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"Mitgliedschaft in der NATO bedeutet, dass wir Hilfe leisten werden" / "Keine deutschen Soldaten und "Patriot-Luftabwehrsysteme" in die Türkei"

Bundestagsabgeordnete antworten auf einen Brief Aachener Friedensinitiativen: Zwei Mal Ja, einmal Nein zum Bundesewehreinsatz


Aachener Friedens- und Antikriegsgruppen haben die Aachener Bundestagsabgeordneten (Rudolf Henke (CDU-Stadt), Ulla Schmidt (SPD-Stadt), Petra Müller (FDP-Stadt), Andrej Hunko (Linke-Stadt), Helmut Brandt (CDU-Kreis) und Bettina Herlitzius (Grüne-Kreis) zu Stellungnahmen aufgefordert, wie sie sich zur Stationierung der Patriot-Raketen in der Türkei verhalten. Am 12. und 14. Dezember wird dieses Thema den Bundestag beschäftigten.

Wir dokumentieren im Folgenden den Brief an die Abgeordneten sowie die Stellungnahmen von Nicht reagiert haben die Abgeordenten der CDU und FDP.



Brief an die Bundestagabgeordneten der Region Aachen vom 28.11.2012

Sehr geehrte(r) Frau /Herr Abgeordnete(r)

am 14.12. 2012 wird der Deutsche Bundestag voraussichtlich über eine Beteiligung der Bundeswehr an der Stationierung von Raketensystemen des Typs Patriots zusammen mit deutschen Bedienungsmannschaften an der türkischen Grenze zu Syrien befinden.

Minister de Maiziere hatte dabei bereits vor einem Ersuchen der Türkei im Rahmen der NATO eine Zustimmung der Bundesregierung zur Entsendung von deutschen Waffen und Soldaten signalisiert.

59% der deutschen Bevölkerung lehnt nach einer Umfrage (INFRATEST-DIMAP am 20/21.11. 2012) einen derartigen Einsatz ab. Die Mehrheit der Bundesbürger fürchtet, dass dadurch in der Region die Kriegsgefahr unter deutscher Beteiligung wächst.

Wir, Friedens- und Antikriegsgruppen aus der Regionen Aachen, sehen in dem geplanten Einsatz die mögliche Vorbereitung für eine „Flugverbotszone“ über einem Teil Syriens und damit eine direkte militärische Einmischung in den syrischen Bürgerkrieg mit der Gefahr einer weiteren Ausweitung, da im Kriegsfall Bündnisverpflichtungen zwischen Syrien und dem Iran bestehen.

Die Patriot-Raketensysteme mit einer Reichweite von bis zu 160 Kilometern eignen sich zum Abschuss syrischer Flugzeuge über syrischem Hoheitsgebiet, nicht jedoch zur Abwehr von Mörsergranatenbeschuss, wie er bisher mehrfach an der türkisch-syrischen Grenze vorgefallen ist. Es handelte sich bei diesen Zwischenfällen ausschließlich um Kämpfe zwischen syrischer Armee und Rebellen und im keinen Fall um gezielte Attacken der syrischen Streitkräfte gegen türkische Ziele. Eher liegt nahe, dass Rebellengruppen über solche provozierten Zwischenfälle eine NATO-Unterstützung wie im Falle Libyens erzwingen wollen.

Die türkische Regierung unterstürzt seit Monaten in vielfältiger Weise diese bewaffneten Rebellen, bietet ihnen Aufmarsch- und Rückzugsgebiete und will offensichtlich die Entstehung eines kurdischen Autonomiegebiets in Syrien ähnlich dem in Nordirak verhindern. Am 4. Oktober 2012 hat das türkische Parlament die Regierung Erdogan zum einjährigen Einsatz der türkischen Streitkräfte im Ausland ermächtigt, deren Rahmen, Zahl und Zeit von der Regierung festgelegt werden soll. Die Bundesregierung beruft sich auf „Bündnissolidarität“ im Rahmen der NATO.

Es liegt aber kein „bewaffneter Angriff“ auf ein oder mehrere Mitgliedsländer der NATO nach Artikel 5 des NATO-Vertrags vor noch ist er zu erwarten.

Der Artikel 4, auf den sich die türkische Regierung nunmehr bezieht, sieht Konsultationen unter den NATO-Mitgliedern vor „wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist." Verpflichtungen, wie sie von Frau Merkel, den Herrn de Maiziere und Westerwelle derzeit beschworen werden, ergeben sich daraus nicht. Zudem wurde nicht einmal das Ergebnis dieser Konsultationen abgewartet.

