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Plünderer im religiösen Gewand

"Islamischer Staat" greift mit im Irak erbeuteten Waffen verstärkt Ortschaften in Syrien an

Von Karin Leukefeld *

Die in der Türkei ansässige oppositionelle Syrische Nationalkoalition (Etilaf) fordert die USA auf, Luftangriffe auf Stellungen der Miliz »Islamischer Staat« im Osten Syriens durchzuführen. Bei einer Pressekonferenz in Istanbul sagte der Vorsitzende der Koalition, Hadi Al-Bahra, am vergangenen Samstag, die Welt messe bei den Verbrechen des »Islamischen Staates« mit zweierlei Maß. Ihm lägen »Berichte und Videoaufnahmen vor, die tagtägliche Verbrechen von IS gegen die Menschlichkeit in Deir Ezzor belegen«, so Al-Bahra. »Das Schweigen der internationalen Gemeinschaft ist unglaublich.«

Al-Bahra bezog sich auf Informationen der »Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte« in London, wonach IS-Kämpfer in den vergangenen zwei Wochen Hunderte Menschen in den Dörfern Ghranij, Abu Hamam und Kashkiyeh in der Provinz Deir Ezzor im Osten Syriens getötet haben sollen. Die Orte liegen direkt am Euphrat. Den kaum prüfbaren Berichten der oppositionsnahen Beobachtungsstelle zufolge sollen dort 700 Angehörige des Stammes der Al-Schuaytat ermordet worden seinen, die dem »Islamischen Staat« die Gefolgschaft verweigert hätten. Über den Verbleib von 1800 weiteren Angehörigen der Al-Schuaytat in Syrien gebe es zudem keine Informationen. Der Führer des Stammes habe dem Bericht zufolge zuvor die IS-Kämpfer aufgefordert, die Gruppe zu verlassen, Buße zu tun und sich wieder der »Religion der Gnade« zuwenden. Auch in der nordöstlich von Deir Ezzor gelegenen irakischen Region Sindschar sollen IS-Kämpfer am Wochenende mindestens 80 Menschen in dem Dorf Kawja getötet haben, weil sie nicht bereit waren, ihren jesidischen Glauben abzulegen und zum »Islamischen Staat« zu konvertieren.

Wie der Journalist und Nahostexperte Michael Lüders am Sonntag der Deutschen Welle sagte, habe der Al-Schuaytat-Stamm sich offenbar geweigert, die von IS verordnete Verteilung der Ölressourcen zu akzeptieren. Die Führung des »Islamischen Staat« ist dazu übergegangen, dort, wo sie die Bevölkerung vertrieben oder zur Gefolgschaft gezwungen hat, die Ressourcen auszuplündern, um sich so zu finanzieren. In den Erdölgebieten Ostsyriens kauft IS sich die Gefolgschaft dort lebender Stämme, indem sie ihnen – je nach Größe und Einfluß – unterschiedliche Mengen Öl überläßt, die die Stämme auf eigene Rechnung verkaufen können.

Arabische Medien berichten derweil über neue Kämpfe zwischen IS-Milizen und anderen bewaffneten Kampfverbänden nördlich von Aleppo im Norden Syriens. Ziel ist offenbar, das Grenzgebiet zur Türkei unter Kontrolle zu bringen und den strategisch wichtigen Ort Azaz einzunehmen. Von dort war IS Anfang des Jahres vertrieben worden. Für die Übernahme des Nordens von Aleppo ist die Gruppe mit im Irak erbeuteten Waffen bestens ausgerüstet. Ort für Ort sei mittlerweile von IS eingenommen worden, berichtet die libanesischen Tageszeitung As Safir, die Reporter in Syrien hat. So hätten die Kämpfer auch Dabik besetzt, wo der religiösen Mythologie zufolge die »Endzeitschlacht zwischen Gut und Böse« stattfinden soll. Bei ihren Attacken gehen die IS-Kämpfer extrem brutal gegen diejenigen vor, die sich ihnen in den Weg stellen oder ihren Anordnungen nicht Folge leisten.

Die syrischen Streitkräfte haben derweil am Wochenende die strategisch wichtige Stadt Mleiha im Süden der Hauptstadt Damaskus eingenommen. Von hier wurden fast täglich Mörsergranaten auf Damaskus abgeschossen, denen zumeist Zivilisten zum Opfer gefallen waren. Mit der Einnahme von Mleiha dürfte für die Kampfverbände in der östlichen Ghuta eine weitere wichtige Versorgungslinie abgeschnitten sein. Am Sonntag konnten die Anwohner von Mleiha eine erste Schadensaufnahme machen. Bilder zeigten in dem Ort eine Trümmerlandschaft.

Unterdessen erklärte die UN-Organisation zum Verbot von Chemiewaffen am Sonntag, daß der gesamte Bestand syrischen Sarin-Gases vernichtet worden ist. Die 580 Tonnen, die aus Syrien abtransportiert worden waren, wurden auf dem US-amerikanischen Schiff MV Cape Ray im Mittelmeer in einem speziellen Verfahren zerstört. Als nächstes sollen 22 Tonnen Senfgas vernichtet werden.

