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NATO-Waffen für die Türkei

Bundesregierung will "Patriot"-Systeme bereitstellen. De Maizière rechnet mit Bundestagsmandat für Stationierung

Von Sebastian Carlens *

Der Stationierung von »Patriot«-Raketen an der türkischen Grenze zu Syrien steht offenbar nichts mehr im Wege. Der offizielle Antrag war bis Dienstag nachmittag zwar noch nicht bei der NATO eingetroffen. Die Gespräche mit den Verbündeten hätten aber die letzte Phase erreicht, sagte am Dienstag der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu.

Der Streit um eine deutsche Beteiligung an dem Einsatz hat sich unter dem Eindruck der offenbar erzielten Einigung zwischen Türkei und NATO verschärft. Die Opposition äußerte die Befürchtung, die Bundesrepublik könnte in den syrischen Bürgerkrieg verwickelt werden. SPD und Grüne monierten, die Flugabwehrraketen seien nicht geeignet, Mörserbeschuß abzuwehren. Das eigentliche Ziel sei offenbar die Errichtung einer Flugverbotszone über Syrien. Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) wies dies zurück. Dennoch gehe er davon aus, daß der Einsatz deutscher »Patriot«-Systeme möglicherweise nur mit einem Bundestagsmandat zustande kommen könne, sagte de Maizière am Dienstag vor der Handelsblatt-Konferenz »Sicherheitspolitik und Verteidigungsindustrie« in Berlin. Der Türkei bescheinigte der Minister eine »besonnene Politik«; die geplante Stationierung von Luftabwehrsystemen beweise geradewegs, daß es »um eine vorsorgliche, defensive Maßnahme handelt«. Einen Antrag der Türkei werde die NATO »bündnissolidarisch prüfen«. De Maizière kündigte an, daß es im Dezember eine Entscheidung über die Stationierung geben könne.

Der verteidigungspolitische Sprecher der Linksfraktion, Paul Schäfer, sprach angesichts der Absprache zwischen NATO und Türkei von einem »unverantwortlichen Schritt in die Eskalation«. Die Linken-Abgeordneten Sevim Dagdelen sagte, die Türkei biete bewaffneten syrischen Oppositionsgruppen ein Rückzugsgebiet und sei im Konflikt mit Syrien »eher Aggressor als Ziel des Angriffs«.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 21. November 2012


Krieg als Staatsräson

Deutsche Raketen in die Türkei

Von Arnold Schölzel **


Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen in Syrien führt die Türkei zusammen mit dem Emirat Katar und dem Königreich Saudi-Arabien im Nachbarland einen verdeckten Krieg. Sie ist Aggressor.

Das Land mit der zweitgrößten NATO-Armee drängt gemeinsam mit zahlreichen bewaffneten Gruppen in Syrien seit langem darauf, aus dem verdeckten einen offenen Krieg werden zu lassen. Der syrische Konflikt, der in erster Linie ein Feldzug gegen den säkularen Staat ist, wird zum Katalysator der sich herausbildenden Koalition von reaktionären, sunnitisch geprägten Regimen und dem Westen.

In dieses »kreative Chaos«, das die damalige US-Außenministerin Condoleezza Rice für die »Umgestaltung« des Nahen und Mittleren Ostens vor einigen Jahren propagierte, will die Bundesregierung Soldaten und »Patriot«-Raketen entsenden. Das bedeutet nicht nur Eskalation, es handelt sich auch um eine neue Stufe bei der Kriegsverwendung der Bundeswehr. Was Anfang der 90er Jahre nach dem Ende von DDR und Sowjetunion langsam mit der Entsendung von Sanitätssoldaten begann, erfuhr seinen entscheidenden Schub durch den Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999. Der damalige offene Bruch von Völkerrecht und Grundgesetz wurde mühsam kaschiert durch die nachträgliche »Entwicklung des Völkerrechts« hin zur internationalen »Schutzverantwortung« bei innerstaatlichen bewaffneten Auseinandersetzungen. Die Grünen, seinerzeit die Kriegs- und Hetzpartei schlechthin, haben sich auf ihrem Parteitag soeben wieder zu dieser Negation des internationalen Rechts bekannt. Was an Kriegen nach 1999 kam – Afghanistan, Kongo, Somalia, Sudan, Libanon – fand unter Berufung auf den Bündnisfall der NATO und die UN-Charta statt, die man mit ihren Kernbestimmungen über Souveränität gerade zu den Akten gelegt hatte.

Der deutsche Kriegsminister erklärt nun die Bereitschaft, zur Entsendung der Raketeneinheit noch bevor die Türkei formal den Antrag bei der NATO gestellt hat. Es kann nicht schnell genug gehen. Oder anders gesagt: Warteten de Maizières Vorgänger in den letzten 22 Jahren noch so lange, bis der Feldzug offiziell begonnen hatte und gaben als Kriegsziel Frieden an, setzen Merkel und de Maizière nun die Truppe ein, damit der offene Krieg beginnen kann. Einen anderen militärischen Sinn ergibt die geplante Stationierung in der Nähe der syrischen Grenze nicht. So sieht das auch Ankara. Der deutsche Drang zur Fusion von Außenpolitik und Krieg ist so stark, daß die vorauseilende Bereitschaft gegenüber einer türkischen Regierung demonstriert wird, deren Chef am Dienstag Israel als »terroristischen Staat« bezeichnete und dessen Politik in Palästina als »ethnische Säuberung«. Das steht der deutschen Staatsräson bedingungsloser Unterstützung Tel Avivs zwar entgegen, aber der Widerspruch löst sich auf: Krieg statt Politik ist wieder oberster deutscher Grundsatz.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 21. November 2012 (Kommentar)


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