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Patriot-Soldaten fehlt das ABC

Was die Bundeswehr beim Schaulaufen der Türkei-Einsatztruppe nicht gesagt hat

Von René Heilig *

Auf einem ehemaligen NVA-Feldflugplatz, der jetzt Übungsfeld des Patriot-Raketengeschwaders ist, mussten gestern Bedienungsmannschaften ein Medienschaulaufen veranstalten. Anfang Januar sollen die Bundeswehrsoldaten in die Türkei verschifft werden.

Bedroht Syrien die Türkei? Möglicherweise sogar mit Scud-Raketen, die einen chemischen Sprengkopf tragen? Müssen deshalb dort Patriot-Flugabwehrraketen stationiert werden? Absurd, der Diktator in Damaskus kann kein Interesse haben, den militärisch überlegenen NATO-Staat Türkei anzugreifen. Das wäre Assads unmittelbarer politischer Selbstmord. Die Türkei dagegen ist seit langem Partei im syrischen Bürgerkrieg. Die Aufständischen haben dort einen Rückzugsraum, hier werden Operationen geplant - auch die einer Puffer- oder Flugverbotszone, die aus Richtung Israel und Jordanien erweitert werden könnte.

Es gab vor einem Jahr bereits Gerüchte, Jordanien könnte überzählige deutsche Patriot-Systeme übernehmen. Sicher ist, dass Generalmajor Atef Tell, Berater seiner königlichen Hoheit Prinz Faisal Bin Al Hussein, und Brigadier Mohammad Alharafsheh von der Jordanischen Air Force sich die Waffen bereits im Februar von der Flugabwehrraketengruppe 23 in Oberbayern vorführen ließen.

Die Raketen in Jordanien sind so wie die jetzt in der Türkei aufzustellenden perspektivisch als Bestandteil eines Abwehrgürtels um Iran gedacht, doch aktuell würden sie natürlich auch im Syrienkonflikt nutzbar sein.

Syrien verfügt vermutlich über 250 Scud-B- und über 50 Scud-C-Raketen. Und über mindestens zwei Chemiewaffenzentren, die mit deutscher Dual-Use-Technik errichtet worden sein sollen. Ob es allerdings sinnvoll ist, anfliegende C-Waffen abzuschießen, ist fraglich. Experten aus Israel haben im Golfkrieg ein derartiges Szenario durchgespielt und waren erschrocken, denn: Das erfolgreiche Abfangen und damit möglicherweise von Gift würde zu schweren Verlusten vor allem unter der ungeschützten Zivilbevölkerung führen.

Obwohl man die Stationierung der deutschen Patriots sowie die der Staffeln aus den USA und den Niederlanden eben mit der Gefahr eines Chemiewaffenangriffs durch Assad begründete, informiert man darüber nicht. Denn sonst wäre nach Schutzmöglichkeiten für die deutschen Raketensoldaten gefragt worden. Relativen Schutz könnten die Spezialisten des ABC-Abwehrregiments 750 »Baden« aus Bruchsal bieten. Könnten. Doch die Einheit ist im zweiten Halbjahr 2012 wiederum Leitverband für das sogenannte ORF-Bataillon in Kosovo. Eine Kompanie wird durch die leichte ABC-Abwehrkompanie aus Sonthofen gestellt, eine weitere vom ABC-Abwehrbataillon aus Höxter. Dort fahren sie Streife oder versuchen, aufsässige serbische Enklavenbewohner in Schach zu halten. Kompliziert wird die Entsendung auch für das demnächst einzig verbliebene Patriot-Geschwader. Neben einer Umstrukturierung müssen die Einheiten in Sanitz und Bad Sülze (beide in Mecklenburg-Vorpommern) Soldaten für den Einsatz in Afghanistan stellen.

Unsicher sind auch die Kosten des Türkei-Einsatzes. Während das deutsche Verteidigungsministerium 25 Millionen Euro einplant, veranschlagen die Niederländer 42 Millionen Euro und sind damit sicher näher an der Wahrheit dran.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 19. Dezember 2012


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