Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Deutschland muss aufhören, Krieg zu schüren"

Kurdische Volksverteidigungseinheiten fordern Bundesregierung auf, humanitäre Hilfe zu leisten – und die USA, ihre Luftschläge gegen den IS zu verstärken. Gespräch mit Mako Qocgiri *




Seit 20 Tagen greift die Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) die demokratische kurdische Selbstverwaltung der Stadt Kobani an. Wie ist die Lage?

Bisher haben die IS-Krieger es nicht nach Kobani hinein geschafft; Kämpfe gibt es aber an drei Fronten unmittelbar vor der Stadt, im Süden, Westen und Osten. Sollte der IS-Terrormiliz der Durchbruch gelingen, haben die Volksverteidigungseinheiten (YPG) und Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) sich auf Straßenkämpfe vorbereitet. Auch in der Nacht zu Samstag ist es zu harten Kämpfen gekommen; mit Toten auf beiden Seiten. Der IS hat mit Raketen auf das Zentrum gezielt und Zivilisten getötet. Bis zu 30.000 Menschen sind aus der Region über die Grenze in die Türkei geflohen – in der internationalen Presse hieß es, es seien angeblich mehr als 140.000. Laut der FAZ wurde die Zahl ungeprüft von der türkischen Regierung übernommen. Letztere meldet überhöhte Zahlen, um Panik zu schüren. Dahinter steckt der Plan, ihr unliebsame autonome Kurdengebiete in Nordsyrien zu menschenleeren Pufferzonen an der Grenze zur Türkei zu erklären. Zudem tauchen dort täglich Meldungen auf, der IS sei bereits in der Stadt: eine Medienkampagne, um die Bevölkerung zur Flucht zu animieren. Vor Ausbrechen des Bürgerkriegs hatte Kobani bis zu 300.000 Einwohner, mit den danach in die Region Geflüchteten waren es 500.000. Viele wollen in der Stadt bleiben; ihre Freunde kämpfen an der Front.

Kämpft die »Peschmerga«, jene mit deutschen Waffen belieferte Truppe, vor Kobani gegen den IS?

Nein, sie hatte zwar bekundet, den Kampf unterstützen zu wollen; es sind aber nur leere Worte. Waffen haben sie auch nicht geschickt. Die kurdische Bevölkerung verteidigt sich mit vergleichsweise einfachen Waffen selber gegen den IS, der auf Hügeln vor dem Stadtzentrum mit schweren, vom irakischen und syrischen Militär erbeuteten Waffen und Panzern steht – teils von westlichen Staaten geliefert. Der IS vertritt eine faschistische Ideologie. Sollte Kobani in seine Hände fallen, sind Massaker absehbar. Was Anfang August in Sengal im Nordirak passiert ist, haben wir noch in Erinnerung. Obgleich die Kurden weiterhin prinzipiell gegen Waffenexporte sind, fordern sie nun die USA auf, Luftschläge auf Stellungen des IS zu verstärken.

Medien schreiben, der türkische Premier Ahmet Davutoglu habe den Kurden Hilfe zugesichert; dies sehen aber linke, demokratische Kurden ganz anders.

Allerdings. Das türkische Parlament hat dem Militär das Mandat erteilt, im Notfall einzumarschieren; was nicht heißt, dass sie es tun. Bislang unterstützt das türkische Militär den IS, wie der Fernsehsender IMC TV zeigte: IS-Kämpfer passierten im Beisein türkischer Soldaten die türkisch-syrische Grenze. Berichtet wird auch von mit dem Zug an die Grenze geliefertem militärischen Rüstzeug. Die Türkei behauptet also, Krieg gegen IS zu führen, bekämpft aber Kurden in Rojava. Wir gehen davon aus: Die Türkei wartet, bis Kobani an den IS fällt, um dann selber einzumarschieren. Sollte die Türkei versuchen, diese Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen, werden die Kurden Widerstand leisten.

Welches sind vorrangige Ziele der Volksverteidigungskräfte?

Kurzfristig geht es den Kurden darum, die Angriffe des IS zu stoppen; langfristig, die selbstverwalteten Kantone in Rojava als Teil Syriens international anerkennen zu lassen. Sie begreifen sich als Teil einer demokratischen Opposition in Syrien. Von linken Kreisen in Deutschland erwarten sie Verständnis, dass sie Luftanschläge von den USA fordern. Freilich würden sie sich nicht imperialistischen Kräften ergeben; aber nur so sei Schutz der Bevölkerung noch zu gewährleisten. Von der deutschen Bundesregierung erwarten wir mehr humanitäre Hilfe und die Aufhebung des PKK-Verbots: Die PKK hat die Bevölkerung im Nordirak geschützt, aber ihre Aktivisten werden weiter kriminalisiert. Deutschland und andere Staaten müssen aufhören, Kriege zu schüren und beide Konfliktparteien mit Waffen zu bedienen.

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, Montag, 6. Oktober 2014


Zurück zur Syrien-Seite

Zur Syrien-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage