunnitische Alternative zugleich gegen Assad und den Islamischen Staat erfordert.«

[Übersetzung: Sevim Dagdelen]


Dokumentiert:

Die Bundesregierung zu Ahrar Al-Sham

Antwort von Michael Roth, Staatsminister für Europa, auf eine schriftliche Frage von Sevim Dagdelen, Bundestagsabgeordnete der Linksfraktion (8. Juli 2015)

Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung seit 2013 zu Menschenrechtsverletzungen der islamistischen Terrororganisation Ahrar Al-Sham bzw. »Islamistische Front« in Syrien inklusive aller Unterabteilungen bzw. Quellenorganisationen, die durch Waffenlieferungen des deutschen NATO-Partners Türkei unterstützt wird, in Syrien vor?

Der Bundesregierung liegen keine eigenen, belastbaren Erkenntnisse über Menschrechtsverletzungen des islamistischen Rebellenzusammenschlusses »Islamische Front« bzw. von »Ahrar Al-Sham« vor.

Eine umfassende Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen aller Gruppen im Syrien-Konflikt unternimmt die im Jahr 2011 vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen eingesetzte unabhängige internationale Untersuchungskommission über die Menschenrechtslage in Syrien (»Commission of Inquiry«, CoI). In ihren periodischen Berichten finden sich Angaben zu Menschenrechtsverletzungen, die Angehörigen der beiden o. g. Gruppierungen anzulasten sind. Die Berichterstattung der CoI kann eingesehen werden unter: http://www.ohchr.org/EN/HRBodies/HRC/IICISyria/Pages/IndependentInternat....

Daraus geht u. a. hervor, dass »Ahrar Al-Sham« und andere Gruppen der »Islamischen Front« wiederholt Zivilisten entführt und als Geiseln genommen haben sowie mutmaßliche »Kollaborateure« des Regimes ermordet haben. Kinder unter 18 Jahren werden von Gruppen der »Islamischen Front« rekrutiert, militärisch ausgebildet und u. a. in unterstützenden Tätigkeiten (z. B. als Wächter oder Späher) eingesetzt. Darüber hinaus sind Gruppen, die zur »Islamischen Front« gehören, an der Belagerung der beiden Ortschaften Nubul und Sahra in der Provinz Aleppo beteiligt.

Im übrigen wird verwiesen auf die Antwort zur Schriftlichen Frage 5/96 von Frau MdB Kunert vom 29. Mai 2015.




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