Wir wenden uns an Sie als Abgeordnete des Deutschen Bundestages aus der Regionen Aachen und fragen Sie nach Ihrem Standpunkt zur Entsendung von Bundeswehreinheiten mit Patriot-Raketensystemen in die Türkei und wie Sie abstimmen werden.

Wir werden am 6.12.2012 um 15.00 im Cafe des Welthauses in Aachen an der Schanz 1 eine Pressekonferenz durchführen, wo wir unsere und Ihre Stellungnahmen der Öffentlichkeit darstellen wollen und bei der Sie gerne auch persönlich Ihren Wählern Ihren Standpunkt darlegen können.Insbesondere bitten wir Sie um Stellungnahme zu den Fragen:
  • inwieweit sich Ihr Abstimmungsverhalten mit dem Willen der Mehrheit Ihrer Wähler deckt
  • ob es von Ihrer Seite Vorschläge oder Initiativen gibt, eine friedliche Lösung dieses Nahost-Konfliktes zu fördern und die Gefahr eines offenen Krieges in der Region mit deutscher Beteiligung zu verhindern.
Aachen, 28.11.2012
Für die Gruppen:
Arbeitskreis Antimilitarisierung im Aachener Friedenspreis: Gerhard Diefenbach, Aachen
Würselener Initiative für den Frieden: Helene und Dr. Ansgar Klein, Würselen
pax christi Gruppe Aachen: Mechthild Kappetein, Aachen
Attac Gruppe Aachen: Klaus-Peter Schleisiek,Aachen
Anti-Kriegs-Bündnis Aachen: Dr. Irmgard Gollwitzer, Aachen
VVN-BdA Kreisverband Aachen: Detlef Peikert, Aachen



Stellungnahme Andrej Hunko, die Linke

6.12.2012

Keine deutschen Soldaten und "Patriot-Luftabwehrsysteme" in die Türkei

  1. Die geplante Stationierung deutscher „Patriot-Luftabwehrraketensysteme“ und von Awacs-Überwachungsflugzeugen mit insgesamt 400 Bundeswehrsoldaten an der türkisch-syrischen Grenze trägt zur weiteren Eskalation des syrisch-türkischen Konfliktes bei. Deutschland würde noch mehr zu einer Konfliktpartei in einem Konflikt, der weit über das türkisch-syrische Grenzgebiet hinaus den gesamten Nahen und Mittleren Osten betrifft. Für eine diplomatische Vermittlung zur friedlichen Beendigung des innersyrischen Konflikts wäre die Bundesregierung damit zusätzlich diskreditiert. Zudem erhöht sich das Risiko, dass deutsche Soldaten bei einer weiteren Eskalation direkt in einen regionalen Nahostkrieg hineingezogen werden.
  2. Eine Bedrohung der Türkei, wie jetzt als Begründung für die Stationierung von Patriot-Raketen angeführt, existiert nicht. Eine Pflicht zum militärischen Beistand besteht demnach selbst im Sinne des NATO-Vertrages nicht. Weder hat die syrische Regierung der Türkei mit einem Angriff gedroht, noch gab und gibt es solche Angriffe oder Vorbereitungen für solche Angriffe. Der bisherige grenzüberschreitende Beschuss mit Mörsern und Granaten durch syrische Artillerie, bei dem auch Zivilistinnen und Zivilisten getötet wurden, wurde selbst von der türkischen Regierung als nicht vorsätzlich und nicht gegen die Türkei gerichtet bewertet. Die syrische Regierung hat sich für die Vorkommnisse offiziell entschuldigt. Die zu beklagenden Übergriffe könnten durch Patriot-Raketen ohnehin nicht abgewehrt werden - deren Stationierung ist daher sinnlos.
  3. Die türkische Regierung verfolgt in der Region eigene Machtinteressen und setzt auf eine Eskalation des Konfliktes, für die sie sich jetzt den Beistand der NATO sichern möchte. Berichte über die Gewährung von Rückzugsräumen und die militärische Ausbildung von bewaffneten syrischen Rebellen konnte die türkische Regierung ebenso wenig glaubhaft entkräften wie den Vorwurf illegaler Waffenlieferungen. Auf diese Weise trägt die türkische Regierung zur weiteren Militarisierung des innersyrischen Konfliktes bei und erschwert damit die Verhandlungen über notwendige diplomatischer Kompromisse.
  4. Bereits am 4. Oktober 2012 genehmigte das türkische Parlament eine militärische Intervention in Syrien. Sollte die türkische Regierung diesen Beschluss zur Grundlage machen, um in Syrien militärisch zu intervenieren, so wäre dies ein eindeutiger Bruch des Gewaltverbotes der UNO-Charta (Art. 2) und des NATO-Statuts (Art. 1). Bereits mehrfach hat die Türkei eine Schutzzone für Flüchtlinge, die faktisch auch eine Flugverbotszone wäre, entlang der türkisch-syrischen Grenze gefordert. Eine solche Schutz- und Flugverbotszone ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates wäre völkerrechtswidrig und würde zu einer weiteren Gewaltverschärfung und damit zu noch mehr Leid in der syrischen Bevölkerung führen. Die Stationierung der Patriot-Systeme wirkt in diesem Zusammenhang nicht deeskalierend, wie behauptet, sondern konfliktverschärfend.
Ich werde deshalb gegen den Antrag der Bundesregierung stimmen.


