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Das kleinere Übel

Syrien: Assads Wiederwahl am 3. Juni scheint ungefährdet

Von Gerrit Hoekman *

Am 3. Juni wählt Syrien einen Präsidenten für die nächsten sieben Jahre. Die Wahl wird für die Syrer zu einer völlig neuen Erfahrung. Zum ersten Mal in der Ära der Assads, die 1971 mit einem Militärputsch begann, werden sie mehr als einen Namen auf dem Stimmzettel finden. Neben Amtsinhaber Baschar Al-Assad bewerben sich zwei weitere Kandidaten um den höchsten Posten im Staat.

Der eine ist der Damaszener Fabrikant Hassan Al-Nuri, der mit Schuh­putzutensilien viel Geld verdient hat; der zweite ist Maher Hadschar aus Aleppo, der schwer umkämpften Metropole im Norden. Hadschar ist einer von fünf Abgeordneten im syrischen Parlament, die nicht zur Nationalen Fortschrittsfront gehören, jener Einheitsliste, die von der herrschenden Baath-Partei angeführt wird.

Hadschar ist seit 30 Jahren in der stark zersplitterten kommunistischen Bewegung in Syrien aktiv. Seine »Partei des Volkswillens« gehört zum gemäßigten und vom Assad-Regime tolerierten Oppositionsbündnis »Volksfront für Wandel und Befreiung«. Seit seiner Kandidatur scheint Hadschar aber die Partei und auch das Bündnis verlassen zu haben. In einer Erklärung auf der arabischen Homepage stellte die Parteiführung vor vier Wochen jedenfalls fest: »Maher Hadschar ist kein Mitglied, und seine Kandidatur wird von uns nicht unterstützt. Er agiert auf eigene Rechnung.«

Ursprünglich wollten mehr als 20 Bewerber Baschar Al-Assad herausfordern, doch bis auf Hadschar und Hassan Al-Nuri konnte offenbar niemand von ihnen die Bedingungen erfüllen, die das neue Wahlgesetz vorschreibt: Wer kandidieren will, muß die schriftliche Unterstützung von mindestens 35 Abgeordneten vorlegen und wenigstens zehn Jahre in Syrien gelebt haben.

Seitdem Hadschar für das Präsidentenamt kandidiert, wird er im Internet von unversöhnlichen Regimegegnern angegriffen und in Karikaturen verspottet. Durch seine Kandidatur würde die Wahl den Anschein von Demokratie bekommen. Er sei ein Herausforderer von Assads Gnaden, ein Werkzeug, mit dem sich der Machthaber sieben weitere Jahre Herrschaft zusammenbastele. Notfalls werde das Regime beim Ergebnis schon nachhelfen. Eine echte Chance hätten die beiden Gegenkandidaten nicht. Im Machtbereich der Rebellen wird es deshalb keine Abstimmung am 3. Juni geben. Das betrifft rund ein Drittel der Wahlberechtigten. Auch die vielen Hunderttausend, die vor dem Krieg aus Syrien geflohen sind, werden vermutlich nicht wählen gehen, obwohl es am 28. Mai die Möglichkeit gibt, in den syrischen Botschaften seine Stimme abzugeben.

Neutrale Beobachter glauben indes, daß Assad im Moment keine Wahlfälschung nötig hat, um zu siegen. In den letzten Monaten hat er es verstanden, sich als Schutzpatron der religiösen und ethnischen Minderheiten zu präsentieren und als Garant für ein weltoffenes Syrien, in dem Frauen unverschleiert auf die Straße gehen dürfen.

»Die syrische Armee gewinnt alle Schlachten«, titelte vor kurzem die große ägyptische Tageszeitung Al-Ahram. Die gesamte Grenze zum Libanon ist wieder unter Kontrolle der Regierung. Damit ist die wichtigste Nachschubroute der Rebellen im Süden des Landes unterbrochen. Auch aus den Großstädten Hama und Homs, in denen der bewaffnete Aufstand gegen das Regime vor drei Jahren begann, mußten die Aufständischen inzwischen abziehen. In Damaskus sind die Rebellen in ihren Stadtteilen seit Monaten eingekesselt, leiden an Hunger, Munitionsmangel und sinkender Moral.

Das Resultat: Die Regierung verfügt kurz vor der Präsidentschaftswahl über ein zusammenhängendes Territorium, das vom Süden über Damaskus und Homs bis ans nördliche Mittelmeer nach Lattakia reicht und mehr als die Hälfte des Landes ausmacht. Die Entwicklung kommt nicht überraschend. »Im Moment scheint es fast, als ob Assad den moralischen Kampf gewinnt«, orakelte schon vor einem Jahr der ehemalige Chef des Bundesnachrichtendienstes, August Hanning bei Focus online. »Die Mehrheit der Syrer kann mit dem radikalen Islam nichts anfangen. Sie wollen kein Kalifat.« Viele werden deshalb am 3. Juni auch ohne Druck Assad ihre Stimme geben – als das im Moment kleinere Übel.

* Aus: junge Welt, Montag, 26. Mai 2014


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