* Aus: junge Welt, Montag 18. August 2014


Massenmorde und das syrische Öl

IS-Terroristen brachten offenbar Hunderte Menschen im Osten des Landes um

Von Karin Leukefeld **


Die Miliz der Dschihadisten zieht ihre blutige Spur auch durch Syrien. Schon wird der Ruf nach US-Luftangriffen laut.

Kämpfer der Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) sollen im Osten Syriens Hunderte Menschen getötet haben. Das berichtete am Wochenende die Nachrichtenagentur AFP unter Berufung auf die in London ansässige »Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte«. Der Leiter der Beobachtungsstelle, Rami Abdul-Rahman, verfügt eigenen Angaben zufolge über ein weites Netzwerk von Informanten im Land und bestimmt mit deren Mitteilungen vielfach das Bild in den westlichen Medien über das Geschehen in Syrien. Das Büro wird teilweise von der Europäischen Union finanziell unterstützt.

Nun berichtete die Beobachtungsstelle von einem Massaker, bei dem mehr als 700 Angehörige des Al-Schuaytat-Stammes in der Provinz Deir Ezzor ermordet worden sein sollen, weil sie sich den IS-Kämpfern nicht untergeordnet hätten. Die Hinrichtungen dauerten schon seit zwei Wochen an, mehr als 1800 weitere Männer des Stammes seien vermutlich verschleppt worden. Nach Angaben der Beobachtungsstelle seien unter den Toten nur 100 Kämpfer des Al-Schuaytat-Stammes, alle anderen Toten seien Zivilisten. Bereits Anfang August hatte es Berichte über Kämpfe zwischen IS und Bewohnern der Dörfer Ghranij, Abu Hamam und Kashkiyeh gegeben. Die Orte liegen am Euphrat und zählen zum Siedlungsgebiet der Al-Schuaytat.

Im Internet werden die Meldungen über die Massenhinrichtungen durch Bilder und Videoaufnahmen untermauert, deren Herkunft allerdings unklar ist. In den Videos sind Männer zu sehen, die offensichtlich in großer Angst sind und von Uniformierten zusammengetrieben und abgeführt werden. Auf einer Szene ist ein Kämpfer zu sehen, der einem Opfer die Kehle durchschneidet. Andere lachen und ahmen Ziegen nach, während der Mann abgeschlachtet wird. In der arabisch-muslimischen Kultur werden Ziegen als Opfergabe geschlachtet, um etwas zu feiern oder eine Vereinbarung zu bekräftigen. Andere Bilder im Internet zeigen Köpfe, die auf einen Zaun gespießt sind oder an Haken aufgehängt an einem Seil gezogen werden.

Hintergrund der Kämpfe zwischen IS und den Al-Schuaytat ist nach Angaben der Beobachtungsstelle, dass der Führer des Stammes zuvor die IS-Kämpfer aufgefordert hatte, die Gruppe zu verlassen, Buße zu tun und sich wieder der »Religion der Gnade« zuzuwenden. Nahostexperte Michael Lüders vermutet einen Streit zwischen IS und dem Stamm um Öl, das in diesem Gebiet Syriens zu finden ist.

Um sich Gefolgschaft unter den ostsyrischen Stämmen zu sichern, hat IS den Stämmen erlaubt, eine bestimmte Menge von dem Öl zu behalten, das dort gestohlen wird. Der Handel mit dem gestohlenen syrischen Öl wurde zunächst von der Nusra-Front organisiert, berichtete Anfang Juli die libanesische Tageszeitung »As Safir«. Inzwischen wird der illegale Ölhandel von dem militärischen Anführer der IS in Syrien, Omar al-Shishani, kontrolliert. Seine Aufgabe ist es, strategische Ressourcen für den Aufbau des »Kalifats« zu sichern. 50 000 Barrel Öl bringen durch Mittelsmänner in der Türkei ein Million US-Dollar. Nach offiziellen Angaben des syrischen Ölministeriums wurden vor 2011 auf den von IS besetzten Ölanlagen pro Tag 380 000 Barrel Öl gefördert.

Verschiedenen Berichten zufolge will IS nun offenbar wieder die Kontrolle über den nördlichen Teil der Provinz Aleppo zurückerobern. Ziel des Vorstoßes, für den IS die in Mossul erbeuteten US-amerikanischen Waffen nutzt, ist offenbar die Stadt Azaz, die derzeit von der »Islamischen Front« kontrolliert wird. Azaz ist als Nachschubweg in die Türkei von hoher Bedeutung für die Kampfgruppen in Syrien. Anfang des Jahres war IS von der Nusra-Front und der »Islamischen Front« vertrieben worden. Während die Nusra-Front der Al Qaida zugerechnet wird, stuft der Westen die »Islamische Front« als »moderat« ein. US-Senator John McCain setzt sich seit Langem für eine Bewaffnung der »Islamischen Front« ein, der auch die Kurdische Islamische Front aus Nordirak angehört. Gegner der Bewaffnung verweisen darauf, dass die Waffen schnell in die falschen Hände geraten könnten.

Die in der Türkei ansässige oppositionelle Syrische Nationalkoalition forderte am Wochenende die USA auf, Luftangriffe auf Stellungen des IS nicht nur in Irak, sondern auch in Syrien durchzuführen.

** Aus: neues deutschland, Montag 18. August 2014


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