Stellungnahme Büro Bettina Herlitzius 3.12.2012

Sehr geehrte Frau Gollwitzer,

Frau Herlitzius hat mich gebeten auf Ihre Mail zu antworten. Bitte beachten Sie, dass wir auch Ihren Brief bekommen haben, aber der Umwelt zu Liebe per Mail darauf antworten.

Zunächst bedanken wir uns für Ihr Engagement, sowie das Engagement aller Mitglieder Ihres Aktionsbündnisses um sich für den Frieden und gegen Krieg einzusetzen. Es ist schön in einer Stadt zu leben, in der die Friedensbewegung so tief verwurzelt ist.

Nun zum Thema. Die Entsendung der MIM 104 Patriot Systeme in die Türkei auf Basis des Artikel 4 der NATO ist ein sehr schwieriges Thema, da es viele Dinge zu beachten gibt. Zunächst ist das Patriot System generell ein passives System, dass vor Mittel- und Langstreckenraketen, Flugzeugen, Helikoptern und ballistischen Flugmarschkörpern schützen soll.

Dass diese fünf Meter langen Raketen aber nicht vor Mörser- und Granatenbeschuss schützen, steht außer Frage.

Dieser Beschuss kam von der syrischen Seite, ob von Rebellen oder Regimetreuen ist fraglich. Dass es sich aber nicht mehr über bloße Querschläger handelt, zumindest nicht in letzter Zeit, darüber sind sich die Experten mittlerweile einig.

Sollten die Angriffe gezielt von Assads Seite kommen, dann sind die Türkischen Sicherheitsbedenken gerechtfertigt, verfügt Assads Armee schließlich über Flugzeuge, Helikopter, Mittel- und Langstreckenraketen, ballistische Flugmarschkörper und chemische Sprengköpfe. Dass er sie allerdings noch nicht gegen die Türkei genutzt hat, beweist, dass Assad keinen internationalen Konflikt will. Allerdings, und auch hier sind sich die Experten einig, ist anzunehmen, dass Assad mit dem zunehmenden Ende seiner Herrschaft immer unberechenbarer wird. Das könnte eine wahre Gefahr für die Türkische Zivilbevölkerung bürgen.

Nichtsdestotrotz lehnt Frau Herlitzius den generellen Einsatz ab, da er unverhältnismäßig ist.

Da aber die breite Masse des Bundestags dem Einsatz zustimmen wird (CDU, FDP und SPD) liegt es an uns, Kompromisse heraus zu arbeiten, die eine friedliche Lösung sichern.

Forderungen sind: Die Stationierung der Patriots in einem Abstand zur syrischen Grenze, die die Errichtung einer kalten Flugverbotszone unmöglich macht. Trotzdem sollen türkische Städte vor möglichen Großangriffen Assads geschützt sein.

Das Oberkommando MUSS bei der NATO liegen. Wenn türkische Generäle das Oberkommando über die NATO Truppen hätten, ist mit einem Angriff auf Syrien, zumindest aber mit der Errichtung einer kalten Flugverbotszone zu rechnen.

Deutschland muss unbedingt aus allen Konflikten herausgehalten werden und die Patriot Systeme dürfen nur passiv eingesetzt werden.

Wenn diese Forderungen erfüllt sind, leistet Deutschland einen Beitrag zum Schutz der türkischen Zivilbevölkerung und erfüllt seine Vertragspflicht bei der NATO. Nur unter diesen Umständen kann sich Frau Herlitzius eine Zustimmung zum Bundeswehrmandat vorstellen.

Wir werden in der Fraktion und Bettina wird als Abgeordnete alles dafür tun, diese Forderungen einzubringen.

Die erste Lesung des Mandats findet am Mittwoch, den 12.12. statt. Am Freitag, den 14.12 wird voraussichtlich die Abstimmung sein. Wie das Mandat aussieht, und somit wie sich Frau Herlitzius entscheiden wird, können wir bis Mittwoch nicht sagen, Sie aber sofort informieren.

Da Frau Herlitzius zu dem angegebenen Termin bereits zwei wichtige Termine in Düsseldorf hat, ist ihre Teilnahme unwahrscheinlich. Sollte sie sich aber dafür entscheiden, bei der Pressekonferenz teil zu nehmen, werde ich es Sie wissen lassen.

Mit freundliche Grüßen
Niklas Nienaß


Stellungnahme Ulla Schmidt, SPD

6.12.2012

Sehr geehrte Frau Dr. Gollwitzer,
sehr geehrte Damen und Herren,

vielen Dank für Ihre E-Mail vom 28. November 2012. Die Sorge bzw. Skepsis, die in Ihrer E-Mail zum Ausdruck kommt, kann ich verstehen. Sie befürchten, dass die Bundeswehr in der Türkei in eine direkte Auseinandersetzung mit Syrien, sprich in einen Bürgerkrieg hineingezogen wird.

Ich kann Ihnen versichern, dass die SPD niemals unbedacht einem Einsatz zustimmen wird. Das Mandat für die Entsendung der PATRIOT-Systeme wird vermutlich Anfang Dezember vorliegen. Es wird dann von uns sorgfältig geprüft und mit Sachverstand beurteilt werden. Wir Parlamentarier können nur einem Einsatz zustimmen, den wir vollständig verantworten können. Die NATO wird zudem peinlich genau darauf achten, dass ihre Stäbe darüber bestimmen, ob und wann die Abwehrwaffen überhaupt zum Einsatz kommen. Die Befehlsgewalt liegt bei der NATO: Es ist ein NATO-Einsatz und wird dementsprechend auch von der NATO geführt. Die Äußerungen von türkischer Seite sind ausnahmslos innenpolitisch motiviert, damit dort nur ja nicht der Eindruck von Fremdbestimmtheit aufkommt.

Deutschland ist Mitglied in der NATO und in der EU. Diese Mitgliedschaften bedeuten, dass wir Hilfe leisten werden, wenn sich einer der anderen Mitgliedsstaaten bedroht fühlt. Diese Verpflichtung ist das Herzstück des NATO-Vertrages. In der Vergangenheit hat Westdeutschland durch diesen Schutz jahrelang profitiert.

Die türkische Regierung hat am 21. November 2012 in einem Schreiben an die NATO, der auch Deutschland als NATO-Mitglied vorliegt, um Unterstützung zum Schutz der türkischen Bevölkerung und des türkischen Territoriums gebeten. Durch den Bürgerkrieg in Syrien sind auch Granaten und Raketen auf türkischem Grenzgebiet eingeschlagen. Die Türkei befürchtet deshalb weitere Einschläge und damit verbunden weitere Tote und Verletzte. Unbegründet sind diese Befürchtungen nicht, im Juni wurde ein türkisches Flugzeug von syrischen Kräften abgeschossen. Wenn die Türkei als unser Partner in der NATO den Eindruck hat, seine Bevölkerung besser als bisher schützen zu müssen, werden wir diesem Ersuchen selbstverständlich nachkommen.

PATRIOT-Systeme sind Waffensysteme ausschließlich zur Verteidigung. Sie sind in der Lage, Raketen und Flugzeugen in der Luft abzufangen und zu zerstören. Die Türkei hat in Ihrem Schreiben ausdrücklich den defensiven Charakter dieser Mission betont und zugesichert, keinesfalls eine Flugverbotszone durchsetzen zu wollen. Die Bundesregierung hat signalisiert, dass sie diese NATO-geführte Mission unterstützen wird. Ich sehe keinen Grund, warum wir als SPD uns der Zustimmung verweigern sollten. Die PATRIOTs können nur zur Verteidigung eingesetzt werden, d. h. zum Schutz der eigenen Bevölkerung. Alles andere hat die Türkei ausgeschlossen und das wird auch so im Mandat des Deutschen Bundestags zum Ausdruck kommen.

Mit freundlichen Grüßen
Ulla Schmidt


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